Christfried Tögel
Tendenzen und Probleme der Freud-Biographik
Am 28. April 1885, im Alter von 29
Jahren schrieb Sigmund Freud an seine Verlobte Martha Bernays:
Ein Vorhaben habe ich ... fast ausgeführt,
welches eine Reihe von noch nicht geborenen, aber zum Unglück geborenen
Leuten schwer empfinden wird. Da Du noch nicht erraten wirst, was für
Leute ich meine, so verrate ich Dir's gleich: es sind meine Biographen.
Ich habe alle meine Aufzeichnungen seit vierzehn Jahren und Briefe, wissenschaftliche
Exzerpte und Manuskripte meiner Arbeit vernichtet ... Die Biographen aber
sollen sich plagen, wir wollen's ihnen nicht zu leicht machen. Jeder soll
mit seinen Ansichten über die 'Entwicklung des Helden' recht behalten,
ich freue mich schon, wie die sich irren werden.
Als dann im Jahre 1923 die erste Freud-Biographie
erschien, schrieb der Meister an ihren Verfasser Fritz Wittels:
Ich hätte natürlich ein
solches Buch nie gewünscht oder gefördert. Es scheint mir, daß
die Öffentlichkeit kein Anrecht an meine Person hat und auch nichts
an mir lernen kann, solange mein Fall - aus mannigfachen Gründen -
nicht voll durchsichtig gemacht werden kann.
Auch die Nachricht, daß Stefan Zweig
ein literarisches Porträt von ihm begonnen hat, entlockte Freud nur
die bissige Bemerkung,
Daß er (Zweig, C.T.) gegenwärtig
in Hamburg mich zu einem Essay verarbeitet, der mich in Gesellschaft von
Mesmer und Mary Eddy Baker vor die Öffentlichkeit bringen soll.
Und als ihm dann auch noch Arnold Zweig
eröffnete, er trage sich mit dem Gedanken, eine Biographie über
ihn zu schreiben, antwortete Freud mit einigen grundsätzlichen Bemerkungen:
... erst heute ... komme ich dazu,
Ihnen einen Brief zu schreiben, geschreckt durch die Drohung, daß
Sie mein Biograph werden wollen. Sie, der so viel Schöneres und Wichtigeres
zu tun hat, der Könige einsetzen kann und die gewalttätige Torheit
der Menschen von einer hohen Warte her überschauen. Nein, ich liebe
Sie viel zu sehr, um solches zu gestatten. Wer Biograph wird, verpflichtet
sich zur Lüge, zur Verheimlichung, Heuchelei, Schönfärberei
und selbst zur Verhehlung seines Unverständnisses, denn die biographische
Wahrheit ist nicht zu haben, und wenn man sie hätte, wäre sie
nicht zu brauchen.
Erstens. Es ist eine zwangsläufige
und ganz natürliche Entwicklung, daß heutige Freud-Forscher
den Begründer der Psychoanalyse nicht mehr selbst gekannt haben. Dadurch
fehlt ihren Arbeiten die Würze des persönlichen Eindrucks. Auf
der anderen Seite aber können sie mit mehr Abstand und vielleicht
auch ein wenig objektiver über Sigmund Freud schreiben. Wie stark
Freuds Ausstrahlung war bekennt z.B. Hanns Sachs in seiner Biographie "Freud.
Meister und Freund". Dort schreibt er über das Buch:
... es behandelt die Persönlichkeit
eines Mannes, der ein Teil, und zwar der wichtigste, alles andere verdrängende
Teil meines eigenen Lebens war und noch immer ist ... Als ich Freud persönlich
kennen lernte, wurde er das große Ereignis und Abenteuer meines Lebens.
Wenn ich auf meine Vergangenheit zurückblicke, finde ich die Abschnitte
darin bestimmt durch die verschiedenen Epochen unserer gegenseitigen Beziehungen
und durch meine Reaktionen auf seine neuen Entdeckungen und Ideen." (Sachs
1950, S. 1f.)
Und auch Ernest Jones, der "offizielle"
Biograph Freuds, stand so unter dem Eindruck seines bewunderten Lehrers,
daß seine dreibändige Arbeit über Sigmund Freuds Leben
und Werk ein sehr geglättetes und manchmal auch retuschiertes Freud-Bild
zum Ergebnis hat. Von allen großen Biographien Freuds, die von Freunden
oder Schülern verfaßt wurden, ist die von Max Schur wohl am
ausgewogensten. Er war seit 1929 Freuds persönlicher Arzt und ist
besonders mit der Krebserkrankung konfrontiert gewesen. Er war es auch,
der Freud am 23. September 1939 die letzten beiden Morphininjenktionen
verabreicht hat. Seine Biographie trägt den Titel: "Freud. Leben und
Sterben" (Schur 1972).
