»Die Biographen aber sollen sich plagen ...«

Beiträge zum 140. Geburtstag Sigmund Freuds
 
 
 

Herausgegeben von

Christfried Tögel
 
 
 
 
 

Österreichisches Ost- und Südosteuropa-Institut

Sofia 1996

INHALT



 
 
 
 
Vorbemerkung 
5
   
Anton Freud 

Mein Großvater Sigmund Freud 

7
   
Christfried Tögel 

Sigmund Freuds Weg zur Psychoanalyse: 

Von den Geschlechtsorganen des Aals zur Traumdeutung

21
   
[Lydia Marinelli 

Eine fiktive Begegnung: Freud und die Geschichtswissenschaft] 

59
   
Johannes Reichmayr 

Freud und die Linke 

71
   
Michael Molnar 

Freuds »Kürzeste Chronik«: Vorgeschichte einer Anti-biographie

93
   
Helmut Junker 

Freud und die Folgen: Die Internationalisierung der Psychoanalyse

109
   
Nikola Atanassov 

Psychoanalyse in Bulgarien 

123
   
Anhang: Auswahlbibliographie zur Freud-Biographik

(zusammengestellt von Christfried Tögel)

137
   
Die Autoren
151

 
 
 
 

Vorbemerkung

Im Frühjahr 1885 vernichtete Sigmund Freud einen Teil seiner Briefe und Aufzeichnungen und schrieb nach vollbrachter Tat an seine Verlobte Minna Bernays:

Ich kann nicht reifen und nicht sterben ohne die Sorge, wer mir in die alten Papiere kommt. Überdies alles, was hinter dem großen Einschnitt in meinem Leben zu liegen fällt, hinter unserer Liebe und meiner Berufswahl, ist lang tot und soll ihm ein ehrliches Begräbnis nicht vorenthalten sein. Die Biographen aber sollen sich plagen, wir wollen's ihnen nicht zu leicht machen. Jeder soll mit seinen Ansichten über die 'Entwicklung des Helden' recht behalten, ich freue mich schon, wie die sich irren werden. Am 22./23. Juni 1996 versammelten sich nun Freud-Biographen und Historiker der Psychoanalyse in Sofia, um aus Anlaß von Freuds 140. Geburtstag ihre Irrtümer in Form von Vorträgen einem breiteren Publikum vorzustellen. Der vorliegende Sammelband vereinigt einen Teil dieser Vorträge.

Initiatoren der Konferenz waren die Außenstelle des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Institut, deren Direktor Herrn Mag. Klaus Schuch besonderer Dank für sein Engagement gebührt, und das Institut für philosophische Forschung der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften. Co-Sponsoren waren folgende Institutionen: The British Council, The Open Society Fund, der Kulturpalast Sofia und das Goethe-Institut. Allen sein ganz herzlich gedankt!

Während der Konferenz wurde in der Nationalbibliothek »Kiril und Method« eine große Freud-Ausstellung eröffnet, die dank der großzügigen finanziellen Unterstützung der Botschaft der Republik Österreich in Bulgarien vorbereitet werden konnte.

Das Freud Museum in London stellte freundlicherweise die Home Movies zur Verfügung, so daß nach zwei mit Vorträgen angefüllten Tagen die Konferenz mit der Projektion von Filmaufnahmen Sigmund Freuds abgeschlossen werden konnte.

Mein ganz persönlicher Dank gebührt Herrn Anton Walter Freud und seiner Frau Anette, die die Strapazen der Reise nach Sofia auf sich genommen haben und trotz der herrschenden Hitze immer guter Stimmung waren und auch angesichts der vielen Interviewünsche seitens der Massenmedien nie die Geduld verloren haben.
 
 

Christfried Tögel Sofia, im August 1996
 
 
 
 

Anton Freud

Mein Großvater Sigmund Freud

Großvater Freud.

Sehr geehrter Herr Vorsitzender, meine Damen und Herrn!

Zuerst möchten meine Frau und ich uns für den warmen Empfang und für die großzügige Gastfreundschaft bedanken. Bulgarien hat den Ruf ein besonders gastfreundliches Land zu sein. Hitlers Vernichtungspolitik hat in Bulgarien keinen Anklang gefunden! Dieses wird Bulgarien hoch angerechnet.

Um meine Geschichte verständlicher zu machen, muß ich Ihnen einige Daten über mich geben. Das soll nicht bedeuten daß ich in irgendeiner Weise wichtig bin oder mich so fühle. Es soll nicht so sein wie in Frankreich, wo ich nach meinem Namen gefragt wurde. Als ich sagte »Freud«, war die Antwort: »Ah, sie sind ja sehr berühmt hier, sie haben den Kaltwasserhahn erfunden.«

Ich wurde in Wien im April 1921 geboren als der Großvater 65 Jahre alt war. Wie Sie sicherlich Alle wissen, hat sein durch Zigarrenrauchen hervorgerufener Mundkrebs im Jahre 1923 angefangen. Das heißt, daß ich meinen Großvater nur als kranken Mann kannte. Ich kann mich erinnern ihn im Krankenhaus zusammen mit meinem Vater nach einer seiner vielen, ich glaube 33, Operationen besucht zu haben. Er sah damals sehr alt und krank aus. Ich bin jetzt 10 Jahre älter als er damals war.

Mein Vater, Dr. Jean Martin, genannt nach Großvaters Lehrer Charcot, war der älteste Sohn, so wie ich es bin.

Ich habe einige Filme über meinen Großvater gesehen. Die Schauspieler die ihn spielten hatten immer eine normale Figur. In Wirklichkeit war aber der Großvater so dünn wie eine Bohnenstange. Seine Anzüge haben auf ihm geschlottert, da er fast nichts als dünne Suppe essen konnte. Das Essen und auch das Sprechen waren für ihn sehr schwierig und qualvoll. Der obere Teil seines Mundes war ja durch eine Prothese ersetzt. Glücklicher Weise müssen Psychoanalytiker nicht viel sprechen, sie müssen nur gut zuhören können!

Der Großvater hatte zwei Ärzte, die auf ihn aufpaßten. Dr. Max Schur was sein Hausarzt, der ihn die ganze Zeit behandelte. Sein Chirurg was Dr. Hans Pichler, der sich nach dem Anschluß als ein sehr eifriger Nazi entpuppte. Nichtsdestoweniger berichtete Schur, ein Jude, daß Pichler den Großvater immer mit größtem Respekt, Takt, Höflichkeit und Freundlichkeit behandelt hatte. Dasselbe freundliche Benehmen wurde auch Dr. Schur nachgesagt. In September 1938, also nach der Emigration, kam Pichler nach London, um noch eine letzte Operation zu unternehmen. Nach dieser war es nicht mehr möglich, noch etwas wegzuoperieren. Es ist traurig daß so ein feiner und begabter Mensch wie Dr. Pichler sich zu den Nazis bekehrte. Während der Entnazifizierung nach dem Krieg hat Pichler die Behandlung von Großvater als mildernde Umstände seiner Tätigkeit angegeben. Er starb 1949, im Alter von 72 Jahren.

In September 1939, als Großvater starb, war ich reichlich 18 Jahre alt. In England hatte ich ihn, weil ich studierte, viel seltener gesehen als in Wien. In Wien lebten wir am Franz-Josephs-Kai, etwa 5 - 10 Minuten entfernt von der Berggasse 19 wo er lebte. Einer der größten Unterschiede der Lebensweise zwischen Wien und London sind die Entfernungen. In Wien war Alles nah. Alle Verwandten und Freunde konnte man leicht zu Fuß besuchen. In London brauchten solche Besuche Stunden mit dem Auto oder der Bahn. Wenn mein Vater zu Mittag nach Hause ging, und sein Büro war nur ein paar Minuten von uns, im Gebäude der Börse, dann besuchte er zuerst seinen Vater und erst dann kam er zu uns. Am Abend hat er wieder seinen Vater besucht, er war ein besonders anhänglicher Sohn. Er scheint sich in der Berggasse wohler als in seiner eignen Wohnung gefühlt zu haben.

Die Berggasse war, wie der Name sagt, eine steile Straße die vom Donaukanal hinauf führte. Großvater lebte im unteren Teil dieser Gasse. Es war eher eine schäbige Gegend, aber ganz Wien war nach dem ersten Weltkrieg ziemlich verwahrlost. Am unteren Ende der Berggasse beim Donaukanal war der Tandelmarkt, ein sehr heruntergekommener Flohmarkt. Man ist dort nicht stehengeblieben. An dieser Stelle steht jetzt eine große Versicherungsanstalt. Daneben war eine Kaserne, ich glaube die größte in Wien, die es noch gibt. Das Haus Nummer 19 war sehr altmodisch, ohne Aufzug, und es ist in der Zwischenzeit auch nicht modernisiert worden. Für Großvater war es fast wie ein Gefängnis. Die Stufen im Stiegenhaus waren für ihn zu steil, so daß das Ausgehen mit großen Schwierigkeiten verbunden war. Im Sommer hat er sich immer eine Villa in den Vororten beim Wienerwald gemietet. Ich kann mich noch besonders gut an die Villa in Grinzing, in der Strassergasse, erinnern. Ich glaube sie war später die Wohnung von einem hohen Nazi-Boß, möglicherweise von einem Gauleiter. Es war nicht leicht zu verstehen warum der Großvater nicht umzog. Seine Patienten hätten ihn auch in einer mehr praktischen Wohnung aufgefunden. Vor dem ersten Weltkrieg hat der Oberst Redl, der Chef der Österreichischen Spionage, der aber auch für Rußland spionierte, gegenüber Großvater in der Berggasse gewohnt.

Die Berggasse 19 war nicht Großvaters erste Wohnung. Er ist dort erst im September 1891 eingezogen, also als mein Vater 2 Jahre alt war. Die erste Familienwohnung war im Sühnhaus in der Maria-Theresien-Straße. An der Stelle dieses Hauses stand einmal das Ringtheater. Im Jahre 1881, bei einer Aufführung von Offenbachs »Hoffmanns Erzählungen«, während der Szene wo die Studenten um ein Lagerfeuer herumsitzen - damals ein wirkliches Feuer - fing das Theater zu brennen an. Es war mit Gas beleuchtet, welches abgedreht wurde. In der Finsternis brach eine Panik aus, bei der sehr viele Leute, 384, ums Leben kamen. Seit dieser Zeit gibt es in allen Theater einen eisernen Vorhang, der vor jeder Aufführung ausprobiert werden muß. Der Kaiser Franz Joseph baute an der Stelle des Theaters das sogenannte Sühnhaus. Die Wohnungen in diesen Haus waren aber schwer zu vermieten und daher billig. Großvater war nicht Abergläubisch und ist dort nach seiner Hochzeit 1886 eingezogen. Seine Tochter Mathilde war das erste Kind, welches im Sühnhaus geboren wurde, und der Kaiser hat ein diesbezügliches Telegramm geschickt. Aberglaube oder nicht, im zweiten Weltkrieg wurde das Haus von Bomben getroffen und existiert nicht mehr.

Wir, meine jüngere Schwester und ich, haben die Großeltern an Sonntagen besucht. Wir wurden gestiefelt und gespornt, und so gegen Mittag brachte uns das Fräulein in die Berggasse. Später konnten wir natürlich alleine gehen. Die Großmutter und Tante Minna, ihre Schwester, haben uns empfangen. Manchmal waren noch andere Gäste anwesend, zum Beispiel Onkel Alexander, Großvaters Bruder, oder Alexanders Sohn Harry. Einmal war eine Dame, ein Flüchtling aus Deutschland, eingeladen. Sie stand am Fenster und sah eine Truppe von österreichischen Soldaten in der Berggasse vorbeimarschieren. Da sagte sie zur Großmutter: »Aber unsere SA marschiert besser!« Ich glaube diese Dame wurde nicht wieder eingeladen.

