Freud, Leonardo und die Wissenschaftstheorie
P. Feyerabend 1983, 71
Die Arbeiten von Han Israels lese ich immer mit großem Vergnügen. Sie sind spritzig geschrieben, humorvoll und provokativ. Das gilt auch für seine Arbeit zu "Freuds Phantasien über Leonardo". Ich halte auch seine Kritik an Freuds Umgang mit dem Quellenmaterial für berechtigt. Jedoch scheinen mir die Schlußfolgerungen, die Israels aus seiner Rekonstruktion der Freudschen Leonardo-Rezeption zieht zumindest diskussionswürdig. Ich will hier nicht alle möglichen Einwände gegen die Argumentation von Israels vorbringen, sondern beschränke mich auf den wissenschaftstheoretischen Aspekt von Israels Freud-Kritik.
Israels plädiert im Anschluß an Freud dafür, alle Wissenschaft mit Maßstäben gleicher Strenge zu messen. Auf Freuds Leonardo-Arbeit aber wendet er Kriterien an, die im Falle ihrer Verallgemeinerung jeden Wissenschaftler und jede Theorie in gleicher Weise fragwürdig erscheinen lassen würden. Die Argumentation von Israels sieht folgendermaßen aus:
Nach Israels Rekonstruktion der Freudschen Leonardo-Rezeption formuliert er seine Schlüsselbehauptung:
ad 1.
Paul Feyerabend, dessen Argumentation ich hier im wesentlichen folge, weist in im Anschluß an David Hume darauf hin, daß Theorien sich nicht aus Tatsachen ableiten lassen (Feyerabend 1983, 84). Außerdem zeigt er, daß besonders in der immer als Vorbild für Exaktheit und berprüfbarkeit gepriesenen Physik grundlegende Theorien häufig der Beobachtung und den "Tatsachen" widersprechen (vgl. Feyerabend 1972, 1983). Besonders beeindrucken lassen sich die Anhänger der Theorie dadurch aber nicht.
Das wohl bekannteste Beispiel dafür, daß im Zweifelsfalle die Mehrheit der Wissenschaftler sich immer für die Theorie und gegen die Empirie entscheidet, sind die experimentellen Widerlegungen der speziellen Relativitätstheorie durch Kaufmann und Miller. Der Fehler des Millerschen Experiments wurde erst 1955 entdeckt. Trotzdem gab Einstein seine Theorie nicht auf. Er hielt die experimentellen Widerlegungen für
Freud befindet sich also in bester Gesellschaft, wenn er die "Kontrolle" seiner theoretischen Konstruktion vernachlässigt. Übrigens scheint er nicht nur bei der Leonardo-Studie so vorzugehen. Im Zusammenhang mit der Diskussion der Vererbung von Erinnerungsspuren an das von Voreltern Erlebte schreibt Freud Folgendes:
ad 2.
Seit nunmehr 20 Jahren exisitiert eine wissenschaftstheoretische Auffassung, die unter dem Namen "non-statement-view" oder "strukturalistisches Theorienkonzept" bekannt geworden ist. Ihr Begründer ist der Amerikaner Joseph Sneed (1971) und im deutschsprachigen Raum ist diese Richtung durch Wolfgang Stegmüller (1973, 1980) bekanntgeworden.
