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1. Italien und Griechenland

Die Geographie von Freud Reisen kann auf unterschiedliche Art und Weise behandelt werden. So könnte man chronologisch vorgehen und die Reisen in ihrer tatsächlichen Abfolge nacheinander behandeln. Da dabei aber Wiederholungen unvermeidbar wären, habe ich mich entschlossen, nach geographischen Bereichen vorzugehen und Reisen in eine bestimmte Region zusammenzufassen. Über die zeitliche Einordnung dieses oder jenes Erlebnisses kann der Leser sich dann leicht anhand des Verzeichnisses der Reisen Freud am Ende des Buches orientieren.

Italien hatte für Freud eine ganz besondere Bedeutung. Die Gründe dafür sind sehr vielschichtig (vgl. dazu auch Teil 1). So wohnte für ihn die Schönheit in Italien (Freud 1987, S. 13) und die "Sehnsucht, nach Rom zu kommen (Freud 1900, S. 205) spielte eine wichtige Rolle in der ersten Hälfte von Freud Leben. Doch besonders wichtig war für Freud Italien als Land der klassischen Antike mit seinen Tempeln und archäologischen Objekten; Museen und Landschaften. Pompeji, Paestum und Sizilien (Selinunte, Segesta, Agrigent) waren für Freud neben Rom die Highlights seiner Italienreisen.
Schon 1897, fünf Jahre vor seiner ersten Reise, die ihn über Rom hinaus führte, schreibt er an Fließ, daß er in freien Stunden "die Straßen von Pompeji studiert" (Freud 1986, S. 250) und seine Sammel-
 
 

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tätigkeit war für ihn Ersatz für das "ersehnte Italien" (ebenda, S. 484). Der Besuch von Paestum auf der großen Italienfahrt im Jahre 1902 war für Freud der "Höhepunkt der Reise" (ebenda, S. 504). Kein anderes Land hat auf Freud eine solche Faszination ausgeübt und ihn zu so vielen Arbeiten und Ideen angeregt wie Italien mit seiner reichen Kulturgeschichte, das Freud durch fast zwanzig Reisen so gut kannte wie kein anderes.

Von besonderer Bedeutung für Freud Verhältnis zu Italien ist neben (Goethe auch Jacob Burckhardt gewesen. Freud besaß neben anderen Werken Burckhardts auch die 6. Auflage von dessen "Cicerone" (Burckhardt 1893). Diese "Anleitung zum Genuß" der Kunstwerke Italiens " (so der Untertitel) behandelt alles, was es in Italien zu sehen gibt und zwar derartig lebendig und anregend, daß sein von Burckhardt beabsichtigter Zweck, als "Reisebegleiter" zu dienen mehr als erfüllt wurde. Der "Cicerone" hat Freud sicher auch angeregt, bestimmte Museen, Kirchen und Orte zu besuchen, die er sonst vielleicht hätte abseits liegen lassen. Burckhardts Interpretation des Moses von Michelangelo in San Pietro in Vincoli zitiert Freud dann später, schließt sich allerdings nicht dessen Meinung an (vgl. Freud 1914a, S. 20ff.). Viel wichtiger als Einzelheiten ist aber das Pathos Burckhardts. In einem Fragment über "Rom und seine welthistorische Bedeutung" schreibt er: "Unser Geist aber, so unabhängig von allem Gewesenen er sich in Naturwissenschaft und Technik gebärden möge, findet seine höhere Weihe immer wieder in dem Bewußtsein seines Zusammenhanges mit dem Geist der entferntesten Zeiten und Zivilisationen. Ja er lernt sich selber nur kennen und seine hohe Natur schätzen durch die Vergleichung mit dem, was er, der er #/+ewig gleiche#/-, in allen Zeiten gewesen ist." (Burckhardt 1985, S. 269f.)
 
 

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sche Ansatz Burckhardts dürfte bei Freud auf fruchtbaren Boden gefallen sein; er ist zwar im "Cicerone nicht explizit so formuliert worden, doch strahlt die Deutung eines jeden Kunstwerks diese Überzeugung aus.17

Unter Freuds Reisezielen in Italien stand Rom eindeutig an erster Stelle. Siebenmal besuchte er die "Ewige Stadt : 1901, 1902, 1907, 1910, 1912, 1913 und 1923. Insgesamt verbrachte er 57 Tage dort, wobei der Aufenthalt im Jahre 1913 mit Minna der längste war.18 Über seinen ersten Romaufenthalt schrieb Freud an Fließ: "Es war ... für mich überwältigend und die Erfüllung eines ... lang gehegten Wunsches ... Ich war übrigens bescheiden im Genuß, habe in den zwölf Tagen nicht alles sehen wollen. Ich habe nicht nur Trevi bestochen, wie alle tun, sondern auch, was ich mir selbst erfunden, die Hand in die Bocca della verita bei S. Maria Cosmedin gesteckt, mit dem Schwur, daß ich wiederkomme." (Freud 1986, S. 494). Freud hat seinen Schwur gehalten und bei seinen folgenden sechs Rombesuchen wohl fast alles gesehen, was es in Rom zu sehen gibt. Bei seinem ersten Romaufenthalt 1901 hatte er die Peterskirche, die Vatikanischen Museen, den Palatin, das Pantheon und die Kirche San Pietro in Vincoli mit der Moses-Statue des Michelangelo besucht. Sein zweiter Rombesuch
dauerte nur einen Tag, aber vom dritten berichtet Freud wieder ausführlich an seine Familie: "Heute war es wieder herrlich; Villa Borghese ist ein großer Park mit Schloß und Museum, der noch vor kurzem einem der römischen Fürsten gehört hat, jetzt aber Eigentum der Stadt und allgemein zugänglich ist, denn der gute Fürst hat sich verspekuliert und mußte alles für drei Millionen Lire verkaufen. Spottbillig nebenbei; im Museum befindet sich so ziemlich der schönste Tizian, genannt "Himmlische und Irdische Liebe", für den die Amerikaner allein soviel gegeben hät-
 
 