Genau um eins kam der Großvater aus seinem Arbeitszimmer, er arbeitete jeden Tag, und bald darauf kam die Suppe aus der Küche. Großvater hatte, wie schon erwähnt, Schwierigkeiten mit dem Essen, und mochte keine Zuschauer, für die es auch peinlich gewesen wäre. Taschengeld wurde verteilt, unser Fräulein dabei nicht vergessen, und wir nahmen unseren Abschied.

In den letzten Jahren, als ich schon etwas erwachsener war, 16 oder 17 Jahre alt, besuchte ich die Berggasse auch manchmal alleine, nach dem Nachtmahl. Großvater hatte eine Kartenpartie, zu der auch mein Vater gehörte. Sie spielten »Königsrufen« eine Art Tarock. Der Ansager in diesen Spiel ruft »ich spiele mit dem, z.B. Herz-König«. Nur der Besitzer von diesem König weiß am Anfang wer sein Partner ist. Erst im Laufe des Spiels wird klar wer mit wem spielt. Ich durfte manchmal kiebitzen, hätten wir länger in Wien gelebt, dann hätte ich große Hoffnungen gehabt, Mitglied dieser Kartengesellschaft zu werden.

Obwohl vieles von dem Folgenden Ihnen bekannt sein dürfte, möchte ich etwas über die anderen Familienmitglieder sagen. Großvater hatte sechs Kinder, 3 Buben und 3 Mädel, alle innerhalb von 8 Jahren geboren. Die arme Großmutter! Die älteste war Mathilde, sie heiratete Robert Hollitscher. Sie war, wie viele Erstgeborenen in großen Familien, sehr herrisch und anspruchsvoll. Sie war eine sehr gute und kluge Geschäftsfrau. Ihr österreichisches Dienstmädchen, Ernestine Maresch, die mit ihr nach England ausgewandert war, starb Anfang Mai diesen Jahres in London. In ihrer Jugend hatte meine Tante eine Blinddarmentzündung. Wegen der notwendigen Operation konnte sie keine Kinder haben. Ihr Mann Robert Hollitscher war ein Kaufmann, der Honig und Seide nach Wien importierte. In Wien verbrachte er die meiste Zeit im Kaffeehaus beim Schachspiel. Zu jener Zeit scheint dies die Hauptbeschäftigung der Wiener Bourgeoisie gewesen zu sein. Er war ein schrecklicher Pessimist, der immer das Schlimmste voraussagte. Als der Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo ermordet wurde, hat Onkel Robert prophezeit »Das heißt Krieg«. Als Hitler in Deutschland die Macht ergriff, sagte er: »Er kommt auch nach Österreich!« Großvater sagte: »Wir leben wirklich in einer schrecklichen Zeit in der Onkel Robert immer recht hat.«

Mein Vater war das nächste Kind. Von den 6 Kindern hatte er am meisten an seinen Eltern gehangen. Er war als einjährig Freiwilliger im Ersten Weltkrieg, zuerst an der russischen, später an der italienischen Front. Er bekam einige hohe Auszeichnungen. In Österreich hatte er ein sehr gutes und angenehmes Leben. Sein Vater hat ihm die Entwicklung leicht gemacht. In Winter fuhr er Ski, und er hat mich einige Mahle mitgenommen. Ich kann mich gut an Davos, die Tauernpaßhöhe, die Schmittenhöhe und noch an einige andere Orte erinnern. Er war ein begeisterter Skiläufer. Im Sommer fuhr er mit dem Faltboot. So ein Boot ist zerlegbar. Man konnte es in 3 Rucksäcken unterbringen. Man fuhr mit der Bahn Strom aufwärts, setzte das Boot zusammen und paddelte dann zurück. Diese Boote waren wie Eskimokajaks gebaut und wasserfest. Auch zu solchen Ausflügen wurde ich manchmal mitgenommen.

In England hatte mein Vater Schwierigkeiten. In Wien hatte er Jura studiert, was in England unbrauchbar war. Er war 49 Jahre alt, am Ende des Krieges 56, und an die Hilfe seines Vaters gewöhnt. Seine Geschwister Mathilde, Anna und Ernst haben ihm, meiner Meinung nach, nicht sehr geholfen. Er versuchte einige Sachen, nicht mit großem Erfolg, hatte aber trotzdem ein angenehmes Leben in einem schönen Teil Londons. Er starb, wie seine Brüder, im Alter von 78.

Nach Martin kam wieder ein Sohn, Oliver. Er war nach Oliver Cromwell genannt worden, dem englischen Staatsmann, der im 17. Jahrhundert die Juden wieder nach England hereinließ. Wenn das nicht prophetisch war, dann weiß ich nicht was prophetisch ist! Ich kannte Onkel Oli kaum. Er lebte in Berlin, später in Paris, Nizza, und Amerika. Ich habe in nur ein paar Mal in meinen Leben getroffen. Er hatte ein großes Unglück mit seiner Tochter Eva. Er und seine Frau sind von Frankreich nach Spanien über die Pyrenäen geflohen. Der erste Versuch scheiterte. Beim zweiten, erfolgreichen Versuch wollte die Tochter nicht mehr mit, sie wollte unbedingt in Frankreich bleiben. Sie lebte in Nizza, welches damals unter italienischer Hoheit stand. In 1944 hat meine 20-jährige Cousine eine Blutvergiftung bekommen, an der sie nach der Befreiung Nizza gestorben ist. Sie war das einzige Kind.

Onkel Ernst, der nächste Sohn, konnte man wirklich den »Glücklichen« nennen. In der österreichischen Armee im ersten Weltkrieg hatte er eine Stellung als Lehrer in der Artillerie-Schule in Triest. Er war damals Anfang reichlich zwanzig Jahre alt. Nach dem Krieg studierte er Architektur in München. Das war zur selben Zeit, als Hitler dort aktiv wurde. Er fand ein sehr reiches, bildschönes, gescheites und nettes Mädchen, das er heiratete und ihm bald drei Buben gebar. Einer von diesen Cousins ist der bekannte Maler Lucian Freud. Ernst war einer der Ersten der von Berlin schon in 1933 nach England auswanderte. Dort wurde er ein angesehener Architekt und starb in alter von 78 Jahren. Als wir Österreicher in Mai-Juni 1938 in England eintrafen hat er und seine Frau, Tante Lucie, uns Allen sehr geholfen. Ich habe sogar bei ihm für einige Zeit gewohnt. Wir waren eine große Partie. Die Großeltern, die Tanten Anna und Minna, Frau Dr. Stroß (Großvaters Doktor, da Dr. Schur wegen einer Blinddarmentzündung in Wien bleiben mußte), das Dienstmädchen Paula, die beiden Hollitschers mit ihrem Dienstmädchen Tini, mein Vater und ich (meine Mutter und Schwester waren in Paris geblieben), mein Cousin Ernst Halberstadt, Onkel Alexander mit Frau und Sohn, also mindestens 15 Personen, und ich habe sicherlich einige vergessen. Onkel Ernst hat Alles getan um uns in England einzuführen. Er selbst hatte ja nur einen Vorsprung von reichlich vier Jahren.

Wir hatten noch einen anderen Verwandten in England, den 1909 aus Hamburg eingetroffenen Cousin meiner Großmutter, Oskar Philipp (Großmutters Mutter und Oskars Vater waren Geschwister). Dieser wurde grade noch vor dem ersten Weltkrieg eingebürgert und machte eine große Karriere in England. Zu dieser Zeit war er Vorsitzender der Londoner Metallbörse. Was aber die Hilfe für die neuangekommenen Verwandten betraf, so war diese auf ein Mittagessen begrenzt, zur großen Enttäuschung meines Vaters.

Nach Ernst kam eine Tochter, Tante Sophie. Ich kannte sie nicht da sie noch vor meiner Geburt im Jahre 1920 an der spanische Grippe in Hamburg starb. Sie war damals schwanger mit ihrem dritten Kind, und alle schwangeren Frauen die von der spanischen Grippe heimgesucht wurden starben. Man sagt, sie sei die Lieblingstochter von Großvater gewesen. Sie heiratete einen entfernten Hamburger Verwandten, Max Halberstadt. Sie hatte 2 Söhne, einer von ihnen, Wolfgang Ernst, 82 Jahre alt, lebt noch. Der andere, Heinz starb in zartem Alter an Tuberkulose. Tante Mathilde wollte den mutterlosen Neffen adoptieren, aber er starb vorher.

Das letzte Kind war Tante Anna. Sie wurde zum »wichtigsten« Kind und zur Erbin von Großvater. Ich werde über sie noch sprechen.

Gewöhnliche Kaiser und Könige haben nur einen Hof. Großvater hatte zwei. Es gab eine Überlappung, besonders privilegierte Teilnehmer eines Hof konnten auch dem anderen Hof angehören, aber im großen und ganzen hatten die zwei Höfe separate und distinktive Identitäten. Der erste Hof war der psychoanalytische. Da ich kein Psychoanalytiker bin, will ich nicht die Namen und Wichtigkeit der verschiedenen Höflinge aufzählen. Ich bin sicher daß Sie die Nahmen der meisten gut kennen, angefangen von Josef Breuer, Alfred Adler, Max Kahane, Wilhelm Stekel und so weiter. Das war um die Jahrhundertwende herum, lange vor meiner Zeit. Apropos, der Enkel von Josef Breuer, Georg Breuer, diente mit mir in derselben englischen Armeeinheit. Mit Ausnahme von Ernest Jones kannte ich keinen. Seltsamerweise war die zweite Ehefrau von Dr. Jones, Katherina, später Patientin meiner Tochter. Mein Vater, der damals der Direktor des Internationalen Psychoanalytischen Verlag war, wußte natürlich genau Bescheid über die Tätigkeiten dieses Hofs und diskutierte darüber am Mittagstisch. Ich hatte als Teenager andere Interessen, ich kann mich nur an wenig erinnern. Aber Carl Jung hatte bei uns keine gute Presse!

Der zweite Hof gehörte Großvater Privatleben. Man braucht kein Galileo zu sein, um zu bemerken, daß auch dieser um Großvater kreiste. I will nur die Personen erwähnen, die ich persönlich gut kannte. Der hellste Stern dieses Hofes war die Großmutter. Sie hielt die große Familie zusammen. Einige Biographen von Großvater, nicht aber Ernest Jones, bezeichneten die Großmutter geringschätzig als 'nur eine Hausfrau'. Sie war tatsächlich nur eine Hausfrau, hat sich nie in die Theorien ihres Mannes eingemischt, aber ohne sie hätte der Großvater nicht die Zeit oder Gelegenheit gehabt sein Werk in Ruhe zu entwickeln. Die Wohnung in der Berggasse hatte 12 Zimmer. Elf Leute haben dort gewohnt, die Großeltern, Tante Minna, 6 Kinder und mindestens 2 Dienstboten. Alles das wurde von der Großmutter geführt und organisiert, so daß der große Haushalt wie am Schnürchen lief. Der Großvater hätte keine Zeit gehabt, seine Bücher zu schreiben wenn er sich mit häuslichen Pflichten hatte beschäftigen müssen (Sigi, du hast wieder vergessen die Gemüserechnung zu bezahlen!) Großmutter war nur eine Hausfrau, aber eine ganz unentbehrliche für die Geburt der Psychoanalyse.

