CHRISTFRIED TÖGEL
Sigmund Freuds Privatbeziehungen zu seinen Schülern
Die Wissenschaftsentwicklung und besonders die Herausbildung und Etablierung wissenschaftlicher Schulen wird wesentlich mitbestimmt durch die Persönlichkeiten der miteinander kommunizierenden Wissenschaftler. Ein Spezialfall dieser Kommunikation ist das Verhältnis des Schulengründers zu seinen Schülern. In der Regel jedoch wird psychologischen und sozialpsychologischen Parametern in der Literatur zur Wissenschaftsgeschichte nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Im Vordergrund steht die innere Logik des Faches, oft auch das soziale und ökonomische Umfeld, aber Faktoren wie z. B. Eifersucht auf Konkurrenten, missionarische Tendenzen großer Gründerpersönlichkeiten, Übertragung oder Projizierung bestimmter Wünsche und Vorstellungen durch den Schüler auf den bewunderten Lehrer u. ä. werden höchstens en passant erwähnt.
Meine These lautet nun, daß solche Faktoren bei der Herausbildung und Entwicklung wissenschaftlicher Schulen in allen Disziplinen eine wichtige Rolle spielen, in den meisten Fällen für den Wissenschaftshistoriker aber nur sehr schwer zu rekonstruieren sind, da sich persönliche Wünsche, Bedürfnisse und Ängste kaum in Veröffentlichungen und auch nur selten in Briefwechseln niederschlagen. In bezug auf die Psychoanalyse liegen die Dinge etwas günstiger. Auf Grund ihres fachlichen Interesses haben sowohl Freud als auch seine Schüler und Anhänger ihr Verhältnis zueinander bewußt reflektiert und sich in Briefen und Publikationen darüber geäußert. Besonders die Briefwechsel zwischen Freud und den anderen Pionieren der Psychoanalyse erlauben einen tiefen Einblick in die persönlichen Beziehungen zwischen ihnen und wie diese sich auf die Entwicklung der Psychoanalyse ausgewirkt haben. Im Zentrum steht dabei natürlich immer Sigmund Freud, der Meister und Begründer. So läßt sich gleichsam am Modell untersuchen, was für andere wissenschaftliche Disziplinen vermutet werden darf.
Zuerst ein paar Bemerkungen zur Vorgeschichte der Psychoanalyse.
Freud
studierte von 1873 bis 1881 Medizin in Wien. Starken Einfluß
übte auf ihn die Evolutionstheorie aus, deren zentrales methodologisches
Prinzip - die Erklärung von Gegenwärtigem aus Vergangenem später
auch zu einem der wichtigsten Prinzipien der Psychoanalyse wurde. Auch
die biophysische Richtung der deutschen Medizin prägte Freuds Auffassung
lange Zeit, da sein geliebter Lehrer Ernst Brücke ja gemeinsam
mit Hermann von Helmholtz, Carl Ludwig und Emil du Bois-Reymond
zu
den Taufpaten dieses Programms gehörte. Zwischen 1877 und 1899 veröffentlichte
Freud 166 Arbeiten und Rezensionen; fast alle auf den Gebieten Histologie,
Neurologie und Neuropathologie. Er galt als einer der führenden Neurologen
Europas, hatte die Entdeckung der
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Neuronentheorie durch Waldeyer vorweggenommen und auch Bedeutendes auf dem Gebiet der Kinderheilkunde geleistet. Der Schweizer Neurologe Brun konnte noch im Jahre 1936 feststellen, daß Freuds Arbeit über die cerebrale Kinderlähmung
,,Vom Jahre t902 an scharte sich eine Anzahl jüngerer Ärzte um mich in der ausgesprochenen Absicht, die Psychoanalyse zu erlernen, auszuüben und zu verbreiten. Ein Kollege, welcher die gute Wirkung der analytischen Therapie an sich selbst erfahren hatte, gab die Anregung dazu. Man kam an bestimmten Abenden in meiner Wohnung zusammen, diskutierte nach gewissen Regeln. suchte sich in dem befremdlich neuen Forschungsgebiete zu orientieren und das Interesse anderer dafür zu gewinnen." (Freud 1914, S.160).
Das waren die Treffen der sogenannten Psychologischen
Mittwochsgesellschaft, aus der dann die Wiener Psychoanalytische Vereinigung
hervorging. Wichtig ist hier aber nicht die Tatsache der regelmäßigen
Zusammenkunft, sondern der explizit missionarische Ansatz, d.h. die eindeutig
formulierte Aufgabe, die Psychoanalyse zu verbreiten und Interessenten
für sie zu gewinnen. Freuds Ziel, seine Lehre in der ganzen
Welt
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bekanntzumachen und zu etablieren, hoffte er besonders über seine Schüler und Anhänger verwirklichen zu können. Am Anfang waren es nur vier: Alfred Adler, Max Kahane, Rudolf Reitler und Wilhelm Stekel. Allmählich erweiterte sich dieser Kreis und es kamen auch Ausländer hinzu: Carl Gustav Jung aus Zürich, Ernest Jones aus London, Sándor Ferenczi aus Budapest.