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ten. Das Bild kennt Ihr gewiß, die Bezeichnung hat keinen Sinn, was das Bild bedeutet, weiß man nicht; genug, daß es sehr schön ist.
Schöner als dieser Park braucht keiner zu sein, nur müßt Ihr Euch anstatt der saftigen Wiesen dürren Boden vorstellen, wenigstens jetzt ist er so. Die Bäume sind von der vornehmsten Art, Pinien, Zypressen, Palmen, allerlei unbekanntes Zeug, dazwischen große Spielplätze, von unzähligen Kindern gefüllt, steinerne Tische und Bänke, auf denen kleine Leute ihre Mahlzeiten verzehren, ein See mit einer Insel, auf welcher ein Äskulaptempel steht, allerlei andere künstliche Ruinen und Tempelnachbildungen, also ein Schönbrunn, das sich herabläßt, ein Prater zu sein. Zu Schönbrunn paßt auch, daß hie und da fremde Tiere hier ihre Wohnungen haben, Gazellen, Fasane, auch einen Affen habe ich bemerkt, dem die Gassenbuben das Leben sauer machen. Pfauen gehen frei herum und führen ihre Küchlein, die noch sehr unscheinbar sind, spazieren. Es ist natürlich allerlei im Garten verboten, aber nicht mehr als notwendig ist, und ich glaube bemerkt zu haben, daß sich's jeder behaglich macht und keiner sich an Verbote hält. In dem Teil, der der Privatgarten des Fürsten war, steht auch hier und da ein echtes Stück Altertum, ein schöner Sarkophag, eine Säule, eine gebrochene Statue. So vergißt man nicht, daß man in Rom ist.

In einer Allee sieht man eine Statue von Victor Hugo (Abb. 9: Denkmal Victor Hugos in der Villa Borghese in Rom), die von den Franzosen im Dienste der Verbrüderung der Nationen geschenkt worden ist. Er sieht aus wie Verdi ...
 
 
 

Diese Statue hat den guten Kaiser Wilhelm nicht ruhen lassen, und so hat er aus Konkurrenzneid die Statue von Goethe durch Eberlein machen und in demselben Garten aufstellen lassen (Abb. 10: Denkmal Johann Wolfgang von Goethes in der Villa Borghese in Rom). Sie ist ganz geschickt und nichts Hervorragendes. Goethe ist zu jugendlich; er war ja
 
 

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über Vierzig, als er zuerst nach Rom kam, steht auf einem Säulenschaft, vielmehr einem Kapitell, und das Postament ist von drei Gruppen umgeben: Mignon mit dem Harfner, der vielleicht das Beste ist, Mignon selbst hat ein leeres Gesicht, Faust in einem Buch lesend, dem Mephisto über die Achsel schaut, Faust wieder gut, der Teufel ganz fratzenhaft, ein Judengesicht mit Hahnenkamm und Hörnern, und eine dritte Gruppe, die ich nicht verstehe, vielleicht Iphigenie und Orest, aber dann sehr unkenntlich.

Im Museum selbst sind nicht nur Antiken, sondern auch moderne Skulpturen, die Fürstin Pauline Borghese, bekanntlich eine Schwester von Napoleon, als Venus von Ganova, berühmte Gruppen von Bernini und anderes. Die Antiken sind alle ergänzt, was die Beurteilung sehr erschwert. Neuere Funde werden jetzt schonender behandelt, ich freue mich darum auf das Museum in den Diocletianthermen, das ich morgen besuchen will." (Freud 1960, S. 258f.) Im Zusammenhang mit der Bemerkung Freuds über die ergänzten Antiken, weisen Weiß/Weiß darauf hin, daß Suzanne Cassirer Bernfelds Behauptung, Freud habe sich stets bemüht, unbeschädigte Stücke für seine Sammlung zu finden (Bernfeld 1951), zumindest seltsam anmutet: "Als ein mit den neuesten Forschungsergebnissen vertrauter Antikenkenner mußte auch der Kunstsammler Freud der herkömmlichen Antikenrezeption kritisch gegenüberstehen, mit der man Antiken nur als Genremotive zur Ausgestaltung verschiedener Interieurs, Museen wie Privathäuser, benutzte, dabei guterhaltenen Objekten den Vorrang gab oder bei weniger glücklichen Erhaltungszuständen zu tiefgreifenden, oft entstellenden Ergänzungen, Um- oder Abarbeitungen schritt, immer mit
dem Ziel, eine verlorene Ganzheit wiederherzustellen." (Weiß/Weiß 1984, S. 193f.).
 
 

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Der vierte Rombesuch im Jahre 1910 war wiederum nur kurz: zwei Tage auf der Durchreise nach Sizilien. Sie reichten gerade, um Ferenczi die wichtigsten Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Allerdings verbrachten Freud und Ferenczi im September 1912 nochmal ein paar gemeinsame Tage in Rom. Ferenczi fuhr dann allein nach Neapel und Freud schrieb: "Ich genieße eine köstliche, etwas melancholische Einsamkeit, gehe in dem herrlichen Wetter spazieren, auf dem Palatin unter den Ruinen, in der Villa Borghese, einem riesigen Park, aber ganz römisch und besuche täglich den Moses in S. Pietro in Vincoli (Abb. 11: San Pietro in Vincoli in Rom ), über den ich vielleicht einige Worte schreiben werde." (Freud 1960, S. 292). Tatsächlich erschien dann im Band 3 der Zeitschrift "Imago" im Jahre 1914 Freuds Studie Der Moses des Michelangelo" . Rückblickend erinnert sich Freud darin:

"Wie oft bin ich die steile Treppe vom unschönen Corso Cavour hinaufgestiegen zu dem einsamen Platz, auf dem die verlassene Kirche steht, habe immer versucht, dem zürnenden Blick des Heros standzuhalten, und manchmal habe ich mich dann behutsam aus dem Halbdunkel des Innenraums geschlichen, als gehörte ich selbst zu dem Gesindel, auf das sein Auge gerichtet ist, das keine Überzeugung festhalten kann, das nicht warten und nicht vertrauen will und jubelt, wenn es die Illusion des Götzenbildes wieder bekommen hat." (Freud 1914a, S. 199).