Das nächste Mitglied des Privathofes war Tante Anna, die später auch zum psychoanalytischen Hof gehörte. Wie Tausende anderer weiblicher Babys hatte sie ihr Geburtsdatum, Dezember 1895 schlecht ausgesucht. Als sie im heiratsfähigen Alter war und sich nach einem Mann hätte umschauen können, vielleicht einen Freund ihrer 3 Brüder, hatten diese anderes zu tun als an Heirat zu denken. Die ganze männliche österreichische Jugend war im Krieg, von dem sehr viele nicht zurückkehrten. Mein Vater hat mir erzählt, wie viele von seinen Freunden gefallen sind. Einer war sein bester Freund, mit dem er immer vor dem Krieg Skilaufen gegangen war und der ihm einmal bei einen Unfall das Leben gerettet hatte. Die arme Tante Anna wurde Lehrerin, blieb zu Hause und wurde mehr und mehr von ihren Vater beansprucht. Als ich sie kennenlernte war sie Ende dreißig, und man hatte das Gefühl daß sie nicht mehr auf eine Heirat erpicht war. Ihr ganzes Leben war ihrem Vater gewidmet, als Sekretärin, Krankenschwester, Schülerin und Erbin.

Mein Vater, der ergebene Sohn, war das nächste Mitglied des Privathofes. Wie ich schon erwähnt habe, war er sehr von seinem Vater abhängig. Er hätte nie etwas gegen Papas Wunsch getan. Seine zwei Brüder haben das Familiennest verlassen, wahrscheinlich nur, um dem starken Einfluß ihres Vaters zu entkommen. Mein Vater dachte nicht daran. Er hing viel zu sehr an seinen Eltern.

Das nächste Mitglied des Privathofes war Tante Minna, die jüngere Schwester der Großmutter. Ich hatte kein persönliche Verhältnis zu ihr. Im Gegensatz zu ihrer Schwester hatte sie zu meiner Zeit bereits ihre gute Figur verloren. Sie schien nicht sehr nützlich zu sein und war sehr mit ihrer Kakteensammlung beschäftigt. Doch muß irgendeinen Nutzen muß sie doch gehabt haben, denn sonst hätte die Großmutter sie nicht in der Berggasse geduldet. So weit ich mich erinnere, habe ich nie ein ernsthaftes Gespräch mit ihr geführt.

Großvaters jüngerer Bruder, der ihm sehr nahe stand, Onkel Alexander, war ein zu starke Persönlichkeit, um ein guter Höfling zu sein. Ein Höfling darf keine eigene Meinung haben. Alexander hatte eine Zeitung gegründet, den Tarifanzeiger, der die Kosten und besten Wege der Güterbeförderung veröffentlichte. Wollte jemand Schafe von Sofia nach Australien schicken, so fand er die Kosten in dem Tarifanzeiger; Holz von Rußland nach Ägypten, Salz von Salzburg nach Tibet, Pelze von Kanada nach Cape Town, eine Droschke vom Stephansplatz bis zum Prater, alles stand im Tarifanzeiger.

Die Burlingham-Familie gehörten auch zum Privat-Hof, insbesondere die Mutter Dorothy. Sie waren reiche Amerikaner, deren Vater Selbstmord verübt hatte. Sie suchten Hilfe beim Großvater, und um immer in seiner Nähe zu sein zogen sie auch in die Berggasse 19 ein. Dorothy und Tante Anna blieben ihr ganzes Leben Freunde und nach dem Tod der Großmutter 1951 lebten beide in Maresfield Gardens, Großvaters Londoner Heim. Es ist heute das Freud Museum.

Durch den persönlichen Hof hatte Großvater 4 Frauen die sich um ihn sorgten und kümmerten. Es waren die Großmutter, seine Schwägerin Tante Minna, seine Tochter Anna und Paula Fichtl, das langjährige Dienstmädchen, das noch mit uns aus Wien gekommen war. Nur wenig Männer haben das Glück so gut aufgehoben zu sein!

Die Großmutter, Frau Professor, hatte ich sehr gerne und ich verstand mich mit ihr sehr gut. Ich glaube auch daß ich ihr sehr nahe stand. Sie hatte ja nur 3 ihrer Enkeln in Wien, die anderen 4 lebten im Ausland. Ein oder zwei mal im Jahr nahm die Großmutter mich mit zum Einkaufen. Wir gingen in das große Kaufhaus Neumann in der Kärntner Straße (es existiert heute nicht mehr), und ich bekam wurde wie eine Braut neu eingekleidet. Das wichtigste Kleidungsstück waren die Lederhosen. Jeder Schulbub war sehr stolz auf seine Lederhosen, und ich war keine Ausnahme. Als ich 1994, also vor 2 Jahren, zum ersten Mal wieder Wien besuchte war ich erstaunt, daß es keine Lederhosen mehr gibt. Diese waren ein besonders zweckmäßiges Kleidungsstück, speziell für junge Burschen.

Die Großmutter nahm kein Blatt vor den Mund, wenn ihr etwas nicht gepaßt hat, dann sagte sie es gleich und ohne rancour. Man wußte genau wie man mit ihr stand.

Als Großvaters Mutter noch lebte, sie starb erst in 1930 in hohem Alter, war der sonntägliche Familientreffpunkt bei ihr. Ich kann mich noch recht gut an sie erinnern, ich war 9 Jahre alt. Sie lebte in einer dunklen Wohnung, ich weiß nicht mehr wo, aber höchstwahrscheinlich im II., im jüdischen Bezirk. An Besuchstagen war sie von 4 ihrer 5 Töchter umgeben, wie eine Henne von ihren Küken. Die nichtanwesende Tochter Anna, die älteste Schwester von Großvater, war nach Amerika ausgewandert, als Gattin des Bruders von der Großmutter. Die 4 anderen sind nicht ausgewandert, und haben ihr Leben in verschiedenen Konzentrationslagern. Eine von diesen hatte ihren einzigen Sohn im ersten Weltkrieg an der italienischen Front verloren. Aber auch das hat ihr nicht geholfen. Die Tochter der dritten Schwester, nahmen Marie, genannt Mitzi, wurde auf eine recht ungewöhnliche Art berühmt. Mitzi heiratete einen entfernten Verwandten Moritz Freud. Sie lebten in Berlin, wo er Teppichhändler war und einer seiner Teppiche bedeckte die Couch von Großvater. Mitzi und Moritz hatten 2 Töchter, die jüngere hieß Lilly, geboren im November 1888. Sie heiratete den Schauspieler Arnold Marlé in Juli 1918. Vor ihrer Heirat was sie mit einem Berliner Librettist nahmen Hans Leip befreundet. 1915 wechselte sie das Objekt ihrer Zuneigung von Leip zu Marlé, ihrem zukünftigen Mann. Leip war sehr getroffen und enttäuscht, und um sich zu rächen schrieb er sein später sehr bekanntes Lied, Lilly Marleen.

Vor der Kaserne

vor dem Großen Tor

stand eine Laterne

und stand sie noch davor. usw.

Das heißt er hat sie als Soldatenhure bezeichnet, und um nicht in Schwierigkeiten zu kommen hat er den Namen ein »en« angehängt. Meine Großcousine Lilly hat immer behauptet, daß sie die Lilly Marleen war, aber man hat es ihr nicht glauben wollen. Erst Nachforschungen bei Hans Leip haben die Wahrheit ergeben, er gab zu daß er die Lilly Marlé »gut gekannt hatte«!. Komisch daß so viele deutsche Soldaten ein Lied von einer jüdischen Nichte Freuds gesungen haben.

Im Gegensatz zu den vier ermordeten Schwestern ging es Anna, der Ältesten, sehr gut in Amerika. Wie schon gesagt, hatte sie den Bruder von der Großmutter, Eli Bernays geheiratet. Eli war in Wien nicht erfolgreich gewesen, und um 1890 herum wanderte er nach Amerika aus. Großvater hat von seinen Freunden Geld gesammelt, um die Auswanderung zu ermöglichen. In Amerika wurde er sehr erfolgreich, doch sein Sohn Edward, noch in Wien geboren, übertrumpfte ihn noch. Edward wurde der Vater der Public Relations, sehr erfolgreich, berühmt und reich. Er war sehr hilfsbereit und hat seine Familie immer unterstützt. Als z.B. meine Schwester Sophie in der Mitte des 2. Weltkrieges, nach einer sehr langen und abenteuerlichen Emigration in Amerika ankam, zahlte Edward für ihr Studium in einer der besten amerikanischen Universitäten. Ich weiß nicht ob ich ähnlich großzügig gegenüber einer Tochter eines Cousins sein würde! Edward starb erst vor kurzer Zeit, im Alter von über 100 Jahren.

Die Hauptfesttage der Familie waren die Geburtstage, besonders Großvaters Geburtstag, da wir weder die jüdischen noch die christlichen Festtage feierten. Wir hatten aber fast immer einen Weihnachtsbaum für das christliche Hauspersonal. Ich kann mich noch an Großvaters 70., 75. und 80. Geburtstag erinnern, am 6. Mai 1926, 1931, und 1936; sie sind allerdings in meiner Erinnerung ein wenig vermischt. Es gab immer viele Blumen, Geschenke und Gäste. Es war bei so einer Gelegenheit daß ich zum ersten Mal Ananas sah. 1926 füllte die Neue Freie Presse, Österreichs beste Zeitung, eineinhalb von ihren 20 Seiten mit Artikeln über den Großvater. Keinem anderen Ereignis wurde nur annähern soviel Platz eingeräumt. Professor Paul Schilder und Stefan Zweig schrieben über ihn. Der 75. Geburtstag war in dem Katastrophenjahr 1931. Die Wiener Creditanstalt schloß ihre Türen 2 Tage später. Die Nazi Partei wurde zur zweitstärksten in Deutschland. Großvaters Krebs wurde immer schlimmer. Es war wirklich ein Geburtstag mit einem traurigen Hintergrund. Trotz der schlechten politischen Lage, oder vielleicht gerade deswegen, fand die Neue Freie Presse wieder Platz auf ihren Seiten, um den Großvater zu ehren. Professor Pötzl und Professor Gomperz hielten Reden. Das Geburtstagskind hatte aber wegen einer Operation 2 Wochen lang nichts essen können uns sah aus wie aus Belsen.

An Großvaters 80. Geburtstag im Jahre 1936 hielt Thomas Mann eine Ansprache. Leider war Großvater nicht mehr gesund genug um teilnehmen zu können. Ich glaube, daß er von der österreichischen Regierung ein Ehrenzeichen erwartete, wie zum Beispiel das »Österreichische Ehrenkreuz für Kunst und Wissenschaft«. Ernst Brücke, seinem bewunderten ehemaligen Mentor und Lehrer war einst diese Ehre zuteil geworden. Aber das war zu viel verlangt von der streng katholischen österreichischen Regierung. Der Ödipuskomplex und der Sohn Gottes paßten nicht zusammen!

