Christfried Tögel

Freud, Leonardo und die Wissenschaftstheorie
 

"Keine Theorie stimmt jemals mit allen Tatsachen auf ihrem Gebiet überein,
doch liegt der Fehler nicht immer bei der Theorie.
Tatsachen werden durch ältere Ideologien konstitutiert,
und ein Widerstreit von Tatsachen und Theorien kann ein Zeichen des Fortschritts sein."

P. Feyerabend 1983, 71


 

Die Arbeiten von Han Israels lese ich immer mit großem Vergnügen. Sie sind spritzig geschrieben, humorvoll und provokativ. Das gilt auch für seine Arbeit zu "Freuds Phantasien über Leonardo". Ich halte auch seine Kritik an Freuds Umgang mit dem Quellenmaterial für berechtigt. Jedoch scheinen mir die Schlußfolgerungen, die Israels aus seiner Rekonstruktion der Freudschen Leonardo-Rezeption zieht zumindest diskussionswürdig. Ich will hier nicht alle möglichen Einwände gegen die Argumentation von Israels vorbringen, sondern beschränke mich auf den wissenschaftstheoretischen Aspekt von Israels Freud-Kritik.

Israels plädiert im Anschluß an Freud dafür, alle Wissenschaft mit Maßstäben gleicher Strenge zu messen. Auf Freuds Leonardo-Arbeit aber wendet er Kriterien an, die im Falle ihrer Verallgemeinerung jeden Wissenschaftler und jede Theorie in gleicher Weise fragwürdig erscheinen lassen würden. Die Argumentation von Israels sieht folgendermaßen aus:

Ich will hier nicht der Frage nachgehen, inwieweit Freud Unstimmigkeiten in seiner Leonardo-Arbeit erkannt hat und ob er den Leser bewußt hat hinters Licht führen wollen, wie es mir bei Israels anzuklingen scheint. Viel wichtiger scheint mir die Diskussion des Wissenschaftsverständnisses, das hinter der Art und Weise von Israels Argumentation steht. Israels suggeriert nämlich, daß seine Auffassung von Wissenschaft die einzig adäquate ist und und die Realität des Forschungsprozesses richtig erfaßt. Daß die Wissenschaftsgeschichte nicht nur vom Standpunkt der Wechselwirkung zwischen Theorie und Empirie betrachtet werden kann, wird bei Israels überhaupt nicht erwähnt.

Nach Israels Rekonstruktion der Freudschen Leonardo-Rezeption formuliert er seine Schlüsselbehauptung:

"Ist eine solche Rekonstruktion der Arbeitsweise richtig, würde dies bedeuten, daß Freud einer theoretischen Konstruktion ohne Kontrolle den Vorrang vor einer Angabe in der Fachliteratur gegeben hätte." Ich befinde mich bezüglich dieser Feststellung in voller šbereinstimmung mit Israels. Seine Rekonstruktion der Arbeitsweise Freuds halte ich für weitgehend richtig und glaube auch, daß Freud tatsächlich seiner theoretischen Konstruktion Priorität eingeräumt hat. Allerdings interpretiere ich diese Tatsachen auf eine völlig andere Weise als Israels, nämlich daß Die erste Behauptung versuche ich anhand von Beispielen aus der Wissenschaftsgeschichte zu illustrieren, zur Unterstützung der zweiten werde ich zeigen, daß es ernstzunehmende wissenschaftstheoretische Ansätze gibt, die zur traditionellen Dichotomie "empirisch-theoretisch" durchaus Alternativen anzubieten haben.

ad 1.

Paul Feyerabend, dessen Argumentation ich hier im wesentlichen folge, weist in im Anschluß an David Hume darauf hin, daß Theorien sich nicht aus Tatsachen ableiten lassen (Feyerabend 1983, 84). Außerdem zeigt er, daß besonders in der immer als Vorbild für Exaktheit und šberprüfbarkeit gepriesenen Physik grundlegende Theorien häufig der Beobachtung und den "Tatsachen" widersprechen (vgl. Feyerabend 1972, 1983). Besonders beeindrucken lassen sich die Anhänger der Theorie dadurch aber nicht.