Neben San Pietro in Vincoli war Freud besonders häufig auf dem Palatin (seinem Lieblingsort in Rom), im Forum Romanum, in der Villa Borghese, auf dem Gianicolo-Hügel, von wo aus man einen wunderschönen Blick auf Rom und den Vatikan hat, und natürlich in den Vatikanischen Museen und dem Nationalmuseum in den Diocletianthermen.
 
 

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Doch neben allen Attraktionen, die Rom als Kunststadt bot, war es das "erste, das antike Rom, das auf Freud die größte Anziehungskraft ausübte, nicht zuletzt wegen der Beziehungen, die Freud zwischen dieser Stadt und seiner psychoanalytischen Arbeit sah: "Historiker belehren uns, das älteste Rom war die Roma Quadrata, eine umzäunte Ansiedlung auf dem Palatin. Dann folgte die Phase des Septimontium, eine Vereinigung der Niederlassungen auf den einzelnen Hügeln, darauf die Stadt, die durch die Servianische Mauer begrenzt wurde, und noch später, nach all den Umwandlungen der republikanischen und der früheren Kaiserzeit die Stadt, die Kaiser Aurelianus durch seine Mauern umschloß. Wir wollen die Wandlungen der Stadt nicht weiter verfolgen und uns fragen, was ein Besucher, den wir mit den vollkommensten historischen und topographischen Kenntnissen ausgestattet denken, im heutigen Rom von diesen frühen Stadien noch vorfinden mag. Die Aurelianische Mauer wird er bis auf wenige Durchbrüche fast unverändert sehen. An einzelnen Stellen kann er Strecken des Servianischen Walles durch Ausgrabungen zutage gefördert finden. Wenn er genug weiß mehr als die heutige Archäologie -, kann er vielleicht den ganzen Verlauf dieser Mauer und den Umriß der Roma Quadrata ins Stadtbild einzeichnen. Von den Gebäuden, die einst diesen alten Rahmen ausgefüllt haben, findet er nichts oder geringe Reste, denn sie bestehen nicht mehr. Das Äußerste, was ihm die beste Kenntnis des Roms der Republik leisten kann, wäre, daß er die Stellen anzugeben weiß, wo die Tempel und öffentlichen Gebäude dieser Zeit gestanden hatten. Was jetzt diese Stellung einnimmt, sind Ruinen, aber nicht ihrer selbst, sondern ihrer Erneuerungen aus späteren Zeiten nach Bränden und Zerstörungen. Es bedarf kaum noch einer besonderen Erwähnung, daß alle
 
 

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diese Überreste des alten Roms als Einsprengungen in das Gewirr einer Großstadt aus den letzten Jahrhunderten seit der Renaissance erscheinen. Manches Alte ist gewiß noch im Boden der Stadt oder unter ihren modernen Bauwerken begraben. Dies ist die Art der Erhaltung des Vergangenen, die uns an historischen Stätten wie Rom entgegentritt." (Freud 1930a, S. 201f.). Die Analogie zur "seelischen Vergangenheit" ist offensichtlich: Die antiken Ruinen symbolisieren ihm die "Gedächtnisspuren" die angeblich Vergessenes doch hinterläßt.

Ähnliche Bedeutung wie Rom hatten für Freud auch die anderen berühmten Stätten der klassischen Antike in Italien: Pompeji, Paestum und die griechischen Anlagen in Sizilien. In Pompeji war Freud zwar nur einmal (1902), doch seine Beschäftigung mit dieser Stadt war ebenso intensiv wie die mit Rom. Das "bezaubernde Erlebnis" des Besuchs in Pompeji (Jones 1984, Bd. 2, S. 38) wurde wiederbelebt durch die Lektüre von W. Jensens Novelle "Gradiva. Ein pompejanisches Phantasiestück" (Jensen 1903). Freud war im Sommer 1906 von G. G. Jung auf sie aufmerksam gemacht worden und wies durch ihre Analyse nach, "daß erdichtete Träume dieselben Deutungen zulassen wie reale, daß also in der Produktion des Dichters die uns aus der Traumarbeit bekannten Mechanismen des Unbewußten wirksam sind." (Freud 1925a, S. 92) Interessant ist nun, daß die Hauptperson von Jensens Novelle, der Archäologe Norbert Hanold, ähnlich wie Freud von einem Drang, nach Italien, speziell nach Pompeji zu kommen, besessen ist. Er träumt von Pompeji, reist später auch dorthin, um nach den Spuren von Gradiva zu suchen, einem Mädchen, in dessen Relief er sich im Vatikanischen Museum in Rom verliebt hatte. Neben den theoretischen Anregungen, die Freud durch die Lektüre von Jen-
 
 

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sens Novelle erhielt, wurde er auch von der Gestalt des jungen Archäologen angezogen und identifizierte sich wohl auch in gewissem Grade mit ihm. Im September 1907 schrieb er an Martha: "Denke Dir nur meine Freude, als ich ... heute im Vatikan ein bekanntes liebes Gesicht sah; das Erkennen war aber einseitig, denn es war die Gradiva, hoch oben an einer Wand." (Freud 1960, S. 266). Fünf Jahre später erläutert Freud in einem Nachtrag zur zweiten Auflage von "Der Wahn und die Träume in W. Jensens 'Gradiva'": "Das von Jensen für römisch ausgegebene Relief des so schreitenden Mädchens, das er 'Gradiva' benennen läßt, gehört in Wirklichkeit der Blüte der griechischen Kunst an. Es findet sich im Vatikan Museo Chiarmonti ..." (Freud 1912, S. 85). Freud war wohl gleich Hanold in dieses Relief verliebt und hängte sich eine Kopie über die Analysecouch. Während seines Besuchs in Pompeji, fünf Jahre bevor er das Gradiva-Relief im Vatikan entdeckte, wird Freud gespürt haben, was er später so ausdrückte: "Es gibt wirklich keine bessere Analogie für die Verdrängung, die etwas Seelisches zugleich unzugänglich macht und konserviert, als die Verschüttung, wie sie Pompeji zum Schicksal geworden ist und aus der die Stadt durch die Arbeit des Spatens wieder erstehen konnte." (Freud 1907, S. 39f.) Im gleichen Jahre wie Pompeji besuchte Freud zum ersten und einzigen Male Paestum. Es war seine erste Begegnung mit einer Stätte antiker griechischer Baukunst. Am 10. September 1902 schickte Freud eine Ansichtskarte vom Tempio di Nettuno (auch Poseidontempel oder Heratempel; (Abb. 12: Heratempel in Paestum ) an Wilhelm Fließ mit dem Satz: "Einen herzlichen Gruß vom Höhepunkt der Reise." (Freud 1986, S. 594).  Zwei Jahre später sollte Freud dann auch griechischen Boden betreten. Die Umstände und besonderen Erlebnisse der Reise nach Athen im
 