Ich glaube das ist eine gute Gelegenheit etwas über die jüdische Bevölkerung von Wien zu sagen. Etwa 10% der Einwohner waren Juden. Viele von ihnen waren in den freien Berufen: Ärzte, Zahnärzte, Anwälte, Journalisten, andere wieder waren im Bankwesen und in der Industrie tätig. Es gab eine inoffizielle, aber nichtsdestoweniger sehr scharfe soziale Trennung zwischen Juden und Nichtjuden. Die Apartheid war so scharf wie im Südafrika vor Mandela, nur gab es dafür keine Regeln oder Vorschriften, es war freiwillig von beiden Seiten. Wenn man über jemand unbekannten sprach, dann war die erste Frage immer: Jude oder Nichtjude? In den meisten Fällen war es ja eindeutig, Zweifelsfälle wurden sofort geklärt. Großvater hat selbst berichtet daß er kaum einen nicht-jüdischen österreichischen Freund oder Bekannten hatte, seine arischen Freunde waren alle Ausländer wie Ludwig Binswanger, Osker Pfister, Ernest Jones, die Prinzessin Bonaparte. Meiner Meinung nach legte Großvater so großen Wert auf Carl Jung weil er der erste nicht-jüdische Anhänger der Psychoanalyse war, der sogenannte Paradegoi. Meine Erfahrungen war dieselben. Ich bin 11 Jahre lang in Wien in die Schule gegangen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals bei einem nicht-jüdischen Schulkollegen eingeladen gewesen zu sein oder einen solchen zu Hause eingeladen zu haben. Soweit ich weiß war ich niemals in einer Wiener nicht-jüdischen Wohnung. Ich war einmal mit meinem Vater Skilaufen auf der Schmittenhöhe. Dort trafen wir eine Mutter mit ihrer mit mir etwa gleichaltrigen Tochter, mit der ich einen kleinen und ganz unschuldigen Flirt hatte. Das war so ungewöhnlich mit einen nicht-jüdischen Mädchen daß ich mich jetzt, nach 60 Jahren, noch an den Namen Falkensammer erinnern kann! Ich möchte aber betonen daß ich mich kaum an einen persönlichen und öffentlichen Antisemitismus vor 1938 erinnern kann. Natürlich ist man dem aus dem Weg gegangen, man hat zum Beispiel nicht Lokale aufgesucht wo die Nazis sich versammelten. Fast alle unserer Klassenlehrer waren nach 1933 »illegale« Nazis, aber sie haben sich gegenüber ihren jüdischen Schüler meistens anständig benommen. Großvater hat fast 80 Jahre in Wien gelebt und hat nur von 2 oder 3 antisemitischen Anpöbeleien berichtet. Nur die Wiener Universität war eine Ausnahme, und mein Vater war einmal ein Opfer einer Messerstecherei.

Das Apartheidregime in Afrika gab der nichtweißen Bevölkerung ein Gefühl der Minderwertigkeit. Meiner Erfahrung nach hatten die Wiener Juden dies nicht. Im Gegenteil, sie fühlten sich als eine Elite und waren sehr stolz auf sich.

Wenn man etwas Geld hatte, konnte man vor 1938 in Österreich sehr gut leben, ob nun als Jude oder Nichtjude. Ohne Geld mußte man aber hungern! Die Landschaft war wunderschön, und die Vergnügungen billig. Es war kein Wunder daß der Großvater sich lange weigerte dieses Land zu verlassen. Nicht einmal der Autor der »Traumdeutung« konnte es sich träumen lassen was einmal dort geschehen würde!
 
 

Christfried Tögel

Sigmund Freuds Weg zur Psychoanalyse:

Von den Geschlechtsorganen des Aals zur Traumdeutung
 
 

Im Frühjahr 1884 schrieb Sigmund Freud an seine Verlobte Martha Bernays die folgende Sätze:

Und Himmel, Weibchen, bist Du arglos und gutmütig! Merkst Du nicht, daß diese Wissenschaft unser ärgster Feind werden kann, daß der unwiderstehliche Reiz ohne Entgelt und Anerkennung sein Leben für die Lösung irgendwelcher für unser beider persönliches Befinden irrelevanter Probleme zu verwenden, unser Zusammenleben aufschieben und aufheben kann, wenn ich, ja wenn ich die Besonnenheit verliere? Nun damit wird's nichts, ich bin kraftvoll beisammen und gedenke die Wissenschaft auszubeuten, anstatt mich zu ihren Gunsten ausbeuten zu lassen. Diese »Ausbeutungshaltung« kam nicht von ungefähr, sondern hat ihre Wurzeln in der Biographie Sigmund Freuds, in einer Reihe von Faktoren seiner Herkunft, Kindheit und Jugend, die in ihrem Zusammenspiel auch zu dem machtvollen Antrieb geführt haben, etwas Besonderes zu leisten. Etwa zwei Jahrzehnte lang hat sich das Objekt dieses Antriebs ständig gewandelt: Gerade war er noch auf die Philosophie gerichtet, schon geht er den Geschlechtsorganen des Aals nach; die Untersuchung des Baus von Nervenfasern und Nervenzellen weicht den Selbstversuchen mit Kokain; und der Rauschdroge wiederum läuft das Interesse an Hysterie und Hypnose den Rang ab. Erst Mitte der Neunziger Jahre hat Freuds Suche ihr endgültiges Ziel gefunden: Die Psychologie des Unbewußten.

Als Sigmund Freud die Traumdeutung, sein erstes großes psychoanalytisches Werk, veröffentlichte, war er 44 Jahre alt und hatte die Mitte seines Lebens bereits überschritten. Die Liste seiner Veröffentlichungen umfaßte zu diesem Zeitpunkt immerhin fast 150 Arbeiten, darunter 4 Monographien. Die Psychoanalyse ist also nicht vom Himmel gefallen, sondern das Produkt eines reifen Mannes, der sich schon auf anderen Gebieten der Wissenschaft einen Namen gemacht hatte.

Ich möchte nun versuchen, Ihnen einen Eindruck von den Triebkräften und Einflüssen zu vermitteln, die Freuds fast zwei Jahrzehnte währende wissenschaftliche Suche unterhalten haben. Im Mittelpunkt meines Vortrags wird dabei nicht die innere Logik der wissenschaftlichen Entwicklung stehen, sondern das Wechselspiel von Hoffnungen und Enttäuschungen, das erst mit der Niederschrift der Traumdeutung, d.h. mit der Begründung der psychoanalytischen Theorie ein Ende fand.

Sigmund Freud wurde am 6. Mai 1856 in dem kleinen mährischen Städtchen Freiberg geboren. Sein Vater Jakob, ein Wollhändler, in der dritten Ehe mit der um 20 Jahre jüngeren Amalie verheiratet, verließ 1859 aus bisher nicht eindeutig geklärten Gründen mit seiner Familie Freiberg, um nach einem Zwischenaufenthalt von etwa einem halben Jahr in Leipzig, sich 1860 in Wien niederzulassen. Im Herbst 1865 wird Sigismund - so nennt er sich bis Mitte der 70er Jahre - in das Leopoldstädter Real- und Obergymnasium aufgenommen. Nach mit »vorzüglich« bestandener Matura entschließt er sich 1873 an der Universität Medizin zu inskribieren.

Spätestens seit dem Beginn seiner Studienzeit träumte Freud davon, in der Rangreihe der Gelehrten seiner Zeit einmal ganz oben zu stehen. Auf welchem Gebiete der Wissenschaft dieser Aufstieg stattfinden sollte, war für ihn viele Jahre offen. Nachdem eindeutig feststand, daß es die Medizin sein würde und Freud auch schon einige Erfahrungen gesammelt hatte, formulierte er seinen machtvollen Drang in einem Brief an seine Verlobte folgendermaßen:

Ich weiß ... , daß ich unter günstigen Bedingungen mehr leisten könnte als Nothnagel, dem ich mich weit überlegen glaube, und daß ich vielleicht Charcot erreichen könnte. Das ist kein besonders bescheidenes Ziel, war doch Hermann Nothnagel immerhin einer der bekanntesten Ärzte seiner Zeit und Jean-Martin Charcot galt als führender Neuropathologe Europas. Freuds Anspruch zeugt von einer gehörigen Portion Ehrgeiz und erheblichem Selbstbewußtsein, zwei Charakterzüge, die sich nicht erst in den 80er Jahren herausgebildet haben, sondern die Freud schon seit seiner Gymnasialzeit kultiviert hat. In diesem Zusammenhang bekennt er seiner Verlobten: Es gab eine Zeit, in der ich nichts anderes als wißbegierig und ehrgeizig war und mich Tag für Tag gekränkt habe, daß mir die Natur nicht in gütiger Laune den Gesichtsstempel des Genies, den sie manchmal verschenkt, aufgedrückt hat. Liest man nun die Stellen in Freuds Briefen und Werken, die etwas mit Ehrgeiz - sei es seinem eigenen oder dem Phänomen im allgemeinen - zu tun haben, so fällt auf, daß es gewisse Widersprüche zwischen verschiedenen Äußerungen zu verschiedenen Zeiten gibt.

In den Briefen der 80er Jahre erweckt Freud den Eindruck, als habe er nur temporär Ehrgeiz besessen und sei von diesem »Übel« bald geheilt worden. Es finden sich fast klagende Formulierungen wie: »Aber ich bin so wenig ehrgeizig« oder »Mein Ehrgeiz bescheidet sich, in einem langen Leben etwas von der Welt verstehen zu lernen ... «

Im Gegensatz zu dieser Tendenz steht die Deutung einer Reihe von Freuds eigenen Träumen und Fehlleistungen in der Traumdeutung und der Psychopathologie des Alltagslebens. Da fallen Worte wie »krankhafte[r] Ehrgeiz«, »Größensehnsucht« und es findet sich Freuds vorsichtiges Eingeständnis: »Vielleicht habe ich auch wirklich Ehrgeiz besessen.« Mit diesen wenigen Zitaten sollte nur angedeutet werden, daß Freuds Einstellung zu seinem eigenen Ehrgeiz von Ambivalenz geprägt ist, und es für ihn nicht immer einfach war, diesen Charakterzug anderen oder auch sich selbst gegenüber einzugestehen. Doch welche Entwicklungen und Umstände haben zu Freuds Ehrgeiz geführt?

Als erster wichtiger Faktor muß hier Freuds jüdische Herkunft erwähnt werden. Die Emanzipationsgesetzgebung in der Habsburger Monarchie hatte die gesellschaftliche Gleichstellung der Juden ermöglicht, allerdings um den Preis der Aufgabe ihrer Religion und Tradition. Den gleichzeitig wieder erstarkende Antisemitismus bekam Freud wohl schon als Kind zu spüren. Und spätestens seit den ersten Semestern an der Wiener Universität ist er auch direkt mit judenfeindlichen Tendenzen konfrontiert worden. Einige Zeit lang hat er versucht, die scheinbaren oder auch wirklichen Nachteile des eigenen Judentums durch deutsch-nationale Aktivitäten innerhalb des Lesevereins der deutschen Studenten in Wien zu kompensieren, doch spürte er bald, daß auf der einen Seite der dauerhafte Erfolg solcher Kompensationsmechanismen recht zweifelhaft ist, und auf der anderen aber die Tatsache der Zugehörigkeit zum Judentum mobilisierend wirkt. Im Jahre 1907 schreibt Freud rückblickend an Karl Abraham:

... daß Sie es als Jude schwerer haben, wird wie bei uns allen die Wirkung haben, all Ihre Leistungsfähigkeit zum Vorschein zu bringen. Auch wenn Freud zur Zeit seines Studiums diesen Zusammenhang noch nicht in aller Klarheit gesehen haben wird, so ist doch seine jüdische Herkunft zu einem der entscheidenden Faktoren für die Entwicklung seines außergewöhnlichen Ehrgeizes geworden. Dieser Ehrgeiz hat leistungs- mobilisierend gewirkt und entscheidend dazu beigetragen, daß Freud fast zwei Jahrzehnte lang mit immer neuer Energie nach einem wissenschaftlichen Gegenstand suchen konnte, dessen Bearbeitung ihm schließlich das befriedigende Gefühl geben konnte, einmal zu den ganz großen Geistern der Wissenschaft gezählt zu werden.