Das wohl bekannteste Beispiel dafür, daß im Zweifelsfalle die Mehrheit der Wissenschaftler sich immer für die Theorie und gegen die Empirie entscheidet, sind die experimentellen Widerlegungen der speziellen Relativitätstheorie durch Kaufmann und Miller. Der Fehler des Millerschen Experiments wurde erst 1955 entdeckt. Trotzdem gab Einstein seine Theorie nicht auf. Er hielt die experimentellen Widerlegungen für

"unwahrscheinlich, weil ihre Grundannahme, aus der die Masse des bewegten Elektrons abgeleitet wird, {\em nicht durch theoretische Systeme nahegelegt wird}, die größere Bereiche von Erscheinungen umfassen." (Einstein 1907, 439; zitiert nach Feyerabend 1983, 73; Hervorhebung von mir, C.T.) Es ist hier ganz eindeutig, daß Einstein theoretische Konstruktionen den Vorrang vor empirisch-experimentellen Untersuchungen gibt. Und Einstein war keine Ausnahme. In der Wissenschaftsgeschichte finden sich viele Beispiele dafür, daß "die Vernunft in dem Maße die Sinne hat überwinden können, daß ihnen zum Trotz die Vernunft über ihre Leichtgläubigkeit triumphiert hat." (Galilei 1987 [1632], 288) Galilei meint hier Aristarch und Kopernikus, die trotz des Augenscheins - die Sonne geht auf und unter -- ein heliozentristisches Weltbild vertreten haben.

Freud befindet sich also in bester Gesellschaft, wenn er die "Kontrolle" seiner theoretischen Konstruktion vernachlässigt. Übrigens scheint er nicht nur bei der Leonardo-Studie so vorzugehen. Im Zusammenhang mit der Diskussion der Vererbung von Erinnerungsspuren an das von Voreltern Erlebte schreibt Freud Folgendes:

"Unsere Sachlage wird allerdings durch die gegenwärtige Einstellung der biologischen Wissenschaft erschwert, die von der Vererbung erworbener Eigenschaften auf die Nachkommen nichts wissen will. Aber wir gestehen in aller Bescheidenheit, daß wir trotzdem diesen Faktor in der biologischen Entwicklung nicht entbehren können." (Freud 1939a, 547). Hier wird unzweideutig klar, daß Freud der Theorie den Vorrang gegenüber der Empirie einräumt. Mir scheint es zweifelsfrei, daß für Freud das psychoanalytische Theoriengebäude oberste Priorität hatte. Publikationen und Žußerungen Freuds, die den Versuch unternehmen, seine Theorien in direkten Zusammenhang mit Beobachtungen zu bringen, halte ich für ein Zugeständnis Freuds an das herrschende traditionelle Wissenschaftsverständnis. Er hat wohl gefühlt, daß eine Abweichung von diesem Wissenschaftsverständnis den Argwohn der Psychoanalyse gegenüber verstärken könnte. Diese Ambivalenz kommt auch in Freuds Leonardo-Arbeit zum Ausdruck: Zum einen verwendet er viel Zeit auf die historische - sprich: empirische - Rekonstruktion, zum anderen schreibt er aber an Hermann Struck: "Ein Büchlein über Leonardo da Vinci, das ich geschrieben habe, muß nicht gerade für Ihren Geschmack sein ... Es ist ... halb Romandichtung. Ich möchte nicht, daß Sie die Sicherheit unserer sonstigen Ermittlungen nach diesem Muster beurteilen." (Freud 1960a, 301f.) Freud ist sich also wohl im klaren, daß seine Leonardo-Arbeit eine weitgehend in der Luft hängende theoretische Konstruktion ist, die an traditionellen methodologischen Maßstäben gemessen nur schwerlich als "Wissenschaft" akzeptiert werden würde. Daß Freuds "Theoriegläubigkeit" nicht nur die Schrulle eines Außenseiters ist haben wir gesehen; daß diese Methodologie aber auch durchaus rationale Argumente für sich ins Feld führen kann, soll nun angedeutet werden.

ad 2.