 

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Spätsommer 1904 schildert Freud in einem Brief an Romain Rolland: "Ich pflegte damals alljährlich Ende August oder Anfang September mit meinem jüngeren Bruder eine Ferienreise anzutreten, die mehrere Wochen dauerte und uns nach Rom, irgendeiner Gegend des Landes Italien oder an eine Küste des Mittelmeeres führte ... In diesem Jahr erklärte mein Bruder, seine Geschäfte erlaubten ihm keine längere Abwesenheit, er könnte höchstens eine Woche ausbleiben, wir müßten unsere Reise abkürzen. So beschlossen wir, über Triest nach der Insel Korfu zu fahren und unsere wenigen Urlaubstage dort zu verbringen. In Triest besuchte er einen dort ansässigen Geschäftsfreund, ich begleitete ihn. Der freundliche Mann erkundigte sich auch nach unseren weiteren Absichten, und als er hörte, daß wir nach Korfu wollten, riet er uns dringend ab. "Was wollen Sie um diese Zeit dort machen? Es ist so heiß, daß Sie nichts unternehmen können. Gehen Sie doch lieber nach Athen. Der Lloyddampfer (Abb. 13: Plakat des österreichischen Lloyd ) geht heute nachmittags ab, läßt ihnen drei Tage Zeit, um die Stadt zu sehen, und holt Sie auf seiner Rückfahrt ab. Das wird lohnender und angenehmer sein."

Als wir den Triestiner verlassen hatten, waren wir beide in merkwürdig übler Stimmung. Wir diskutierten den uns vorgeschlagenen Plan, fanden ihn durchaus unzweckmäßig und sahen nur Hindernisse gegen seine Ausführung, nahmen auch an, daß wir ohne Reisepässe in Griechenland nicht eingelassen würden. Die Stunden bis zur Eröffnung des Lloydbüros wanderten wir mißvergnügt und unentschlossen in der Stadt herum. Aber als die Zeit gekommen war, gingen wir an den Schalter und lösten Schiffskarten nach Athen, wie selbstverständlich, ohne uns um die vorgeblichen Schwierigkeiten zu kümmern, ja ohne daß wir die Gründe für unsere Entscheidung gegeneinander ausge-

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sprochen hätten. Dies Benehmen war doch sehr sonderbar. Wir anerkannten später, daß wir den Vorschlag, nach Athen anstatt nach Korfu zu gehen, sofort und bereitwilligst angenommen hatten. Warum hatten wir uns also die Zwischenzeit bis zur Öffnung der Schalter durch üble Laune verstört und uns nur Abhaltungen und Schwierigkeiten vorgespielt? Als ich dann am Nachmittag nach der Ankunft auf der Akropolis stand und mein Blick die Landschaft umfaßte, kam mir plötzlich der merkwürdige Gedanke: Also existiert das alles wirklich so, wie wir es auf der Schule gelernt haben?!" (Freud 1936, S. 285f.). Freud erörtert dann die Ursachen für die Unlust in Triest und den Zweifel an der Existenz der Akropolis und zieht folgende Schlußfolgerung: "Es muß so sein, daß sich an die Befriedigung, es so weit gebracht zu haben, ein Schuldgefühl knüpft; es ist etwas dabei, was unrecht, was von alters her verboten ist. Das hat mit der kindlichen Kritik am Vater zu tun, mit der Geringschätzung, welche die frühkindliche Überschätzung seiner Person abgelöst hatte. Es sieht aus, als wäre es das Wesentliche am Erfolg, es weiter zu bringen als der Vater, und als wäre es noch immer unerlaubt, den Vater übertreffen zu wollen.

Zu dieser allgemein gültigen Motivierung kommt für unseren Fall das besondere Moment hinzu, daß in dem Thema Athen und Akropolis an und für sich ein Hinweis auf die Überlegenheit der Söhne enthalten ist. Unser Vater war Kaufmann gewesen, er besaß keine Gymnasialbildung, Athen konnte ihm nicht viel bedeuten. Was uns im Genuß der Reise nach Athen störte, war also eine Regung der Pietät." (ebenda, S. 292f.)

Doch ganz so schlimm scheint die Beeinträchtigung von Freuds Genußfähigkeit nicht gewesen zu sein. Er hat später Marie Bonaparte gestanden, "die bernsteinfarbenen
 
 

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Säulen der Akropolis seien das Schönste, was er je im Leben gesehen habe." (vgl. Jones 1984, Bd. 2, S. 39). Von Athen aus fuhren Freud und Alexander mit dem Zug nach Korinth, dann weiter nach Patras und von dort mit dem Dampfer zurück nach Triest. Korinth dürfte bei Freud Gefühle besonderer Art hervorgerufen haben, war es doch die Stadt, in der Ödipus der Sage nach seine Jugend verbracht hatte. Von dort ist er ausgezogen, das Rätsel seiner Herkunft zu lösen und gleichzeitig den Orakelspruch zu erfüllen: Er tötete seinen Vater und heiratete seine Mutter. Freud nahm diesen Mythos als Symbol für die Eltern-Kind-Konstellation und beschrieb den "Ödipuskomplex" . Doch für Freud hatte der Ödipusmythos noch einen anderen Aspekt. Ihm war nicht entgangen, daß die Erlangung der Herrschaft über Theben durch Ödipus dank seiner erfolgreichen Lösung des Rätsels der Sphinx die in eine mythologische Handlung gefaßte Formel ist: Wissen ist Macht (vgl. Nikolova 1988). Daß diese Formel für Freud Zeit seines Lebens von enormer Bedeutung und immenser Triebkraft für seine wissenschaftliche Entwicklung war, zeigt folgende Episode: "Im Jahre 1906 schenkte ihm eine kleine Gruppe seiner Anhänger in Wien zu seinem fünfzigsten Geburtstag eine Medaille .., die auf der Vorderseite Freuds Profil ... und auf der Rückseite eine griechische Zeichnung des Ödipus vor der Sphinx zeigt. Diese Zeichnung ist umrahmt von einem Vers aus 'König Ödipus' von Sophokles: 'Der das berühmte Rätsel löste und ein gar mächtiger Mann war!' ... Bei der Überreichung der Medaille ereignete sich ein merkwürdiger Zwischenfall. Als Freud die Inschrift las, wurde er blaß, unruhig und fragte mit erstickter Stimme, wer diese Idee gehabt habe ... Nachdem Federn gesagt hatte, er sei es gewesen, enthüllte er den Grund seines Verhaltens: Als junger Student sei er
 