Den zweiten wichtigen Faktor sehe ich in der finanziellen Lage des jungen Freud. Bis heute ist nicht klar, wovon Freuds Vater Jakob eigentlich lebte, nachdem er Freiberg verlassen hatte und womit er seine Familie ernährte. Die ohnehin nicht besonders rosige finanzielle Situation während der Freiberger Zeit hat sich aber wohl in Leipzig und Wien kaum wesentlich verbessert. Jedenfalls hat Freud lange unter der angespannten wirtschaftlichen Lage seiner Familie gelitten.

Joseph Paneth schreibt im Jahre 1883 im Manuskript seiner Vita Nuova über Freud:

Aus armem Hause stammend, aber mit großer Energie und entschiedenem Talent begabt, hat er sich mühsam und elend genug, durch eine lange Studienzeit voll Hunger und Entbehrungen durchzuringen gehabt. Freuds Äußerungen aus späteren Jahren verraten das noch sehr deutlich. So schreibt er iin einem Brief vom September 1899 an Wilhelm Fließ: Von dem Erwerb [aus Patientenbehandlungen, C.T.] hängt meine Stimmung auch sehr ab. Geld ist Lachgas für mich. Aus meiner Jugend weiß ich, daß die wilden Pferde in den Pampas, die einmal mit dem Lasso gefangen worden sind, ihr Leben über etwas Ängstliches behalten. So habe ich die hilflose Armut kennengelernt und fürchte mich beständig vor ihr. Die Armut während seiner Kindheit und die finanziellen Probleme nach Abschluß seines Studiums führten dazu, daß Freud die ersten Jahre seines beruflichen Lebens dem »Jagen nach Geld« fast völlig unterordnete.

In den 80er Jahren waren es im wesentlichen zwei Motive, die Freuds Geldjagd unterhielten: Das ganz allgemeine Bestreben, finanziell besser zu leben, als während seiner Kindheit und der konkrete Wunsch, Martha so bald wie möglich heiraten und eine Familie gründen zu können.

In Freuds Schriften und Briefen finden sich zahlreiche Äußerungen, in denen von einer Identifikation mit dieser oder jener Person der Weltgeschichte, Weltliteratur oder der Mythologie die Rede ist. Es fallen u.a. die Namen von Herkules, Hannibal, Brutus, Cromwell, Paulus, Napoleon, Gulliver; indirekte Hinweise gibt es z.B. für Freuds Identifikation mit Moses und Goethe. Für das Verständnis der Entwicklung von Freuds Ehrgeiz sind jedoch besonders die frühen Identifikationen während der Kindheit, der Gymnasialjahre und während der Studienzeit wichtig. Am häufigsten ist da wohl Freuds Identifizierung mit Hannibal behandelt worden.. Ich will hier deshalb nur kurz auf Hannibal eingehen, um mich dann weniger gut untersuchten Identifikationen zuzuwenden.

Freud schreibt im Zusammenhang mit der Analyse seiner Romsehnsucht in der Traumdeutung:

Hannibal ... war ... der Lieblingsheld meiner Gymnasialjahre gewesen; wie so viele in jenem Alter, hatte ich mein Sympathien während der punischen Kriege nicht den Römern, sondern den Karthagern zugewendet. Die beiden wichtigsten Anlässe für diese Entscheidung waren mit der Erscheinung des Antisemitismus verknüpft: Zuerst die Erzählung des Vaters von seiner Erniedrigung durch einen Christen, der ihm die Mütze vom Kopf schlug, und später dann die persönliche Erfahrung von »antisemitischen Regungen« unter Freuds Klassenkameraden. Wichtigstes Motiv für die Identifikation Freuds mit Hannibal war Rache. Hannibals Vater Hamilkar Barkas hatte seinen Sohn vor dem Hausaltar den Römern Rache für die den Karthagenern zugefügten Niederlagen schwören lassen und auch Freud wollte sich für die Erniedrigung seines Vaters rächen.

Weniger Beachtung unter den Biographen hat Freuds Begeisterung für Oliver Cromwell gefunden. Bekannt ist, daß Freud seinen zweiten Sohn nach dem großen englischen Staatsmann genannt hat, doch welche Beweggründe hinter dieser Entscheidung gestanden haben, ist wenig untersucht.

Oliver Cromwell hatte auf Freud seit dessen Knabenjahren eine starke Anziehungskraft ausgeübt, und eine Reise nach England im Jahre 1875 hatte diese Anziehung noch verstärkt. In diesem Zusammenhang schreibt Freud an seine Verlobte:

... die unvertilgbaren Eindrücke, die in der für mein ganzes Leben maßgebenden Reise vor 7 Jahren auf mich gewirkt haben, sind zu voller Lebhaftigkeit erwacht. Ich greife wieder zur Geschichte des Insellandes, zu den Werken der Männer, die meine eigentlichen Lehrer waren, alle Engländer u. Schotten, zu den Erinnerungen der für mich interessantesten Zeit der Völkergeschichte, die Herrschaft der Puritaner u. Oliver Cromwells ... An Cromwells Biographie war für Freud wohl besonders anziehend die Tatsache des Erfolgs: Im Gegensatz zu Hannibal, dessen Rachefeldzug scheitert, besiegte Cromwell seine Gegner, erhält unbeschränkte Vollmachten und legt die Grundlagen für das englische Weltreich. Für den Knaben Sigmund bzw. den jungen Mann Freud, der sich erniedrigt fühlt durch den Antisemitismus der herrschende katholischen Ideologie war das eine ideale Karriere und zur Identifikation wie geschaffen.

Die frühen Identifikationen mit Hannibal, aber auch die späteren mit Herkules und Gargantua offenbaren neben Freuds Rachegelüsten auch seine Größensehnsucht. Allerdings ist für den Studenten Freud noch nicht völlig klar, in welcher Form sich diese Tendenzen befriedigen lassen. Die äußeren Formen seines Strebens werden allmählich abgesteckt erst durch die Identifikation mit einer weiteren klassischen Gestalt: Ödipus.

Wohl kein Schlagwort der Psychoanalyse ist so bekannt geworden wie der Begriff des Ödipuskomplexes. Freud hatte mit ihm die Beobachtung umschreiben wollen, daß ein Kind dem gleichgeschlechtlichen Elternteil gegenüber Haß, dem gegengeschlechtlichen gegenüber jedoch Inzestwünsche empfindet. Er nannte diesen Gefühlskomplex nach Ödipus, da in der Tragödie König Ödipus von Sophokles diese Eltern-Kind-Konstellation zum ersten Mal literarisch gestaltet wird: Ödipus erschlägt seinen Vater und heiratet sein Mutter.

Es hat bisher niemand daran gezweifelt, daß es eben das Verhältnis zu den Eltern war, daß Freud an der Gestalt des Ödipus interessiert hat. Allerdings gibt es Indizien dafür, daß für Freud noch andere Aspekte des Ödipusmythos wichtig waren, nicht nur Vaterhaß und Inzest mit der Mutter. Folgende Episode ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung:

Im Jahre 1906 schenkte ihm die kleine Gruppe seiner Anhänger in Wien zu seinem fünfzigsten Geburtstag eine Medaille ..., die auf der Vorderseite Freuds Profil ... und auf der Rückseite eine griechische Zeichnung des Ödipus vor der Sphinx zeigt. Diese Zeichnung ist umrahmt von einem Vers aus König Ödipus von Sophokles:

»Der das berühmte Rätsel löste und ein gar mächtiger Mann war«

...

Bei der Überreichung der Medaille ereignete sich ein merkwürdiger Zwischenfall. Als Freud die Inschrift las, wurde er blaß, unruhig und fragte mit erstickter Stimme, wer diese Idee gehabt habe ... Nachdem ihm Federn gesagt hatte, er sei es gewesen, enthüllte er ihnen den Grund seines Verhaltens: Als junger Student sei er einmal um die großen Arkaden der Wiener Universität herumgegangen und habe die Büsten früherer berühmter Professoren betrachtet. Damals habe er sich in der Phantasie ausgemalt, daß dort seine künftige Büste stände, was an sich für einen ehrgeizigen Studenten noch nichts Besonderes gewesen wäre - aber auch, daß darunter eben gerade diese Worte graviert seien, die er nun auf der Medaille vor sich sehe.
 
 

Das für Freud von seiner Studienzeit bis 1897 - also bis zur Entdeckung des Ödipuskomplexes - Entscheidende der mythologischen Handlung kann auf die Formel gebracht werden: Wissen ist Macht. Die Tatsache, daß Freud sich schon als Student mit Ödipus als Rätsellöser und mächtigem Mann identifizierte, läßt darauf schließen, daß eben diese Verknüpfung für Freud mindestens so interessant war wie die Eltern-Kind-Konstellation. Zumindest für den Zeitraum bis 1897 war der Ödipusmythos für Freud also weniger Symbol für Vatermord und Inzest. Erst im Zusammenhang mit seiner Selbstanalyse sah Freud im Ödipusmythos auch diese Probleme. Das bedeutet jedoch nicht, daß sich für Freud Ende der neunziger Jahre die Bedeutung des Ödipusmythos grundsätzlich geändert hätte. Es ist lediglich ein neuer Aspekt - der Ödipuskomplex - hinzugekommen. Die Episode an seinem 50. Geburtstag zeigt, daß für Freud die Ödipusgestalt auch weiterhin Vorbild in bezug auf seinen wissenschaftlichen Ehrgeiz war. als vielmehr für Machtentfaltung durch Erkenntnisstreben: Die Lösung der Rätsel der Wissenschaft als Machtquelle. -

So verbinden sich die frühen Identifikationen Freuds zu einer natürlichen Synthese, die alle seine Wunschvorstellungen umfassen: Freud-Hannibal schickt sich an, ein Weltreich aufzubauen und Freud-Ödipus - findet den Weg, der zu diesem Ziel führt: Die Lösung wissenschaftlicher Rätsel. -

Bisher haben wir nach der Genese von Freuds Ehrgeiz gefragt, nach den Triebkräften für sein seit der Studienzeit manifestes Streben nach Erfolg. Die wichtigsten Faktoren dafür fanden wir erstens in seiner jüdischen Herkunft, die leistungsmotivierend wirkte, zweitens in der schwierigen finanziellen Lage der Familie Freud während Sigmunds Kindheit und Jugend und seinem Wunsch, diese Misere zu überwinden, um eine Familie gründen zu können, und schließlich drittens in der Identifikation mit Personen, die es zu Macht und Ruhm gebracht haben; das Freud am nächsten stehende Beispiel war wohl der Rätsellöser Ödipus.