Einer der Kernpunkte des strukturalistischen Theorienkonzepts ist die Aufgabe der Identifikation einer Theorie mit ihren empirischen Hypothesen und der bergang zu deren strenger Unterscheidung. Damit hören Theorien auf, Mengen von Aussagen zu sein und verwandeln sich in ein begriffliches Instrument, mit dessen Hilfe sich empirischen Hypothesen formulieren lassen. Macht man sich diesen wissenschaftstheoretischen Standpunkt zu eigen, so wird klar, daß eine Widerlegung von Hypothesen nicht auf die Theorie selbst durchschlägt. Stegmüller behauptet nun, daß die ganze Wissenschaftsgeschichte ein einziges Beispiel für die Illustration des strukturalistischen Theorienkonzeptes ist und führt zum Beweis zahlreiche Beispiele aus der Geschichte der Physik an. So wird z.B. bei der Widerlegung einer physikalischen Hypopthese lediglich der Anwendungsbereich der Theorie eingeengt, nicht jedoch die Theorie selbst verworfen: Nachdem Scheitern von Newtons Versuch z.B., seine Mechanik auf optische Phänomene anzuwenden, wurde nicht etwa die Newtonsche Theorie verworfen, sondern lediglich festgestellt, daß Licht keinen Teilchencharakter hat (vgl. Stegmüller 1979, 763).
Ich habe an anderer Stelle anhand des psychoanalytischen Schichtenmodells zu zeigen versucht, daß auch Freud intuitiv von einer Unterscheidung zwischen Theorie und empirischen Hypothesen ausging (Tögel 1985a, 1985b, 1986). Wenn das tatsächlich der Fall ist, dann geht der Vorwurf Israels, Freud habe einer theoretischen Konstruktion ohne Kontrolle den Vorrang vor einer Angabe in der Fachliteratur (d.h. vor empirischer berprüfung) gegeben, natürlich ins Leere. Denn selbstverständlich ist Freuds theoretische Konstruktion vom Standpunkt des strukturalistischen Theorienkonzepts nicht jene Art von Entität, die empirisch überprüft werden kann. Freuds Beschäftigung mit Leonardos Kindheitserinnerung hat dann lediglich die Funktion, seiner vorgefaßten Theorie über Leonardos Charakterzüge eine gewisse Plausibilität zu verleihen. Am 17. Oktober 1909 - bevor Freud seine intensiven Leonardo-Studien begann - hatte er an Jung geschrieben:
Mir scheint dieses Vorgehen Freuds übrigens typisch für die Konstruktion aller seiner Theorien: Sie entspringen weniger seiner klinischen Erfahrung als vielmehr seinem Wunsch, ein begriffliches Instrument zu entwickeln, mit dessen Hilfe sich Hypothesen formulieren lassen. Daß das nichts wissenschaftlich Anrüchiges ist, zeigen die Beispiele von Aristarch, Kopernikus, Newton, Einstein ...
Bleibt die Frage nach der Funktion empirischer Überprüfung im Rahmen des strukturalistischen Theorienkonzepts. Empirisch überprüft werden Anwendbarkeitsbehauptungen bestimmter Theoriemodifikationen, d.h. empirische Hypothesen. Im Falle ihrer Bestätigung wird der Anwendungsbereich der entsprechenden Theorie erweitert und im Falle ihrer Widerlegung wird der entsprechende Anwendungsbereich aus der Menge der intendierten Anwendungen ausgeschlossen.
Auf Israels Kritik an Freuds Leonardo-Studie bezogen bedeutet das: Falls diese Kritik berechtigt ist, kann Freuds Theorie von der Sublimierung auf Leonardo nicht angewendet werden. Seine Hypothese (d.h. Anwendbarkeitsbehauptung) war:
Jedoch seine Kritik an der
Priorität, die Freud der Theorie gegenüber der Empirie einräumt,
kann nur aufrechterhalten werden, wenn man an einer methodologischen Auffassung
festhält, die dem realen Gang der Wissenschaftsgeschichte kaum gerecht
wird.
Literatur
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das Relativitätsprinzip und die aus demselben gezogenen Folgerungen.
Jahrbuch
der Radioaktivität und Elektrizität, 4, S.
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Von der beschränkten Gültigkeit methodologischer Regeln. Neue
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Feyerabend, P.K. (1983):
Wider
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Psychologiegeschichte aus der Sicht des strukturalistischen Theorienkonzepts.
In: Tögel, C. (Hg.), Struktur und Dynamik
wissenschaftlicher
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