 

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einmal um die großen Arkaden der Wiener Universität herumgegangen und habe die Büsten früherer berühmter Professoren betrachtet. Damals habe er sich in der Phantasie ausgemalt, daß dort seine künftige Büste stände, was an sich für einen ehrgeizigen Studenten noch nichts Besonderes wäre aber auch, daß darunter eben gerade diese Worte graviert seien, die er nun auf der Medaille vor sich sehe." (Jones 1984, Bd. 2, S. 27f.)

Es scheint mir nicht zu weit hergeholt, Freuds Erinnerungsstörung auf der Akropolis auch mit seinem Wunschtraum, ein mächtiger Mann zu werden, in Zusammenhang zu bringen. Spätestens in Athen, auf klassischem Boden, ist Freud klar geworden, wie sehr er seinem Vater überlegen war: Die großen Taten, die er vollbracht hatte, waren weniger seine Reisen, als vielmehr die Lösung der Rätsel der menschlichen Seele.

Einen besonderen Platz unter Freuds Reisen nimmt der Sizilienaufenthalt im September 1910 ein. Freud fuhr mit Ferenczi am 31. August von Holland aus (wo Familie Freud Urlaub machte) über Paris, Mailand, Florenz und Rom nach Neapel. Am 8. September ging es dann mit  dem Schiff nach Palermo. Über den Aufenthalt dort  schrieb Freud an Martha: "Palermo war eine unerhörte Schwelgerei, die man sich eigentlich allein nicht gönnen darf. Ich verspreche feierlich, bei allen bevorstehenden Schindereien des Jahres daran zu denken, daß ich meinen Teil schon bekommen und verzehrt habe. Soviel an Farbenglanz, Aussichten, Wohlgerüchen und Wohlbefinden habe ich noch nicht beisammen gehabt. Jetzt ist es vorüber, wird zugeschlossen und nur für andere aufgesperrt. Aber für mich kommt vielleicht in Syrakus noch Schöneres." (Freud 1960, S. 280). Doch vor Syrakus kamen erst noch die Tempel in Segesta (Abb. 14: Tempel in Segesta ), Selinunte und Agrigent. Noch
 
 

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unter ihrem Eindruck stehend schrieb Freud nach seiner Rückkehr an Jung: "Die Reise war sehr inhaltsreich und hat mehrere für die innere Ökonomie längst notwendige Wunscherfüllungen gebracht. Sizilien ist das schönste Stück Italien und hat ganz einzige Stücke des untergegangenen Griechentums erhalten ..." (Freud/,Jung 1974, S. 390).

Auf der Rundreise durch die Insel übernachteten Freud und Ferenczi für eine Nacht in der Stadt Castelvetrano. Einige Zeit später konnte Freud sich nicht mehr an diesen Namen erinnern und in einem Zusatz zur "Psychopathologie des Alltagslebens" führt er diese Fehlleistung als ein Beispiel dafür an, "wie ein zur Zeit die Person beherrschender Eigenkomplex ein Namenvergessen an weit abliegender Stelle hervorruft." (Freud 1901, S. 35). Freud erklärte den Mechanismus des Vergessens so: "Offenbar weil die zweite Hälfte  v e t r a n o  an  V e t e r a n anklingt. Ich weiß schon, daß ich nicht gern ans altern denke und in sonderbarer Weise reagiere, wenn ich daran gemahnt werde." (ebenda, S. 36). Freud war zur Zeit der Sizilienreise 54 Jahre alt, hat sich aber bereits als "älterer Herr" (Freud 1960, S. 281) gefühlt. Möglicherweise haben ihn auch die Anstrengungen dieser extrem weiten Reise fühlen lassen, daß er nicht mehr der leistungsfähige junge Mann ist, der ohne große Probleme auf Rax und Dachstein geklettert ist.19

Neben den klassischen Stätten in Italien besuchte Freud natürlich auch die meisten der "traditionellen" Sehenswürdigkeiten. Er war in Venedig, Mailand, Verona, Bologna, Florenz, Genua, Padua, Pisa, Ravenna und erkundete die Umgebungen dieser Städte, durchreiste Umbrien und die Toskana und erfreute sich selbstverständlich auch an den landschaftlichen Reizen der Apenninenhalbinsel.
 
 

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Freuds erstes Reiseziel in Italien war Venedig. Er besuchte es zum ersten Mal im August 1895 mit seinem Bruder Alexander. Sie wohnten in der Casa Kirsch (Abb. 15: Hotel Metropole, ehemalige Casa Kirsch in Venedig)20  mit herrlichem Blick auf die Lagune mit der Insel S. Giorgio Maggiore und ihrer Kirche. Freud schreibt über diesen ersten Venedigbesuch an seine Frau: "Wir sind enorm wohl und haben den ganzen Tag zu gehen, zu fahren, zu schauen, zu essen und zu trinken. Früh immer zum Lido, zwanzig Minuten, um im Meer zu baden, den köstlichsten Sand zu Füßen. Gestern war ein kühler Tag und das Meer bewegt, heute fängt es heiß an. Dann sind wir gestern auf den Turm von San Marco, haben die Stadt vom Rialto aus durchwandert, was die merkwürdigsten Dinge sehen läßt, haben eine Kirche, Frari, und die Scuola San Rocco besichtigt, Tintorettos, Tizians und Canovas zur Ubersättigung genossen, waren viermal im Cafe Quadri (Abb. 16: Café Quadri in Venedig ) auf dem Platz, haben Briefe geschrieben, Unterhandlungen wegen Ankäufen angeknüpft, und die zwei Tage scheinen ein halbes Jahr." (Freud 1960, S. 226).