Im ersten Sommersemester seines Studiums hatte Freud eine Vorlesung mit dem Titel »Allgemeine Zoologie in Verbindung mit einer kritischen Darstellung des Darwinismus für Hörer aller Fakultäten« belegt. Vortragender war Carl Claus, einer der führenden Vertreter der Evolutionstheorie auf dem Kontinent. Freud schreibt sich in den folgenden 2 Jahren noch für weitere 6 Vorlesungen von Claus ein. Leitendes Motiv war die Faszination, die Darwins Lehre auf Freud ausübte. In seiner Selbstdarstellung schreibt er später über seine wissenschaftlichen Interessen in den frühen 70er Jahren:

... die damals aktuelle Lehre Darwins zog mich mächtig an, weil sie eine außerordentliche Förderung des Weltver-ständnisses versprach ... Gleichzeitig glaubte Freud jedoch, daß das Studium der Philosophie eine nützliche Ergänzung zu seiner naturwissenschaftlichen Ausbildung darstellen könne, und so berichtete er folgerichtig am 8. November 1874 seinem Freund Eduard Silberstein, daß er Feuerbach lese und 2 philo-sophische Kollegien höre und fährt fort: Eines davon handelt - höre und staune! - über das Dasein Gottes, und Professor Brentano , der es liest, ist ein prächtiger Mensch, Gelehrter und Philosoph, obwohl er es für nötig hält, dieses luftige Dasein Gottes mit seinen Gründen zu stützen. Ich schreibe Dir nächstens, sobald ein Argument von ihm eigentlich zur Sache spricht ... Einen Monat später erscheint in einer von Freud, Siegfried Lipiner herausgegebenen Zeitschrift ein Aufsatz »über Spinozas Beweis für das Dasein Gottes«. Es ist nicht ganz klar, wer der Autor dieses Artikels ist, möglicherweise stammt er aber von Freud selbst. Gleichzeitig intensiviert Freud seinen Kontakt zu dem späteren Philosophieprofessor Richard Wahle und im März 1875 faßt er dann den Entschluß das Doktorat der Philosophie auf Grund von Philosophie und Zoologie zu erwerben; weitere Verhandlungen sind im Zuge, um entweder vom nächsten Semester oder vom nächsten Jahr an meinen Eintritt in die philosophische Fakultät zu bewerkstelligen. Hinter dieser Formulierung Freuds steht die Hoffnung, zu einer Synthese zwischen Evolutionstheorie und philosophischer Erkenntnis zu kommen. Ein weiterer Grund für diese, später von Freud allerdings revidierte Entscheidung war wohl sein Gefühl, von Franz Brentano möglicherweise als Schüler akzeptiert und auch gefördert zu werden. In diesem Zusammenhang schrieb er an Silberstein: Er (Brentano, C.T.) ist eben ein Mann, der hierher gekommen ist, Schule zu machen, Anhänger zu gewinnen, und deshalb seine Zeit und Freundlichkeit an jeden wendet, der etwas von ihm bedarf. Seinem Einfluß bin ich indessen nicht entgangen ... Brentano faszinierte und provozierte Freud und seinen Freund Joseph Paneth dermaßen, daß sie ihm Ende Februar/Anfang März 1875 in zwei Briefen ihre Einwände gegen seine Philosophie vortrugen. Brentano lud die beiden daraufhin zu sich nach Hause und zu gemeinsamen Spaziergängen ein. Bei diesen Gelegenheiten wurde hauptsächlich über das Dasein Gottes diskutiert. Freud konnte sich Brentanos Einfluß wurde Freud »notgedrungen« zum Theisten , hielt diese Entwicklung allerdings nur für eine Folge seiner Hilflosigkeit gegenüber Brentanos Argumenten. Freud hatte jedoch keinesfalls die Absicht, sich »so schnell oder so vollständig gefangenzugeben« und am 15. März 1875, einen Tag nach seinem dritten Besuch bei Brentano beschloß er, dessen Philosophie gründlich kennenzulernen.

Schon 2 Wochen später teilt er Silberstein ein erstes Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit Brentanos Philosophie mit, nämlich daß Brentanos Gott lediglich ein »logisches Prinzip« sei und von ihm als solches akzeptiert werde könne. Und am 11. April 1875 beschließt Freud eine neuerliche Erörterung des Problems der Existenz Gottes und der Position Brentanos in einem Brief an Silberstein mit der Bemerkung:

Brechen wir hier in unsern philosophischen Erörterungen ab. Ich kann Dir nicht versprechen, daß ich nächste Woche diese meine Ansichten noch anerkennen werde ... Hier deuten sich Freuds erste Zweifel an der Möglichkeit der Erarbeitung einer sicheren philosophischen Position an, die später dann zu Zweifeln an dem Wert der akademischen Philosophie überhaupt werden. Es ist nun nicht mehr die Rede vom Doktorat für Philosophie und Eintritt in die philosophische Fakultät. Zwar belegt Freud auch in den nächsten drei Semestern noch philosophische Vorlesungen , doch scheint sich das Schwergewicht seines Interesses auf die Zoologie zu verlagern. Die Gründe dafür lassen sich bei Freud nicht ausmachen. Doch Joseph Paneth gibt in seiner Vita nuova einen Hinweis: ... schließlich hörte er [Brentano, C.T.] auf, uns ernstlich zu beschäftigen. Mehr und mehr durchschaute ich seine Manier, fortwährend mit Worten statt mit Begriffen zu hantieren, Unwichtiges peinlich zu beweisen und Wichtiges zu erschleichen, und mit Paralogismen (d.h. eigentlich Kalauern) zu arbeiten. Es ist wahrscheinlich, daß Freud mit der Zeit einen ähnlichen Eindruck von Brentano gewonnen hat oder zumindest von Paneths zunehmender Abneigung angesteckt worden ist. Vermutlich waren auch Freuds Erwartungen hinsichtlich seiner Akzeptierung als Schüler Brentanos enttäuscht worden. Auf jeden Fall lassen Freuds auf die Philosophie gerichteten Aktivitäten entscheidend nach und am 22. Februar 1876 bewirbt er sich beim Unterrichtsministerium um ein Stipendium, das ihm zoologische Studien in Triest ermöglichen soll. Mit dieser Bewerbung ist die Philosophische Phase in Freuds Entwicklung nach reichlich 15 Monaten auch formal abgeschlossen.

Freud beginnt nun im Institut für vergleichende Anatomie zu arbeiten und dessen Direktor Carl Claus erreichte, daß Freud das beantragte Stipendium von insgesamt 180 Gulden tatsächlich bekommt. Er nutzt es für zwei Forschungsaufenthalte an der im Herbst 1874 in Triest auf Initiative von Claus eröffneten k.k. Zoologischen Station. Dort untersucht er von Ende März bis Ende April und vom 2. September bis zum 1. Oktober 1876 die Geschlechtsorgane des Aals. Er schreibt dazu sehr anschaulich und humorvoll an seinen Freund Eduard Silberstein:

Du kennst den Aal. Lange Zeit hindurch war von dieser Bestie nur das Weibchen bekannt, schon Aristoteles wußte nicht, woher die Männchen nehmen, und ließ sie deshalb aus dem Schlamm entstehen. Durchs ganze Mittelalter und die Neuzeit hindurch wurde eine förmliche Hetzjagd auf die Aalmännchen angestellt. In der Zoologie, wo es keine Geburtsscheine gibt ..., weiß man nicht was Männchen oder Weibchen ist, wenn die Tiere nicht äußere Geschlechtsunterschiede haben. Daß gewisse Merkmale Geschlechtsunterschiede sind, muß auch erst nachgewiesen werden, und das kann nur der Anatom (da Aale keine Tagebücher schreiben, aus deren Orthographie man Schlüsse auf das Geschlecht ziehen kann) ... Die Anregung zu dieser Themenstellung kam sicher von Carl Claus, der sich selber mit Zwitterbildung beschäftigt hatte. Außerdem hatte im Jahre 1874 Szymon Syrski eine Abhandlung über die Reproduktionsorgane der Aale veröffentlicht , in der er über ein bei kleinen und mittelgroßen Aalen gefundenes paariges Organ berichtet, das er für die lange gesuchten Hoden der Aale hielt. Allerdings hatte Syrski dieses paarige Organ nicht genau beschrieben, und Freuds Aufgabe bestand hauptsächlich in eben dieser Beschreibung des von Syrski gefundenen Organs.

Freud untersuchte ca. 400 Aale und faßte das Ergebnis in seiner ersten wissenschaftliche Veröffentlichung unter dem Titel Beobachtungen über Gestaltung und feineren Bau der als Hoden beschriebenen Lappenorgane des Aals zusammen:

Meine Untersuchungen führen mich nun dazu die Angaben Syrski's fast durchgehend zu bestätigen. Die histologische Untersuchung des Lappenorgans macht es mir aber nicht möglich, der Meinung, daß dieses der Hoden des Aals sei, entschieden beizupflichten oder sie mit sichern Gründen zu widerlegen. Trotzdem war Freud wohl mit seiner ersten wissenschaftlichen Arbeit zufrieden. Er hat die ihm gestellte Aufgabe nicht nur formal erledigt, sondern hart gearbeitet. Während seiner Aufenthalte in Triest war er von 8-12 Uhr morgens und von 13-18 Uhr abends im Labor. Und er beschränkte sich nicht nur auf die Untersuchungen der Aale, sondern ließ sich außerdem noch täglich Haie und Rochen vom Fischmarkt kommen. Da Freud während der Laichzeit der Aale (von Oktober bis Januar) nicht in Triest sein konnte, ließ Claus während dieser Monate Aale aus Triest anliefern, damit Freud seine Studien weiterführen konnte. Diese Hilfe und auch die anderweitige Unterstützung von Freuds Aal-Studien trugen Claus Freuds wärmsten Dank ein.

Um so größer war Freuds Enttäuschung, als Carl Claus seine Arbeit der k.k. Akademie der Wissenschaften zur Veröffentlichung vorschlug, ohne sie überhaupt gelesen zu haben. Möglicherweise hatte Claus gehofft, daß Freud als sein Student das Problem der Aal-Fortpflanzung löst; nachdem Freud ihm aber wissenschaftlich sehr korrekt und vorsichtig nur ein Teilergebnis präsentierte, hat Claus wohl seine Enttäuschung nicht ganz verbergen können. Freud hat das sehr gekränkt und noch 60 Jahre später schreibt er über die Einstellung seines damaligen Mentors zu der Arbeit über die Aale:

... der Zoologe Claus war gewissenlos genug, dies mein erstes Werk nicht zu überprüfen. Es war dies nach dem mißglückten Versuch, sich mit Brentanos nicht einmal zur Kenntnis genommen. Damit war auch Freuds zoologisches Interesse nur Episode geblieben.

In den folgenden Jahren konzentrierte sich Freud auf Arbeiten zum Bau des Nervensystems. Er war schon seit Oktober 1876 Famulus im Physiologischen Institut bei Ernst von Brücke. Brücke war nach Freuds eigenen Worten die größte Autorität, die je auf ihn gewirkt hat. Dank seiner Fürsprache erhielt Freud mindestens 3 Stipendien: Von der Bernhard Freiherr von Eskeles-Stiftung, von der Fanni Jeitteles-Stiftung und ein Demonstrator-Stipendien vom Professoren-Kollegium. Zwischen 1877 und 1883 publizierte Freud lediglich 4 Arbeiten, alle zum Bau des Nervensystems. Nebenbei beschäftigte er sich mit der Speichelsekretion bei Hunden und mit chemischen Gasanalysen. Seit dem 1. Mai 1881 ist Freud dann Demonstrator in Brückes Physiologischem Institut. Er bleibt dort ein reichliches Jahr und entschließt sich dann, von der Theorie zur Praxis überzuwechseln, d.h. das Brückesche Laboratorium mit dem Wiener Allgemeinen Krankenhaus zu vertauschen. Diese Entscheidung traf Freud auf Rat Brückes kurz nachdem er seine spätere Frau kennengelernt hatte. Für jemanden, der mittellos war und eine Familie gründen wollte, war eine theoretische Laufbahn nicht geeignet. Aussichten, seine materielle Lage entscheidend zu verbessern, hatte Freud nur, wenn er eine eigene Praxis aufmachen konnte. Eben um sich nun auf den Arztberuf vorzubereiten, trat er am 31. Juli 1882 als Secundarius aspirans in das Wiener Allgemeine Krankenhaus ein. Damit schien klar, daß für Freud eine theoretische Laufbahn nicht mehr in Frage kam.