Freud lag sehr daran, die Kontakte zu seinen Schülern und Anhängern auszubauen und zu vertiefen. Er widmete ihnen viel Zeit, unternahm ausgedehnte Spaziergänge mit ihnen, lud sie häufig nach Hause zum Mittag- oder Abendessen ein. Mit Sándor Ferenczi z. B. unternahm er sogar auch gemeinsame Urlaubsreisen. Außerdem unterstützte er viele seiner Anhänger auch finanziell, entweder durch Finanzierung ihrer Ausbildung oder durch Überweisung von Patienten. Freud erkannte auch die Wichtigkeit der moralischen Unterstützung. So schrieb er häufig Vorworte zu den Veröffentlichungen seiner Schüler. Alle diese Dinge trugen dazu bei, daß die meisten seiner Jünger in ein Netz von Abhängigkeiten gerieten. Es sei dahingestellt, ob das von Freud beabsichtigt war. Tatsache ist, daß ein großer Teil seiner Schüler und Anhänger Freud rückhaltlos und bis zur Selbstaufgabe unterstützten, ohne auch nur im Geringsten an der Größe und den Fähigkeiten des Meisters zu zweifeln. Hans Sachs, einer der ergebensten Schüler Sigmund Freuds, schreibt z. B. über Inhalt und Anlaß seines Buches ,,Freud, Meister und Freund" folgende bemerkenswerte Sätze:
Doch es gab auch Anhänger Freuds, die ihre Abhängigkeit erkannten und versuchten, aus dem Schatten ihres Lehrers herauszutreten. Besonders im Falle Carl Gustav Jungs war das ein schmerzlicher Prozeß, der beiden Seiten viel psychische Energie gekostet hat. Ich möchte hier aus dem Brief von Jung zitieren, der im Jahre 1912 zum endgültigen Bruch mit Freud geführt hat. In diesem Brief analysiert Jung sehr treffend das Verhältnis, das Freud zu seinen Schülern aufgebaut hat:
Darf ich Ihnen einige ernsthafte Worte sagen? Ich anerkenne meine Unsicherheit Ihnen gegenüber, habe aber die Tendenz, die Situation in ehrlicher und absolut anständiger Weise zu halten. Wenn Sie daran zweifeln, so fällt das Ihnen zur Last. Ich möchte Sie aber darauf aufmerksam machen, daß Ihre Technik, Ihre Schüler wie ihre Patienten zu behandeln ein Mißgriff ist. Damit erzeugen Sie sklavische Söhne oder freche Schlingel... Ich bin objektiv genug, um Ihren Trick zu durchschauen. Sie weisen rund um sich herum alle Symptomhandlungen nach, damit setzen Sie die ganze Umgebung auf das Niveau des Sohnes und der Tochter herunter, die mit Erröten die Existenz fehlerhafter Tendenzen zugeben. Unterdessen bleiben Sie immer schön oben als Vater. Vor lauter Untertänigkeit kommt keiner dazu, den Propheten am Barte zu zupfen und sieh einmal zu erkundigen, was Sie denn zu einem Patienten sagen, welcher die Tendenz hat, den Analytiker zu analysieren anstatt sich selber. Sie fragen ihn doch: ,Wer hat denn eigentlich die Neurose?' Sehen Sie, mein lieber Herr Professor, solange Sie mit diesem Zeug laborieren, sind mir meine Symptomhandlungen ganz Wurscht, denn die wollen gar nichts bedeuten neben dem beträchtlichen Balken, den mein Bruder Freud im Auge trägt. Ich bin nämlich gar nicht neurotisch unberufen!" (Freud/Jung 1974, S.594 f.)
Nach dem Bruch mit Jung suchte Freud sofort nach neuen Formen der Unterstützung der psychoanalytischen Bewegung. Diesmal war es Ernest Jones, Freuds späterer Biograph, der ihm zu Hilfe kam. Schon im Sommer 1912, als die Spannungen zwischen Jung und Freud immer deutlicher wurden, schlug Jones vor,
Was die nächste Zeit auch immer bringen mag, der zukünftige Obmann der psychoanalytischen Bewegung könnte aus diesem kleinen Kreis Männer herauswachsen, in die ich trotz meiner letzten Enttäuschungen über Menschen noch immer alles Vertrauen setze." (Jones 1984, Bd. 2, 5. 187f.).