Den Sand des Lido zu Füßen, wünschte sich Freud, er möchte einen "aufklärenden Schädel finden wie einst Goethe" (Freud 1986, S. 290), der 1790 dank eines von ihm auf dem Lido gefundenen Schafsschädels erkannte, "daß die Gesichtsknochen gleichfalls aus Wirbeln abzuleiten seien" (Goethe 1974, Bd. 12, S. 44). Wir haben hier ein schönes Beispiel für Freuds Identifizierung mit Goethe. Allerdings sind Freud während seiner Aufenthalte in Venedig keine ähnlich bedeutsamen Entdeckungen geglückt. Die zweite Italienreise Freuds im September 1896 und wiederum mit Alexander führte ihn über Bologna, Venedig, Padua, Ravenna und Faenza nach Florenz. Über die 7 Tage in Florenz schreibt Ernest Jones: "Dank seiner Fähigkeit, Eindrücke ungewöhnlich rasch aufzunehmen, muß
 
 

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jene Woche ihm mehr Gewinn gebracht haben als einem anderen ein ganzer Monat. Unter anderem entdeckte er das Galilei-Museum in der Torre del Gallo, außerhalb der Stadt, und überredete den Besitzer, den Grafen Galetti, der im oberen Stock wohnte, ihnen für den Rest ihres Aufenthaltes drei Zimmer zu vermieten. Dort verbrachten sie vier Tage inmitten auserlesener Schätze und mit einer prächtigen Aussicht auf Florenz." (Jones 1984, Bd. 1, S. 388). Bei dem von Jones als "Galilei-Museum" bezeichneten Gebäude handelt es sich um den sogenannten "Il Gioiello" (Abb. 17: Il Gioiello in Florenz (Villa Galileo Galileis), einen von der Familie Masi Ende des 15. Jahrhunderts errichteten Sommersitz. Galileo Galilei hatte diese Villa im Jahre 1631 gemietet und ab Dezember 1633 lebte er dort in Hausarrest bis zu seinem Tode im Januar 1642. Für Freud muß es ein ergreifendes Gefühl gewesen sein, in den Räumen zu wohnen, die einem der größten Geister und Naturwissenschaftler der Menschheit gehört haben und in denen u.a. die berühmten "Discorsi" niedergeschrieben worden sind. Mit seinem "Entwurf einer Psychologie" (Freud 1950) stand Freud ja selbst in der Tradition der Naturwissenschaft der Neuzeit, die ohne Galilei ja nicht gedacht werden kann. Freud hatte seinen "Entwurf" von 1895 also ein Jahr vor der Reise nach Florenz mit den Worten eingeleitet: "Es ist die Absicht dieses Entwurfs, eine naturwissenschaftliche Psychologie zu liefern, d.h psychische Vorgänge darzustellen als quantitativ bestimmte Zustände aufzeigbarer materieller Teile ... (Freud 1950, S. 379). Freuds Einstellung zu diesem "Entwurf" ist zwar später recht ambivalent gewesen, doch seine Absicht, eine naturwissenschaftliche Psychologie zu begründen hat Freud nie aufgegeben. Noch 1925 schreibt er in seiner "Selbstdarstellung": "Ich habe wiederholt die geringschätzige Äußerung gehört, man könne nichts von ei-
 
 

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ner Wissenschaft halten, deren oberste Begriffe so unscharf wären wie die der Libido und des Triebes in der Psychoanalyse. Aber diesem Vorwurf liegt eine völlige Verkennung des Sachverhalts zugrunde. Klare Grundbegriffe und scharf umrissene Dimensionen sind nur in den Geisteswissenschaften möglich, soweit diese ein Tatsachengebiet in den Rahmen einer intellektuellen Systembildung fassen wollen. In den Naturwissenschaften, zu denen die Psychologie gehört, ist solche Klarheit der Oberbegriffe überflüssig, ja unmöglich. Zoologie und Botanik haben nicht mit korrekten und zureichenden Definitionen von Tier und Pflanze begonnen, die Biologie weiß noch heute den Begriff des Lebenden nicht mit sicherem Inhalt zu erfüllen. Ja, selbst die Physik hätte ihre ganze Entwicklung versäumt, wenn sie hätte abwarten müssen, bis ihre Begriffe von Stoff, Kraft, Gravitation und andere die wünschenswerte Klarheit und Präzision erreichten. Die Grundvorstellungen oder obersten Begriffe der naturwissenschaftlichen Disziplinen werden immer zunächst unbestimmt gelassen, vorläufig nur durch den Hinweis auf das Erscheinungsgebiet erläutert, dem sie entstammen, und können erst durch die fortschreitende Analyse des Beobachtungsmaterials klar, inhaltsreich und widerspruchsfrei werden. Ich habe es immer als grobe Ungerechtigkeit empfunden, daß man die Psychoanalyse nicht behandeln wollte wie jede andere Naturwissenschaft." (Freud 1925a, S. 85). Fast 30 Jahre früher, im Sommer 1896 wird Freud wohl in der Wohnung Galileis kaum der Versuchung eines Vergleichs mit dein großen Naturwissenschaftler widerstanden haben.