Während der folgenden drei Jahre arbeitet Freud außer an der chirurgischen Abteilung von Leopold Dittels, an der I. medizinischen Klinik von Hermann Nothnagel, an der Psychiatrischen Klinik von Theodor Meynert, an der Abteilung für Syphilis von Hermann Zeissl, an der IV. medizinischen Abteilung von Franz Scholz, an der Abteilung für Augenkrankheiten von Ernst Fuchs und der Abteilung für Hautkrankheiten von Moriz Kaposi. Trotz des Rates von Brücke und eines Gespräches mit Hermann Nothnagel, der ihm sogar vom Publizieren abriet, wollte Freud die Wissenschaft jedoch keineswegs aufgeben, sondern, wie er an Martha schrieb, ausbeuten. Vielleicht eben deshalb begann er gleichzeitig mit der Aufnahme seiner Arbeit an Nothnagels Klinik, auch im hirnanatomischen Laboratorium Theodor Meynerts zu arbeiten. Und ein knappes Jahr später, im August 1883 entstand vor Freud eine neue Hoffnung, doch noch dank der Wissenschaft zu genügend Geld zu gelangen, um bald heiraten zu können. An seine Verlobte schrieb er:

Mut, mein Schatz, Du wirst viel jünger mein Weibchen sein und sollst Dich nicht schämen dürfen, daß Du so lange gewartet hast. Eine ganz kleine frohe Nachricht laß ich Dich heute wissen; ich müßte mich sehr, sehr irren, wenn es nicht mit einer 'neuesten Methode' geht ... Diese »neueste Methode«, an der Freud nun fieberhaft arbeitete, bestand in einem Verfahren, Gehirnschnitte durch Erhärtung und Färbung mit Goldchloridlösung zur mikroskopischen Untersuchung geeignet zu machen. Nach reichlich 2 Monaten harter Arbeit demonstrierte Freud die Leistungen dieser Methode seinem Freund und Kollegen Ernst von Fleischl, der ganz außer sich vor Entzücken gewesen sei und ihm riet, die nächsten Jahre der Ausbeutung der Goldfärbemethode zu widmen. Zufällig kam auch Ernst von Brücke vorbei und würdigte die Präparate mit den Worten: »Ja so, Sie werden ja noch durch Ihre Methoden allein berühmt werden.« Auch Josef Breuer brach laut Freud in Ausrufe der Bewunderung aus und sagte: »Jetzt haben Sie die Waffe, ich wünsche Ihnen einen glücklichen Krieg«

Anfang Februar 1884 beendet Freud einen Artikel, in dem er seine Methode der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorstellt. Ernst von Fleischl organisierte deren Veröffentlichung auch in der englischen Zeitschrift Brain und der Russe Liweri Darkschewitsch versprach ihm, eine russische Version anzufertigen und für ihre Veröffentlichung zu sorgen. Der deutsche Artikel erregte besonders in Leipzig bei Paul Flechsig Aufsehen, der schon 1876 eine ähnliche Methode angegeben hatte, sie aber laut Freud nicht zu verwerten verstand.

Auf dem Hintergrund von Freuds Enthusiasmus und der eben erwähnten Anerkennung von berufener Seite, gibt es bisher keine überzeugende Erklärung dafür, wieso Freuds Interesse an der Ausbeutung seiner Goldfärbemethode im Frühjahr 1884 abrupt abbricht. Möglicherweise spielte ein Spaziergang mit Hermann Nothnagel eine entscheidende Rolle, auf dem der Hofrat dem Sekundararzt rundweg erklärte, daß ihm alle seine bisherigen Arbeiten überhaupt nichts nützen würden. Obwohl Freud Martha einige Tage später bekannte, daß er das längst selbst wisse, ging er gleich nach dem Gespräch mit Nothnagel zu Josef Breuer, um »[s]ich von [s]einer Enttäuschung zu erholen.« Nothnagel hatte Freud außerdem folgenden Ratschlag mit auf den Weg gegeben:

... die praktischen Ärzte, auf die es ankommt, sind nüchterne Leute, die sich denken »Was hilft es mir, wenn der Freud Hirnanatomie weiß, damit kann er doch keine Radialislähmung behandeln«. Sie müssen ihnen zeigen, daß Sie das auch können, müssen Vorträge in der Gesellschaft der Ärzte halten, klinisch publizieren. Freud gibt das Gespräch mit Nothnagel wörtlich über mehrere Seiten in einem Brief an Martha wieder. Sicher hätte er nicht soviel Platz darauf verwendet, wenn Nothnagel nicht etwas formuliert hätte, was Freud schon einige Zeit lang intuitiv gefühlt hätte. Schon fünf Wochen vor dem Gespräch mit Nothnagel nämlich hatte Freud an Martha geschrieben: Mit einem Projekt und einer Hoffnung trage ich mich jetzt auch, die ich Dir mitteilen will; vielleicht wird's ja auch nichts weiter. Es ist ein therapeutischer Versuch. Die Hoffnung, von der Freud hier spricht, war für ihn an das aus den Blättern der Kokapflanze gewonnene Alkaloid Kokain gebunden. Freud war auf diesen Stoff durch eine Veröffentlichung von Theodor Aschenbrandt aufmerksam geworden, der bei Herbstmanövern 1883 an bayrischen Soldaten dessen Wirkung ausprobierte und festgestellt hatte, daß es bei Erschöpfung ausgesprochen stimulierend wirkte.

Freud ließ sich von der Firma Merck in Darmstadt Kokainproben schicken und begann sogleich mit Selbstversuchen. Die Ergebnisse schilderte er in einer Veröffentlichung im Zentralblatt für die gesamte Therapie und kommt zu folgenden Schlußfolgerungen:

Die psychische Wirkung des Cocainum mur. in Dosen von 0.05-0.10 gr. besteht in einer Aufheiterung und anhaltenden Euphorie, die sich von der normalen Euphorie des gesunden Menschen in gar nichts unterscheidet. Es fehlt gänzlich das Alterationsgefühl, das die Aufheiterung durch Alkohol begleitet, es fehlt auch der für die Alkoholwirkung charakteristische Drang zur sofortigen Bethätigung. Man fühlt eine Zunahme der Selbstbeherrschung, fühlt sich lebenskräftiger und arbeitsfähiger; aber wenn man arbeitet, vermisst man auch die durch Alkohol, Thee oder Kaffee hervorgerufene edle Excitation und Steigerung der geistigen Kräfte. Man ist eben einfach normal und hat bald Mühe, sich zu glauben, dass man unter irgend welcher Einwirkung steht. Freud schickte dann auch Martha regelmäßig kleine Dosen von Kokain nach Hamburg und weitete in Wien seine Versuche auf die Therapie aus. So wollte er durch subkutane Kokaingaben seinen morphiumsüchtigen Freund Ernst von Fleischl von dessen Abhängigkeit befreien. Er setzte große Hoffnungen in diese Methode, wurde aber bitter enttäuscht: Fleischls Morphin-Abhängigkeit entwickelte sich zu einer Morphin-Kokain-Abhängigkeit. Etwa gleichzeitig begann Freud mit seinem Freund Leopold Königstein Kokain als schmerzbetäubendes Mittel einzusetzen und untersuchte besonders die Empfindlichkeit der Hornhaut nach Bepinselung mit Kokain. Gustav Gärtner, ein Zeuge solcher Versuche, berichtet über das Ergebnis folgendes: Wir ... nahmen eine Stecknadel und versuchten mit ihrem Kopf die Hornhaut zu berühren ... Wir konnten eine Delle in die Hornhaut drücken ohne das geringste Bewußtsein einer Berührung, geschweige denn einer unangenehmen Empfindung oder Reaktion. Damit war die Entdeckung der Lokalanästhesie abgeschlossen. Und tatsächlich: Der Einsatz von Kokain wurde bald zur Methode der Wahl bei Augenoperationen. Allerdings hatte die Sache für Freud einen Haken. Ein Freund Freuds, der Augenarzt Karl Koller hatte auch an den Versuchen teilgenommen, und da er schon lange davon träumte, schmerzfrei am Auge operieren zu können, ließ er seine Entdeckung auf der XVI. Versammlung der Ophtalmologen am 15. September in Heidelberg durch den Triester Arzt Josef Brettauer verlesen und am 17. Oktober stellte er sie selbst der Gesellschaft der Ärzte in Wien vor. Eine Woche später berichtet dann auch Edmund Jelinek vor dem gleichen Gremium über seine Kokain-Versuche.

Zu diesem Zeitpunkt, also Ende 1884, mochte Freud schon ahnen, daß in bezug auf das Kokain nicht er die Wissenschaft ausgebeutet, sondern sie ihn doppelt betrogen hatte: Einmal um die Entdeckung des Kokains als Lokalanästhetikum und zum anderen um dessen Einsatz zur Bekämpfung des Morphinismus. In einem privaten Gespräch mit dem italienischen Schriftsteller Giovanni Papini äußerte Freud noch 50 Jahre später seinen aggressiven Ärger über die verpaßte Gelegenheit; er hätte zugelassen, daß andere ihm die mit der Entdeckung des Kokains als Anästhetikum verbundene Ehre und den erwarteten Gewinn gestohlen haben.

Es fügte sich in dieser Situation für Freuds wissenschaftliche Suche gut, daß der Akademische Senat der Universität Wien am 8. Dezember 1884 ein Universitäts-Jubiläums-Reisestipendium mit dem Betrage von 600 Gulden ausschrieb. Freud bewarb sich um das Stipendium mit der Begründung, für

3-4 Monate bei Prof. Charcot in Paris an dem reichen Materiale der Salpêtrière-Klinik der Nervenkrankheiten zu studieren, wozu mir an den Abteilungen des Allgemeinen Krankenhauses eine ähnlich günstige Gelegenheit nicht gegeben ist. Freud bekam das Stipendium tatsächlich, und zwischen Oktober 1885 und Februar 1886 verbrachte er dann 5 Monate in Paris. Schon in den ersten Wochen begann er an einer Einführung in die Neuropathologie zu schreiben, die allerdings nie veröffentlicht wird. Doch für das wichtigste Ergebnis seines Aufenthalts in Paris hielt Freud seine Erfahrungen mit den Phänomen Hysterie und Hypnotismus. Zwar hatte Freud schon Anfang 1880 in Wien eine Vorstellung des dänischen Hypnotiseurs Hansen, doch waren seine ursprünglichen wissenschaftlichen Pläne in Paris auf »das Studium der sekundären Atrophien und Degenerationen nach infantilen Gehirnaffektionen« gerichtet. Recht bald jedoch ändert sich sein Interesse und Anfang Dezember bittet er Charcot, dessen Neue Vorlesungen über die Krankheiten des Nervensystems, insbesondere über Hysterie übersetzen zu dürfen. Später bezeichnete Freud diese Vorlesungen Charcots als den Ausgangspunkt der Psychoanalyse.

Ich könnte hier meine Bemerkungen abbrechen, denn Freuds weiterer wissenschaftlicher Weg ist recht gut untersucht. Ich möchte trotzdem noch auf einige wichtige Ereignisse eingehen, die für Freud entscheidend waren und ihm letztendlich das sichere Gefühl gaben, etwas entdeckt zu haben, das epochemachend war.

Von Paris nach kurzen Aufenthalten in Hamburg und Berlin nach Wien zurückgekehrt schreibt Freud einen Bericht über seinen Paris-Aufenhalt, indem der weitaus größte Teil Fragen der Hysterie und des Hypnotismus gewidmet ist, am 11. und 27. Mai, hält er Vorträge über Hypnotismus und Anfang Juni spricht er vor der Gesellschaft der Ärzte über seine »Pariser Erlebnisse«.

