FREUD, DIE DONAUMONARCHIE UND SÜDOSTEUROPA
Vortrag gehalten am 11.10.1991 in Bad Wörishofen
Als ich mich daran setzte, meinen Vortrag zum Thema »Freud, die Donaumonarchie und Südosteuropa« auszuarbeiten, erlebte ich eine Enttäuschung nach der anderen.
Zuerst stieß ich auf einen von Freud verfaßten totalen Verriß des Buches »Neurasthenie. Wesen, Heilung, Vorbeugung« [1], das der Bad Wörishofener Arzt Dr. Alfred Baumgarten im Jahr 1903 veröffentlicht hatte. [2] Freud hatte dieses Buch am 4. Februar 1904 im Morgenblatt der Wiener »Neuen Freien Presse« besprochen und am Ende seiner Rezension gar bezweifelt, daß Bad Wörishofen für die »rückhaltlose und rücksichtslose Verfolgung der Wahrheit« der geeignete Ort sei.
Dem nicht genug stellte sich heraus, daß Freud schon als Gymnasiast von 15 Jahren die Relevanz des Themas unseres Symposiums bezweifelt hatte. Er zettelte als Rädelsführer eine Verschwörung gegen einen Lehrer an, als dieser seinen Schützlingen das Thema »Die Bedeutung der Donau für Österreich« zur Bearbeitung vorsetzte.
Obwohl Freud also sowohl gegen Bad Wörishofen, als auch gegen unsere Symposium starke Vorurteile hatte, habe ich versucht, der Beziehung Freuds zur Donaumonarchie und Südosteuropa auch eine etwas ernsthaftere Seite abzugewinnen.
Im Bewußtsein der gebildeten Allgemeinheit gehören Freud und seine Werke zur westeuropäischen Kultur. Nur wenige wissen, daß sein Vater aus Tysmenitz stammt, nicht weit vom heutigen Ivano-Frankovsk in der Ukraine. Seine Mutter wurde in Bucacz unweit Lembergs geboren. Beide Eltern waren galizische Juden und lebten bis 1859 im mährischen Freiberg, dem heutigen Pribor, etwa auf der Hälfte der Strecke zwischen Wien und Krakau. Dort wurde Sigmund Freud im Jahre 1856 geboren. Er konnte tschechisch und wuchs in einer Mischung aus slawischer, ostjüdischer und österreichisch-deutscher Tradition auf. Erst nach der Übersiedlung seiner Familie nach Wien im Jahre 1860 wurde Freud in ein westlicheres Umfeld integriert.
In den späteren Jahren seines Lebens zog es Freud immer wieder nach Ost- und Südosteuropa. Eine nicht geringe Anzahl von Reisen führte ihn in die Hohe Tatra, nach Brünn, Budapest, Gleichenberg (heute Szombathely), in Orte in Bosnien und der Herzegowina, Dalmatien und Montenegro. Freud war also jemand, dem die Welt des Donauraums und auch die slawische Kultur wohl vertraut war.
Obwohl zeitweise ein ausgesprochen patriotischer Bürger Österreich-Ungarns, hat Freud immer dazu tendiert, dieses gewaltige Staatengebilde eher mit dem größten Fluß zu identifizieren, der es
durchfließt und ihm den Beinamen »Donaumonarchie« gegeben hat, als mit der Herrscherfamilie der Habsburger, für die Freud immer ironische Bemerkungen parat hatte.
Ich will wagen, diese Beobachtung mit der These zu verbinden, daß für viele Intellektuelle Österreich-Ungarns die nationale Identifizierung eher über geographische als über politische Gegebenheiten stattfand. Lassen Sie mich diese These anhand von Äußerungen in Freuds Briefen illustrieren.
Zuerst einige Beispiele zu Freuds Stellung zur österreichischen Herrscherfamilie:
Am 20. August 1874 wurde Kronprinz Rudolf 16 Jahre alt. In einem Brief an seinen Freund Eduard Silberstein – der übrigens in Braila, unweit der Donaumündung wohnte – schreibt Freud aus diesem Anlaß zwei Tage später:
Ganz anders sein Verhältnis zur Donau. Im Gegensatz zu Franz Josef I. war sie nicht an seiner verspäteten Ernennung zum Professor schuld. Die Donau war auch nicht wie Franz Ferdinands provokativ in Sarajevo aufgetreten und ermordet worden, sondern sie war eine geruhsame alte Dame, die bis auf gelegentliche Überschwemmungen keinen Anlaß zu besonderem Ärger bot.
Freud unternimmt oft kleine Ausflugsfahrten auf der Donau, reist auch schon mal mit Schiff nach Budapest, obwohl die Eisenbahn das viel schnellere Verkehrsmittel ist und besteht in der ungarischen Hauptstadt darauf, ein Zimmer an der Donau zu bekommen.
Als im Frühjahr 1875 die Donau in Wien in ein neues Bett geleitet wurde, nahm die Bevölkerung daran großen Anteil und auch Freud ging sich die Sache ansehen. Wegen eines Kaisers wäre er keinen Schritt vor die Türe gegangen. An Eduard Silberstein schrieb er dann:
Anmerkungen
[1] Baumgarten, Alfred: Neurasthenie. Wesen, Heilung, Vorbeugung. Wörishofen 1903.
[2] Freud, Sigmund: Rezension von Alfred Baumgarten: Neurasthenie. Wesen, Heilung, Vorbeugung. Wörishofen 1903. Neue Freie Presse, 4. Februar 1904, Morgenblatt S. 22.
[3] Freud, Sigmund: Jugendbriefe an Eduard Silberstein 1871-1881. Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 1989, S. 63.
[4] Freud, Sigmund: Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904. Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 1986, S. 349.
[5] Freud, Sigmund: Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904. Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 1986, S. 503.
[6] Freud, Sigmund: Jugendbriefe an Eduard Silberstein 1871-1881. Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 1989, S. 129.
[2] Goethe, Johann Wolfgang von: Natur. In: Werke in 12 Bänden. Berlin und Weimar: Aufbau Verlag 1974, Bd. 12, S. 9.