Freud ist nach diesem ersten Besuch in Florenz noch öfter in die Hauptstadt der Toskana gekommen, z.B. auf dem Weg nach Sizilien Anfang September 1910. Er wollte Ferenczi, der ihn begleitete, Florenz zeigen und so machten
 
 

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sie am 4. und 5. September dort Station. Besonders wichtig war es für Freud offensichtlich, Ferenczi auf die Piazza della Signoria zu führen und zwar an die Stelle, wo eine kleine Granitplatte im Pflaster an die Verbrennung des Dominikanermönchs Savonarola und seiner Mitbrüder Buonvicini und Maruffi im Jahre 1498 erinnert. Freud mag mit dem "Ketzer" Savonarola sympathisiert haben, der gegen Papst Alexander VI. (Rodrigo Lanzol Borgia; Reformen forderte und dann auf dessen Geheiß hingerichtet wurde. In gewisser Hinsicht war ja auch Freud ein Ketzer, der gegen die Päpste der herrschenden Wissenschaft Front gemacht hatte. Er wird wohl 1910 zwei Jahre nach dem ersten Internationalen Psychoanalytischen Kongreß nicht mehr das Gefühl gehabt haben, kurz vor der Hinrichtung zu stehen, doch die ernsthaften Widerstände gegen die Psychoanalyse registrierte er wohl, und noch 1925 fühlte er sich gezwungen, eine Schrift zu diesem Problem zu veröffentlichen (Freud 1925b).

Im Jahre 1897 machte Freud gemeinsam mit Alexander und Felix Gattel (einem Schüler und Patienten) eine Rundreise durch die Toskana und Umbrien. Von Venedig aus ging es über Pisa und Livorno nach Siena; dann weiter nach San Gimignano, einem kleinen Städtchen in der Toskana, das wegen seiner Geschlechtertürme berühmt ist (Abb. 18 San Gimignano ). Über Poggibonsi und Chiusi fuhren die drei dann nach Orvieto. Dort wohnten sie im Hotel "Belli Arti" im Palazzo Bisenzi; Freuds Hauptinteresse galt den Fresken Luca Signorellis im Dom zu Orvieto. Genau ein Jahr später sprach Freud mit einem Berliner Assessor übe' Reisen und schreibt in diesem Zusammenhang: "... unsere Unterhaltung wandte sich auf Italien und auf die Bilder und ich hatte Anlaß, meinem Gesellschafter dringend zu empfehlen, einmal nach Orvieto zu gehen, um sich dort
 
 

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die Fresken vom Weltuntergang und letzten Gericht anzusehen, mit denen ein großer Maler eine Kapelle im Dom ausgeschmückt. Der Name des Malers aber entfiel mir und war nicht wieder zu haben. Ich strengte mein Gedächtnis an, ließ alle Details des in Orvieto verbrachten Tages vor meiner Erinnerung vorüberziehen, überzeugte mich, daß nicht das Mindeste davon verlöscht oder undeutlich sei. Im Gegenteile, ich konnte mir die Bilder sinnlich lebhafter vorstellen, als ich es sonst vermag; und besonders scharf stand vor meinen Augen das Selbstbildnis des Malers (Abb. 19: Selbstbildnis Luca Signorellis im Dom von Orvieto), das ernste Gesicht, die verschränkten Hände, welches er in die Ecke des einen Bildes neben dem Portrait seines Vorgängers in der Arbeit, des  F r a   A n g e l i c o  d a  F i e s o l e, hingestellt hat; aber der mir sonst so geläufige Name des Künstlers verbarg sich hartnäckig." (Freud 1898, S. 521). Freud verwendet diesen Fall dann auch in der "Psychopathologie des Alltagslebens" als erstes Beispiel für die Erklärung des Vergessens von Eigennamen, nachdem er es schon in verkürzter Form in der Schrift "Zum psychischen Mechanismus der Vergeßlichkeit" (Freud 1898) aufgegriffen hatte.

Von Orvieto aus ging die Reise über Bolsena, Spoleto, Terni, Assisi, Perugia und Arezzo nach Florenz, wo die Gesellschaft drei Tage blieb. Ernest Jones schreibt über diese "Kunsttourné": "Die Anregung zu dieser Reise scheint ihm Fließ gegeben zu haben, der ihn aufgefordert hatte, sich mit den Meisterwerken der italienischen Kunst vertraut zu machen. Freuds Genuß wurde jedoch durch seine Abneigung gegen die Eintönigkeit heiliger, besonders christlicher Themen in den Gemälden etwas beeinträchtigt." (Jones 1984, Bd. 1, S. 389). Ich weiß nicht, aufgrund welcher Informationen Jones eine Abneigung Freuds gegen "heilige, besonders christliche Themen" diagnostiziert hat,
 
 

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doch scheinen mir Zweifel angebracht. Freud selbst schreibt z.B.: "Im Jahre 1907 kam ich zufällig nach Padua, das ich zu meinem Bedauern seit 1895 (in Wirklichkeit 1896, C. T.) nicht wieder hatte besuchen können. Mein erster Besuch in der schönen Universitätsstadt war unbefriedigend geblieben, ich hatte die Fresken Giottos in der Madonna dell'Arena nicht besichtigen können und machte mitten auf der dahin führenden Straße kehrt, als man mir mitteilte, das Kirchlein sei an diesem Tage gesperrt. Bei meinem zweiten Besuche, zwölf (elf, G. T.) Jahre später, gedachte ich mich zu entschädigen und suchte vor allem den Weg zur Madonna dell'Arena auf." (Freud 1900, S. 42). Bei den in Rede stehenden Fresken Giottos in der Capella dell'Arena in Padua handelt es sich um die "Geschichte und Vorgeschichte des Lebens Jesu Christi"! Freud erwähnt mit keinem Wort, daß dieses wohl doch christliche Thema seinen Genuß des Kunstwerks beeinträchtigt habe.