Ich möchte hier meine Bemerkungen zur Geschichte
der psychoanalytischen Bewegung abbrechen und meinen Vortrag mit einigen
allgemeineren Überlegungen beschließen. Mir scheint, daß
der Charakter der Beziehungen zwischen Freud und seinen Schülern
in der Wissenschaftsgeschichte weniger untypisch ist, als es auf den ersten
Blick den Anschein hat. Es gibt zwar keine anderen wissenschaftlichen Disziplinen,
die sich offen als Bewegung bezeichnen und deren Aktivitäten an die
Praxis von Geheimgesellschaften erinnern; doch steht völlig außer
Frage, daß in jeder wissen
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schaftlichen Schule zwischen Lehrer und Schüler Beziehungen entstehen, die in der Sprache der Psychoanalyse durch die Begriffe ,,Übertragung" und ,,Gegenübertragung" bezeichnet werden. V 0 r Freud sind diese Mechanismen nicht reflektiert worden, da niemand in ihr Wesen eingedrungen war. Erst die Psychoanalyse erkannte, daß bestimmte, in der Regel unbewußte Wünsche und Gefühle im Rahmen eines bestimmten Beziehungstyps an bestimmten Personen aktualisiert werden. Meistens handelt es sich dabei um Projektionen frühkindlicher Einstellungen den Eltern oder anderen wichtigen Bezugspersonen gegenüber. Die Person, auf die solche Gefühle übertragen werden, reagiert mit einer sogenannten Gegenübertragung, die weitgehend durch eigene Komplexe und innere Widerstände bestimmt ist. In einer psychoanalytischen Patient-Therapeut-Beziehung ist nun die Analyse von Übertragung und Gegenübertragung eine der wichtigsten Techniken zur Behandlung von Neurosen. In dem Beziehungstyp Lehrer-Schüler in einer wissenschaftlichen Schule geht es nun zwar nicht um therapeutische Ziele; Übertragung und Gegenübertragung existieren aber ebenfalls. Ihr Einfluß auf die Aktionen und Reaktionen der Beziehungspartner ist aber eher größer, da die hinter ihnen stehenden Wünsche, Ängste und Gefühle in der Regel nicht erkannt werden. Eine Ausnahme bildet eben nur die Schule Freuds. Gerade deshalb war es mir so wichtig, anhand des Verhältnisses zwischen Freud und seinen Schülern die komplizierte und konfliktträchtige Aufarbeitung der Übertragungs-Gegenübertragungs-Beziehung wenigstens anzudeuten. Im Falle von Freud und Jung scheint dem Meister diese Aufarbeitung wesentlich mehr Schwierigkeiten gemacht zu haben als seinem Schüler. Jung hat es geschafft, sich von seinem ,,Vater" Freud zu lösen und selbständig zu werden; Freud dagegen konnte seinen Schüler nicht frohen Herzens in die wissenschaftliche und private Freiheit entlassen.
Zum Schluß sei noch kurz auf das Beispiel einer anderen wissenschaftlichen Schule verwiesen, das ähnlich komplizierte Verhältnisse ahnen läßt: Als Oswald Külpe, ein Schüler Wilhelm Wundts, in Würzburg Theorien aufstellte, die von denen des Begründers der experimentellen Psychologie abwichen, wurden ihm von Wundt ,,Scheinexperimente" unterstellt. Den Versuch der wissenschaftlichen Abnabelung von Wundt mußte Külpe mit der Exkommunikation aus der Gemeinde der Experimentalpsychologen bezahlen. Wundts Schüler, die ihrem Meister die Treue geschworen hatten, gaben schon Jahre vor dem Verdikt über Külpe der Hoffnung Ausdruck, daß Wundt ,,noch viele Jahre . . . als unser hochverehrtes Haupt an unserer Spitze stehen und walten" möge (Philosophische Studien 19, 1902, Vorwort). Das klingt auch eher nach Freimaurerloge als nach nüchternem Wissenschaftsbetrieb, Doch die Wissenschaftsentwicklung braucht diese emotionalen Triebkräfte, andernfalls würde die Theoriendynamik eines wesentlichen Motors beraubt, Daß wir nur in seltenen Fällen Einblick in die Dynamik dieser Triebkräfte bekommen, liegt wohl auch daran, daß die meisten Akteure der Wissenschaftsgeschichte intuitiv beherzigt haben, was Sigmund Freud so ausgedrückt hat:
Literatur
Brun, R. (1936): Sigmund Freuds Leistungen auf
dem Gebiete der organischen Neurologie. Schweizerisches Archiv fuer Neurologie
und Psychiatrie.
37, 200-207.
Freud, S. (1914): Zur Geschichte der psychoanalytischen
Bewegung. In: 5. Freud: ,,Selbstdarstellung". Schriften zur Geschichte
der Psychoanalyse.
Hg. v. I. Grubrich-Simitis.
Frankfurt/
M.: 5. Fischer 1973.
Freud, S. (1925): Selbstdarstellung. In: 5. Freud
,,Selbstdarstellung".
Schriften zur Geschichte der Psychoanalyse. Hg. v. L Grubrich-Simitis.
Frankfurt/M.: Fischer 1973
Freud, S./Jung, C. G. (1974): Briefwechsel. Hg. v. W. McGuire u. W. Sauerlaender. Frankfurt/ M. : Fischer.
Jones, E. (1984): Sigmund Freud. Leben und Werk. 3 Baende. Muenchen: dtv. Sachs, H. (1982): Freud. Meister und Freund. Frankfurt/M.: Ullstein.