Seit nunmehr 20 Jahren exisitiert eine wissenschaftstheoretische Auffassung, die unter dem Namen "non-statement-view" oder "strukturalistisches Theorienkonzept" bekannt geworden ist. Ihr Begründer ist der Amerikaner Joseph Sneed (1971) und im deutschsprachigen Raum ist diese Richtung durch Wolfgang Stegmüller (1973, 1980) bekanntgeworden.

Einer der Kernpunkte des strukturalistischen Theorienkonzepts ist die Aufgabe der Identifikation einer Theorie mit ihren empirischen Hypothesen und der šbergang zu deren strenger Unterscheidung. Damit hören Theorien auf, Mengen von Aussagen zu sein und verwandeln sich in ein begriffliches Instrument, mit dessen Hilfe sich empirischen Hypothesen formulieren lassen. Macht man sich diesen wissenschaftstheoretischen Standpunkt zu eigen, so wird klar, daß eine Widerlegung von Hypothesen nicht auf die Theorie selbst durchschlägt. Stegmüller behauptet nun, daß die ganze Wissenschaftsgeschichte ein einziges Beispiel für die Illustration des strukturalistischen Theorienkonzeptes ist und führt zum Beweis zahlreiche Beispiele aus der Geschichte der Physik an. So wird z.B. bei der Widerlegung einer physikalischen Hypopthese lediglich der Anwendungsbereich der Theorie eingeengt, nicht jedoch die Theorie selbst verworfen: Nachdem Scheitern von Newtons Versuch z.B., seine Mechanik auf optische Phänomene anzuwenden, wurde nicht etwa die Newtonsche Theorie verworfen, sondern lediglich festgestellt, daß Licht keinen Teilchencharakter hat (vgl. Stegmüller 1979, 763).

Ich habe an anderer Stelle anhand des psychoanalytischen Schichtenmodells zu zeigen versucht, daß auch Freud intuitiv von einer Unterscheidung zwischen Theorie und empirischen Hypothesen ausging (Tögel 1985a, 1985b, 1986). Wenn das tatsächlich der Fall ist, dann geht der Vorwurf Israels, Freud habe einer theoretischen Konstruktion ohne Kontrolle den Vorrang vor einer Angabe in der Fachliteratur (d.h. vor empirischer šberprüfung) gegeben, natürlich ins Leere. Denn selbstverständlich ist Freuds theoretische Konstruktion vom Standpunkt des strukturalistischen Theorienkonzepts nicht jene Art von Entität, die empirisch überprüft werden kann. Freuds Beschäftigung mit Leonardos Kindheitserinnerung hat dann lediglich die Funktion, seiner vorgefaßten Theorie über Leonardos Charakterzüge eine gewisse Plausibilität zu verleihen. Am 17. Oktober 1909 - bevor Freud seine intensiven Leonardo-Studien begann - hatte er an Jung geschrieben:

"Das Charakterrätsel Leonardo da Vincis ist mir plötzlich durchsichtig geworden. Das gäbe also einen ersten Schritt in die Biographik. Aber das Material über Leonardo ist so spärlich, daß ich daran verzweifle, meine gute Überzeugung anderen faßbar darzustellen." (Freud 1974a, 280f.; Hervorhebung von mir, C.T.) Es ist hier ganz eindeutig, daß Freuds Theorie über Leonardo zumindest in den Grundzügen feststand, bevor er sich an deren durch biographische Studien illustrierte Niederschrift setzte.