Einige gegenwärtige Autoren versuchen
das Fehlen eigener Eindrücke von Freud durch Interviews mit ehema1igen
Patienten oder Personen, die ihm nahestanden, zu kompensieren (z.B. Roazen
1975, Decker 1977). Doch in der Regel basieren alle neueren Biographien
auf Sekundärliteratur und Archivmaterial.
Zweitens.
Wahrend die ersten Freud-Biographen ausschließlich Psychoanalytiker
waren, ist in den letzten Jahren der Trend zu beobachten, daß zunehmend
auch professionelle Wissenschaftshistoriker sich mit der Lebensgeschichte
Freuds beschäftigen. Das führt u.a. auch zu Akzentverschiebungen
von psychoanalytischen Interpretationen biographischer Tatsachen hin zu
ihrer Integration in größere wissenschaftsgeschichtliche und
wissenschaftssoziologische Zusammenhänge. Freud selbst ertappte seinen
ersten Biographen Fritz Wittels bei einer psychoanalytischen
Spekulation. Dieser hatte näm1ich zwischen der Postulation des Todestriebes
und dem Tod von Freuds Tochter Sophie einen Zusammenhang hergestellt. Freud
schrieb daraufhin an Wittels:
"Gewiß hätte ich in einer
psychoanalytischen Studie über einen anderen denselben Zusammenhang
zwischen dem Tode: meiner Tochter und den Gedankengängen im 'Jenseits'
vertreten. Und doch ist er falsch. Das Jenseits wurde 1919 geschrieben,
als meine Tochter gesund und blühend war. Sie starb im Jänner
1920 ... Das Wahrscheinliche ist nicht immer das Wahre." (Freud 1987, S.
758)
Psychoanalytische Konstruktionen wie bei
Wittels fehlen in dem Buch des Biologiehistorikers Frank Sulloway völlig.
Er versucht,
"sowohl Freud als auch die Geschichte
der Psychoanalyse dem disziplinären Bereich des Faches Wissenschaftsgeschichte
einzuverleiben." (Sulloway 1982, S. 13)
Und unabhängig von seinen z.T. umstrittenen
Thesen gelingt es ihm, die Verflechtung der geistigen Entwicklung Freuds
mit den verschiedenen wissenschaftlichen Strömungen des 19. Jahrhunderts
zu zeigen. Allerdings kommen bei Sulloway die kulturellen Einflüsse,
die auf Freud gewirkt haben, ausgesprochen kurz. Diesen Mangel hat die
neueste und wohl bisher auch fundierteste Freud-Biographie des Historikers
Peter Gay nicht (Gay 1988).
Drittens. Peter Gays Buch über
Freud weicht von einer dritten Tendenz ab, die dahingeht, Daß anstelle
von großen, umfassenden Entwürfen zu Leben und Werk Freuds in
den letzten Jahren zunehmend Detailuntersuchungen angestellt werden. Eigentlich
begann diese Tendenz schon mit den Arbeiten Siegfried Bernfelds in den
vierziger Jahren. Er und z.T. auch seine Frau Suzanne Cassirer Bernfeld
haben Themen bearbeitet wie "Freuds früheste Kindheit" (Bernfeld 1944),
"Freuds Vorbereitung auf den Arztberuf, 1882-1885" (Bernfeld 1952), „Freuds
erstes Praxisjahr, 1886-1887" (Bernfeld/Bernfeld 1952) und "Freud und die
Archäologie" (S. C. Bernfeld 1951). Alle diese Arbeiten waren ursprünglich
als "Bausteine der Freud-Biographik't geplant (vgl. Bernfeld/Bernfeld
1988), der frühe Tod Siegfried Bernfelds im Jahre 1953 verhinderte
dann aber dieses Vorhaben. Ernest Jones hat bei der Arbeit an seiner Freud-Biographie
sehr viel von den Untersuchungen der Bernfelds profitiert, ohne deren Beitrag
jedoch immer kenntlich zu machen.
Im Anschluß und in der Tradition
von Bernfelds Untersuchungen stehen z.B. auch die Arbeiten Josef Sajners.
Er ist "Freuds Beziehungen zu seinem Geburtsort Freiberg und zu Mähren"
(Sajner 1968) nachgegangen und hat viel aus den Archivmaterialien ans Licht
gebracht(1981). Spezielle Untersuchungen gibt es natürlich auch über
viele andere Themen, z.B. über Freuds Verhältnis zu seinem Vater
(Krüll 1979) und zu seiner Mutter (Kobler 1962), über seine Selbstanalyse
(Anzieu 1959), über Freuds Beziehung zu seiner Schwägerin (Swales
1982),über Freud als Briefeschreiber (Fichtner 1989) und noch viele
andere spezielle Aspekte seines Lebens und Wirkens. Einen guten Überblick
über die Breite der Themen gibt Peter Gay im Anhang zu seiner schon
erwähnten Freud-Biographie (Gay 1988, 5. 741-779).