Nun sei noch kurz auf die Reise vom Sommer 1902 eingegangen. Freud fuhr mit Alexander über Bozen und Trient nach Venedig, dann weiter nach Bologna, Orvieto, Rom und am 31. August erreichten sie Neapel. Am 2. September fuhren sie dann nach Sorrent weiter, wo sie eine Woche blieben. Ernest Jones veröffentlichte in seiner Biographie folgenden Brief Freuds aus Sorrent:

"Meine Lieben
Kennst du das Land wo die Citronen blühen?` Wo nicht muß ich Euch beschreiben, was ich gerade vor der flachen Terrasse vor unserem Zimmer im ersten Stock der Cocumella (Abb. 20: Hotel Cocumella in Sorrent ) sehe. Links habe ich den Schatten von einem anderen Flügel des Hauses, u. das ist gut, sonst säße ich gar nicht da. Rechts folgt auf die Einfassung der Terrasse ein Gewirr von Kronen aus dem Hotelgarten;
 
 

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aus dem sich drei Pinien elegant herausheben. Dazwischen sehe ich hohe Nußbäume, wilde Feigenbäume (u. der mir nächste, den ich fast greifen kann) Kastanien usw. Was aber so tief grün ist ohne sich zur Höhe der Mauer zu erheben, das sind, was ich durch Erfahrung weiß, Orangen u. Citronenbäume, voll behängt mit grünen Früchten, u. wenn ich aufstehe u. in den Garten hinuntergehe, sehe ich auch in den hintersten Bäumen des Gartens die großen orangegelben Ballons 'im dunkeln Laube glühen'. Einer dieser Bäume hat sich einen merkwürdigen Farbeneffekt verschafft, indem er sich von einer Winde mit riesigen blauen Glocken durchwachsen ließ. Das stellt Euch nur vor. Der Wald links geht so weit bis ein ganz anständiger Berg ihn aufhält um dessen Mitte eine Fahrstraße einen weißen Gürtel gezogen hat. Oben sind dann noch leuchtend weiße Mauern von einem Castell. Ich glaube, es ist der M. S. Angelo u. verweile aber nicht bei ihm, denn vor meiner dritten u. höchsten Pinie wird der Blick auf einen anderen Berg frei auf dessen Spitze, wirklich ein feines Wölkchen schwebt u. zu dessen Füßen ein Haufen kleiner Häuser gerade eben ein Stückchen Meer sich ausbreitet. Das ist natürlich der Vesuv höchstselbst mit Torreanunciata, wo Pompeji ganz in der Nähe ist. Man sieht ihn heute deutlicher wie sonst, es war leider neblig in den letzten Tagen.

Endlich vor mir brauche ich nur über das weiße Dach einer russischen Villa hinwegzusehen, so liegt das blaue Meer vor mir, nur leicht kraus, bis zu einem langen, weißfleckigen Strand gegenüber, zu dem man in 5/4 Stunden Wasserfahrt gelangen kann. Dort liegt das Hundenest u. der Affenkäfig Neapel, in dem es nicht zu leben war, das sich aber beleuchtet abends fast noch schöner ausnimmt als seinerzeit Wien von der Bellvue aus. Eine allerherrlichste
 
 

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Pinie teilt mir die Aussicht gerade in zwei gleiche Felder. Dann schließt sich nach links hinüber noch ein buckliger Felsen an, der die Insel Ischia bedeutet, u. käme dann nicht wieder das Haus, so müßte ich noch das nur 3/4 Stunden entfernte Capri beschreiben." (Jones 1984, Bd. 2, S. 36f.). Nach Capri fuhren Freud und Alexander dann am übernächsten Tag und besichtigten natürlich besonders die Blaue Grotte. Ein Ausflug von drei Tagen führte sie nach Amalfi, Salerno und Paestum. Pompeji und das Nationalmuseum in Neapel hatten sie schon in den ersten Tagen besucht. Einen Tag vor der Abreise bestiegen die beiden Brüder noch den Vesuv.

Im September 1923 war Freud das letzte Mal in Italien. Mit seiner Tochter Anna reiste er von Lavarone über Verona nach Rom. Es war das Jahr, in dem bei Freud Wucherungen am rechten vorderen Gaumenbogen aufgetreten waren, die histologisch als Carcinom diagnostiziert wurden. Im April 1923 fand der erste größere chirurgische Eingriff statt. Danach faßte Freud den Entschluß, mit Anna zwei Wochen in Rom zu verbringen. Eine notwendige zweite Operation wurde deshalb auf den Spätherbst verlegt. Max Schur schreibt in diesem Zusammenhang: "Daß man Freud erlaubte, noch einmal Rom zu sehen und Anna die Stadt zu zeigen, war die humanste und konstruktivste Handlung in allen diesen Monaten . ." (Schur 1982, S. 430). Diese Erlaubnis war allerdings mit einem Risiko verbunden, wie die Ereignisse zeigen sollten. Auf der Zugfahrt von Verona nach Rom "gab es während des Frühstücks einen schlimmen Zwischenfall. Plötzlich schoß aus Freuds Mund ein Blutstrom, wahrscheinlich weil sich durch eine harte Kruste ein Stückchen Gewebe gelöst hatte. Was das bedeutete, darüber bestand kein Zweifel." (Jones 1984, Bd. 3, S. 117f.). Laut Jones war der Rombesuch
 
 

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trotzdem sehr "beglückend" . Freud selbst schrieb am 26. September an Eitingon: "Rom war sehr schön, besonders die beiden ersten Wochen, ehe der Scirocco kam und meine Schmerzen sich verstärkten. Anna war prächtig, hat alles verstanden und genossen, und ich wurde sehr stolz auf sie." (Jones 1984, Bd. 3, S. 118).

Nach dieser Reise mit ihrem gefährlichen Zwischenfall fuhr Freud nie mehr zu seinem Vergnügen ins Ausland. Besonders Italien fehlte ihm natürlich sehr. Im Februar 1926 schrieb er an Enrico Morselli: "In früheren Jahren hätte ich nicht versäumt, Ihnen anzukündigen, daß ich mir die Freiheit nehmen werde, Sie auf meiner nächsten Italienreise heimzusuchen. Leider kann ich gegenwärtig an Reisen nicht denken." (Freud 1960, S. 362).
 

Anmerkungen

17 Zu Burckhardts Geschichtsverständnis vgl. besonders Holly (1988) allerdings ist die dort vertretene Interpretation von der hier vorgestellten recht verschieden.
18 Freud schreibt, er habe "siebzehn köstliche Tage in Rom verbrach (Jones 1984, Bd. 2, S. 130).
19 Die ganze Reise von Noordwijk bis Sizilien und zurück nach Wien war außer seiner USA-Reise von der Strecke her die größte, die Freud je unternommen hatte: ca. 4500 km.
20 Freud empfahl die Casa Kirsch auch Wilhelm Fließ und ärgerte sich als dieser dann woanders Quartier nahm (Freud 1986, S. 250).

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