Mir scheint dieses Vorgehen Freuds übrigens typisch für die Konstruktion aller seiner Theorien: Sie entspringen weniger seiner klinischen Erfahrung als vielmehr seinem Wunsch, ein begriffliches Instrument zu entwickeln, mit dessen Hilfe sich Hypothesen formulieren lassen. Daß das nichts wissenschaftlich Anrüchiges ist, zeigen die Beispiele von Aristarch, Kopernikus, Newton, Einstein ...

Bleibt die Frage nach der Funktion empirischer Überprüfung im Rahmen des strukturalistischen Theorienkonzepts. Empirisch überprüft werden Anwendbarkeitsbehauptungen bestimmter Theoriemodifikationen, d.h. empirische Hypothesen. Im Falle ihrer Bestätigung wird der Anwendungsbereich der entsprechenden Theorie erweitert und im Falle ihrer Widerlegung wird der entsprechende Anwendungsbereich aus der Menge der intendierten Anwendungen ausgeschlossen.

Auf Israels Kritik an Freuds Leonardo-Studie bezogen bedeutet das: Falls diese Kritik berechtigt ist, kann Freuds Theorie von der Sublimierung auf Leonardo nicht angewendet werden. Seine Hypothese (d.h. Anwendbarkeitsbehauptung) war:

"Nun so einer, der so früh seine Sexualität in Wißtrieb umgesetzt hat und an der Vorbildlichkeit des nicht Fertigwerdens hängen geblieben ist, ist auch der große Leonardo, der sexuell inaktiv und homosexuell war." (Freud 1974a, 281) Israels hat in seiner Arbeit ernsthafte Gründe dafür angeführt, daß Freuds Leonardo-Rezeption kritisch betrachtet werden muß und leitet daraus den Verdacht ab, daß möglicherweise auch andere, weniger gut überprüfbare Untersuchungen Freuds ähnliche Schwächen haben.

Jedoch seine Kritik an der Priorität, die Freud der Theorie gegenüber der Empirie einräumt, kann nur aufrechterhalten werden, wenn man an einer methodologischen Auffassung festhält, die dem realen Gang der Wissenschaftsgeschichte kaum gerecht wird.
 
 

Literatur

Einstein, A. (1907): Über das Relativitätsprinzip und die aus demselben  gezogenen Folgerungen. Jahrbuch der Radioaktivität und Elektrizität, 4, S.
    411-462.
Feyerabend, P.K. (1972): Von der beschränkten Gültigkeit methodologischer Regeln. Neue Hefte für Philosophie, Nr. 2/3, S. 124-171.
Feyerabend, P.K. (1983): Wider den Methodenzwang. Frankfurt/M.
Freud, S. (1939a): Der Mann Moses und die monotheistische Religion: Drei Abhandlungen. SA IX, S. 459-581.
Freud, S. (1960a): Briefe 1873-1939. Frankfurt/M.
Freud, S. (1974a): Sigmund Freud - C. G. Jung. Briefwechsel. Frankfurt/M.
Galilei, G. (1987) [1632]: Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische. In: Galileo Galilei: Schriften,
    Briefe, Dokumente, Bd. 2. Hg. von Anna Mudry. Berlin.
Sneed, J.: (1971): The Logical Structure of Mathematical Physics. Dordrecht.
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Stegmüller, W.: (1979): Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. 2. Stuttgart.
Stegmüller, W.: (1980): Neue Wege der Wissenschaftsphilosophie. Heidelberg, Berlin, New York.
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Tögel, C. (1985b): Zur Struktur psychologischer Theorien. In: Chisholm, R. et al. (Eds.), Philosophie des Geistes -- Philosophie der Psychologie.
    Wien,     S. 430-432.
Tögel, C.: (1986): Psychologiegeschichte aus der Sicht des strukturalistischen Theorienkonzepts. In: Tögel, C. (Hg.), Struktur und Dynamik
    wissenschaftlicher Theorien. Frankfurt/M. S. 265-273.