Ich komme nun zu den Problemen, die
sich den Freud-Biographen heute hauptsächlich entgegenstellen.
1. Die Verhülllungsstrategien
Freuds
Ilse Grubrich-Simitis (1971) hat in
einer Einleitung zu Sigmund Freuds Selbstdarstellung dieses Thema eingehend
behandelt. Sie weist daraufhin, Daß in Freuds Schriften und Briefen
immer wieder die Worte Mephistos zitiert werden: "Das Beste, was Du wissen
kannst, darfst Du den Buben doch nicht sagen." Allerdings hat Freud nicht
nur bestimmte Dinge verschwiegen, sondern manche Umstände seines Lebens
auch bewußt entstellt. Die Gründe dafür liegen nicht immer
nur in dem Bestreben, so wenig wie möglich von seiner eigenen Person
freizugeben, sondern oft auch in dem Wunsch, die Anonymität seiner
Patienten zu wahren. Ein schönes Beispiel dafür liefert die Krankengeschichte
der Katharina aus den "Studien über Hysterie" (Breuer/Freud 1895).
Dort schreibt Freud:
"In den Ferien des Jahres 189. machte
ich einen Ausflug in die Hohen Tauern, um für eine Weile die Medizin
und besonders die Neurosen zu vergessen." (Breuer/Freud 1895, 5. 100)
Dieser Wunsch wurde dann aber vereitelt,
da die Tochter der Wirtin des Schutzhauses, in dem Freud Unterkunft fand,
ihn um medizinischen Rat anging. Das Mädchen behauptete, sie sei nervenkrank.
Freud schreibt dann weiter:
"Da war ich also wieder in den Neurosen,
denn um etwasanderes konnte es sich bei dem Großen und kräftigen
Mädchen mit der vergrämten Miene kaum handeln. Es interessierte
mich, daß Neurosen in der Höhe von über 2000 Metern so
wohl gedeihen sollten." (Breuer/Freud 1895, S. 100f.)
In Freuds Einführung zu diesem Fall
gibt es nun gleich zwei Dinge, die - außer dem Namen der Patientin
- nicht den wirklichen Umständen entsprachen Erstens war Freud nicht
in die Hohen Tauern gefahren, sondern auf die Rax, südlich von Wien.
Und die Schutzhütte, um die es sich handelt, liegt nicht über
2000 Meter hoch, sondern lediglich 1715m (Erzherzog-Otto-Schutzhaus). Gründliche
Recherchen des Katharina-Falls sind von Fichtner und Hirschmülller
(1985) publiziert worden.
Ein anderer Bereich, der besonders
stark von Freuds Verhüllungsstrategien betroffen ist, sind seine Kenntnisse
von Schopenhauer und Nietzsche. Freud schreibt in diesem Zusammenhang:
"Die weitgehenden Übereinstimmungen
der Psychoanalyse mit der Philosophie Schopenhauers ... lassen sich nicht
auf meine Bekanntschaft mit seiner Lehre zurückfuhren. Ich habe Schopenhauer
sehr spät im Leben gelesen. Nietzsche, den anderen Philosophen, dessen
Ahnungen und Einsichten sich oft in der erstaunlichsten Weise mit den mühsamen
Ergebnissen der Psychoanalyse decken, habe ich gerade darum lange gemieden;
an der Priorität lag mir ja weniger als an der Erhaltung meiner Unbefangenheit."
(Freud 1925, 5. 87)
Dank der Arbeiten von McGrath (1967),
Kaiser-El-Safti (1987) und Hemecker (1987) wissen wir heute, Daß
dieses statement Freuds nicht bedeutet, Daß ihm die Ideen dieser
beiden Philosophen nicht sehr gut bekannt waren. Allerdings besteht meiner
Ansicht nach weniger eine Übereinstimmung zwischen der "Lebensphilosophie"
Schopenhauers und Nietzsches und der psychoanalytischen Theorie, als vielmehr
zwischen Freuds fachwissenschaftlich-psychologischen Einsichten
und den entsprechenden Ahnungen der beiden Großen Denker.
2. Die psychoanalyseinterne Geschichtsschreibung
Im Grunde beginnt die Historiographie
der Psychoanalyse mit Freuds eigenen Schriften und seiner Selbstdarstellung
(Freud 1925). Stark autobiographisch orientiert sind besonders die Arbeiten
"Über Deckerinnerungen" (Freud 1899; vgl. dazu Bernfeld 1946), "Die
Traumdeutung" (Freud 1900), "Zur Psychopathologie des Alltagslebens" (Freud
1901) und der Brief an Romain Rolland aus dem Jahre 1936 mit dem Untertitel
"Eine Erinnerungsstörung auf der Akropolis" (Freud 1936). Zusammen
mit Freuds Briefen bilden diese Schriften die wichtigste Grundlage für
Ernest Jones dreibändige Biographie "Das Leben und Werk Sigmund Freuds"
(Jones 1960-1962). Ein Vorwurf, der Freud und seinem offiziellen Biographen
von vielen Wissenschaftshistorikern gemacht wird, sei hier herausgegriffen.
Er betrifft Freuds sogenannte "splendid isolation". Freud hatte z.B. am
24. März 1901 über die Aufnahme seines Hauptwerks", der "Traumdeutung"
an seinen Freund Wilhelm Fließ Folgendes geschrieben:
"... des 1 1/2 Jahre alten Buches
hat sich seit den Dir bekannten Zeitungskritiken noch kein Blatt, am wenigsten
ein wissenschaftliches Periodical angenommen." (Freud 1986, 5. 483)
Und Ernest Jones schreibt, Daß von
sechshundert gedruckten Exemplaren in den ersten zwei Jahren lediglich
228 verkauft wurden und das Buch erst nach 8 Jahren vergriffen war (Jones
1960, S. 417). Diese Angaben stimmen in etwa, doch muß dazu gesagt
werden, daß die "Traumdeutung't sich etwa doppelt so gut
verkaufte, wie die "Studien über Hysterie" (vgl. Sulloway 1982, 5.
482) und auch auf die
"wohlwollendsten Rezensionen, die
ihm zur Kenntnis kamen" reagierte Freud sehr "gallig" (Sulloway 1982, 5.
614).
Gerhard Fichtner hat für den Zeitraum
von 1899 bis 1901 bisher 23 Rezensionen der "Traumdeutung't auffinden
können; 7 davon sind in wissenschaftlichen Zeitschriften erschienen.
Insgesamt sind bis zum Erscheinen der 2. Auflage der "Traumdeutung" 32
Rezensionen, davon 9 in Fachzeitschriften, publiziert worden (diese Information
verdanke ich Herrn Professor Gerhard Fichtner). Die von der traditionellen
Freud-Biographik etwas hochgespielte Isolation ist also weniger eine objektive
Tatsache, als vielmehr ein subjektives Gefühl Freuds, Daß nur
auf dem Hintergrund seiner hohen Erwartungen verständlich ist. Natürlich
hatte Freud auch wissenschaftliche Gegner und die besonders die Vertreter
der akademischen Psychologie, die die Psychologie eines Menschen war, der
sich nicht fortpflanzt, standen den sexualpsychologischen Auffassungen
Freuds zumindest reserviert gegenüber. Doch es erscheint mir nicht
gerechtfertigt, daraus eine Isolierung Freuds abzuleiten und ihn zum einsamen
Helden zu machen, der hartnäckig gegen die Widerstände der gesamten
wissenschaftlichen Welt der Wahrheit zum Siege verhilft.
3. Publikationslage und Archivpolitik
Ein großer Teil von Freuds wissenschaftlichen
Arbeiten ist veröffentlicht und somit jedermann zugänglich. Viel
problematischer ist die Lage hinsichtlich der Briefwechsel, die Freud geführt
hat. Fichtner (1989) schätzt die Zahl der von Freud im Laufe seines
Lebens geschriebenen Briefe auf etwa 20 000, von denen
"mindestens die Hälfte davon
heute noch existiert" (Fichtner 1989, S. 9)
Von diesen Briefen sind aber erst reichlich
3000 veröffentlicht (ebenda) und der Rest ist z.T. bis zum Jahre 2032
unter Verschluß in der Sigmund Freud Collection der Library of Congress
in Washington. Sogar Briefe, für die kein Restriktionszeitraum festgelegt
ist, k5nnen nur mit Genehmigung des Leiters der Handschriftenabteilung
der Congress Library eingesehen werden. Und dieser erteilt eine solche
Genehmigung nur nach Ansprache mit den Sigmund Freud Archives in New York,
deren Politik den Freud-Biographen ein zunehmendes Ärgernis wird.
Es ist selten einsichtig, nach welchen Gesichtspunkten welchen Freud-Forschern
Einsicht gewährt wird und ob die Sigmund Freud Archives überhaupt
eine sinnvolle Archivpolitik betreiben.
Trotz der soeben angesprochenen Probleme
gelingt es Historikern der Psychoanalyse immer wieder, interessante und
oft auch wichtige Einzelheiten aus Freuds Leben zutage zu fordern. Dabei
erscheint nach jedem neuentdeckten Dokument Freuds vorweggenommene Schadenfreude
über die Irrtümer seiner Biographen als mehr und mehr voreilig.
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