Am Ostersonntag des Jahres 1886 eröffnet Freud dann eine Privatpraxis in der Wiener Rathausstraße und im September heiratete er in Hamburg Martha Bernays. In diesen Tagen in Hamburg kauft sich Freud ein Buch mit dem Titel Der Traum als Naturnotwendigkeit erklärt. Es ist die erste Manifestation von Freuds wissenschaftlichem Interesse an Träumen. Anderthalb Jahre später geht er in seinem Artikel über »Hysterie« für Albert Villarets Die Suggestion und ihre Heilwirkung in der sehr häufig von Träumen die Rede ist. In seinem Artikel über Psychische Behandlung von 1890 erwähnt Freud das Phänomen des Träumens erneut. Doch die entscheidende Wende brachte der Herbst 1892. Ein Kollege hatte Freud eine Dame namens Ilona Weiß überwiesen. Freud stellte recht bald fest, daß ihre Symptome hysterischen Ursprungs waren und wollte nach einer Anfangsphase wie üblich die Hypnose einsetzen. Die Patientin erklärte jedoch triumphierend, daß sie nicht zu hypnotisieren sei, und Freud war gezwungen, auf die Hypnose zu verzichten. Als Ersatz führte er folgende Prozedur ein: Er drückte der Patientin seine Hand leicht auf Stirn und befahl ihr, alles zu sagen, was ihr einfiele. Freud nannte diese neue Technik »freie Assoziation« und ihr Ergebnis war dem der Hypnose mindestens gleichwertig, da sie ihn auf die zentrale Bedeutung der Träume für das Verständnis der menschlichen Psyche hinwies. Später schrieb Freud darüber lapidar in seiner Geschichte der psychoanalytischen Bewegung:

Über die Traumdeutung kann ich mich kurz fassen. Sie fiel mir zu als Erstlingsfrucht der technischen Neuerung, nachdem ich mich ... entschlossen hatte, die Hypnose mit der freien Assoziation zu vertauschen. Doch 1892 war Freud sich noch nicht darüber im klaren, daß er mit der Einbeziehung der Deutung von Träumen in die Behandlung jenen entscheidenden Schritt vollzogen hatte, der ihn ans Ziel seiner jahrzehntelangen Suche führen würde. Erst im Sommer 1895 analysiert Freud einen ersten eigenen Traum, den Traum von Irmas Injektion. Dieser Traum ging dann in sein psychoanalytisches Hauptwerk Die Traumdeutung ein, und an der Stelle vor dem Haus «Bellevue« am Cobenzl, in dem Freud diesen Traum gehabt hat, findet sich heute eine Gedenkstein mit folgendem Text: Hier enthüllte sich am 24. Juli 1895 dem Dr. Sigm. Freud das Geheimnis des Traumes. Ein knappes Jahr später war sich Freud seiner Traumtheorie schon so sicher, daß er sie in einem Vortrag vor der Jugend der jüdisch-akademischen Lesehalle vorstellte, und am 16. Mai 1897 ist er endgültig davon überzeugt, daß er mit seiner Theorie des Traums seine endgültige wissenschaftliche Bestimmung gefunden hat. An Fließ schreibt er euphorisch: Ich ... komme mir vor wie das keltische Zaubermännchen [d.h. Rumpelstilzchen], daß ... niemand, niemand ... weiß, daß der Traum kein Unsinn ist, sondern eine Wunscherfüllung. Im Dezember 1897 hält Freud zwei weitere Vorträge über Traumdeu-tung, diesmal vor dem jüdischen Humanitätsverein B’nai B’rith und Ende Mai 1899 entschließt er sich endgültig, Die Traumdeutung, an der er schon lange schreibt, zu veröffentlichen.

Mit dieser Entscheidung tritt ein grundsätzlicher Wandel in Freuds Leben ein. Er ist nicht mehr der nach ungelösten wissenschaftlichen Problemen Suchende, sondern er hat sein Rätsel gefunden und es gelöst. Von nun an wird er nie mehr sein Grundthema wechseln, sondern nur noch Steine zu dem Gebäude zusammentragen, das wir heute als psychoanalytisches Theoriensystem kennen.

Freuds Gymnasial- und Studententräume, sein Ehrgeiz und seine Größensehnsucht haben sich erfüllt und im Jahre 1911 formuliert er in einer Denkschrift des »Vereins zur Unterstützung mittelloser israelitischer Studierender in Wien« einen Satz, der als Motto über seinem Leben stehen könnte:

Einst galt Askese ... als Mittel zur Macht; heute das Wissen.








Literatur

Anzieu, Didier (1990)
Freuds Selbstanalyse und die Entdeckung der Psychoanalyse, 2 Bände. München/Wien: Verlag Internationale Psychoanalyse 1990.

Bernfeld, Siegfried; Bernfeld, Suzanne Cassirer (1981)
Bausteine der Freud-Biographik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981.

Blum, Ernst (1973)
The Human Image of Sigmund Freud. In: Ruitenbeek, Hendrik (Ed.), Freud as we knew him. Detroit: Wayne State University Press 1973, pp. 296.

Brauns, Horst-Peter & Schöpf, Alfred (1989)
Freud und Brentano. Der Medizinstudent und der Philosoph. In: Nitzschke, Bernd (Hg.), Freud und die akademische Psychologie. Beiträge zu einer historischen Kontroverse. München: Psychologie Verlags Union 1989, S. 40-79.

Breuer, Josef (1868)
Die Selbststeuerung der Athmung durch den Nervus vagus. Sitzungsber. Akad. Wiss., (Math.-Naturw. Kl.), 58(1868), 909-937.

Breuer, Josef (1874)
Über die Funktion der Bogengänge des Ohrlabyrinths. Med. Jb., 1874, 72-124.

Ferenczi, Sándor (1912)
Symbolische Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Ödipus-Mythos. Imago, 1(1912), S. 276-284.

Flechsig, Paul (1876)
Die Leitungsbahnen im Gehirn und Rückenmark des Menschen. Leipzig: Engelmann 1876.

Fichtner, Gerhard (1992)
Die Bibliothek Sigmund Freuds nach den vorhandenen Verzeichnissen. Tübingen: Institut für Geschichte der Medizin 1992 [Manuskript].

Fichtner, Gerhard & Hirschmüller, Albrecht (1988)
Sigmund Freud, Heinrich Obersteiner und die Diskussion über Hypnose und Kokain. Jb. Psychoanal. 21(1988), S. 105-137.

Freud, Sigmund (1877a)
Über den Ursprung der hinteren Nervenwurzel im Rückenmark von Ammocoetes (Petromyzon Planeri). Sitzungsber. Akad. Wiss., (Math.-Nat. Kl.), 3. Abt., Bd. 75(1877), 15-27.

Freud, Sigmund (1877b)
Beobachtungen über Gestaltung und feineren Bau der als Hoden beschriebenen Lappenorgane des Aals. Sitzungsber. Akad. Wiss., (Math.-Nat. Kl.), 1. Abt., Bd. 75(1877), 419-431.

Freud, Sigmund (1878a)
über Spinalganglien und Rückenmark des Petromyzon. Sitzungsber. Akad. Wiss., (Math.-Nat. Kl.), 3. Abt., Bd. 78(1878), 81-167.

Freud, Sigmund (1879a)
Notiz über eine Methode zur anatomischen Präparation des Nervensystem Zbl. med. Wiss., 17(1879), 468-469.

Freud, Sigmund (1881a)
Über den Bau der Nervenfasern und Nervenzellen beim Flußkrebs. Sitzungsber. Akad. Wiss., (Math.-Nat. Kl.), 3. Abt., Bd. 85(1882), 9-46.

Freud, Sigmund (1884a)
Ein Fall von Hirnblutung mit indirekten basalen Herdsymptomen bei Scorbut. Wiener med. Wschr., 34(1884), 244-246.

Freud, Sigmund (1884b)
Eine neue Methode zum Studium des Faserverlaufs im Centralnervensystem. Zbl. med. Wiss., 22(1884), 161-163.

Freud, Sigmund (1884c)
A New Histological Method for the Study of Nerve-Tracts in the Brain and Spinal Chord. Brain, 7(1884), 86-88.

Freud, Sigmund (1884d)
Eine neue Methode zum Studium des Faserverlaufs im Centralnervensystem. Arch. Anat. Physiol., Anat. Abt. (1884), 453-460.

Freud, Sigmund (1884e)
Über Coca. Zbl. ges. Ther., 2(1884), 289-314.

Freud, Sigmund (1884f)
Die Structur der Elemente des Nervensystems. Jb. Psychiat. Neur., 5(1884), 221-229.

Freud, Sigmund (1886f)
[Übersetzung von] Charcot, Jean-Martin, Leçons sur les maladies du système nerveux, Bd. 3, Paris 1887, unter dem Titel Neue Vorlesungen über die Krankheiten des Nervensystems insbesondere der Hysterie. Leipzig: Deuticke 1886.

Freud, Sigmund (1888a)
Hysterie. In: Villaret, Albert (Hg.), Handwörterbuch der gesamten Medizin, Bd. 1, Stuttgart: Ferdinand Enke 1888, S. 886-92. GW Nachtragsband, S. 69-90

Freud, Sigmund (1888-89a )
[Übersetzung mit Vorrede und Fußnoten von] Bernheim, Hippolyte, De la suggestion et de ses applications à la thérapeutique). Paris 1886, [unter dem Titel] Die Suggestion und ihre Heilwirkung, Leipzig/Wien: Deuticke 1888

Freud, Sigmund (1890a)
Psychische Behandlung (Seelenbehandlung). In: Koßmann, R. & Weiß, J. (Hg.), Die Gesundheit: Ihre Erhaltung, ihre Störungen, ihre Wiederherstellung, Bd. 1, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1890, S. 368-384. GW 5, S. 287-315.

Freud, Sigmund (1891b)
Zur Auffassung der Aphasien. Wien: Deuticke 1891.

Freud, Sigmund (1892-94a )
[Übersetzung mit Vorwort und Fußnoten von] Charcot, Jean-Martin: Leçons du mardi à la Salpêtrière (1887-1888). Paris 1888, [unter dem Titel] Poliklinische Vorträge, Bd. 1. Leipzig/Wien: Deuticke 1892-94.

Freud, Sigmund (1895d)
Studien über Hysterie. Wien: Deuticke 1895 [zusammen mit Josef Breuer].

Freud, Sigmund (1897a)
Die infantile Cerebrallähmung. In: Nothnagel, Hermann (Hg.), Specielle Pathologie und Therapie, Bd. 9, Wien: Alfred Hölder 1897.

Freud, Sigmund (1900a)
Die Traumdeutung. Leipzig/Wien: Franz Deuticke 1900. GW 2/3; zitiert nach SA II.

Freud, Sigmund (1901b)
Zur Psychopathologie des Alltagslebensg. Berlin: Karger 1904. GW 4.

Freud, Sigmund (1911k)
Askese, in: Verein zur Unterstützung mittelloser israelitischer Studierender in Wien, eingeleitet und redigiert von Guido Fuchsgelb. Wien 1911.

Freud, Sigmund (1914d)
Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung. Jb. Psychoanal., 6(1914), S. 1-24. GW 10, S. 137-170.

Freud, Sigmund (1923a)
Psychoanalyse. In: Marcuse, Max (Hg.), Handwörterbuch der Sexualwissenschaft. Bonn: Marcus & Webers 1923. GW XIII.

Freud, Sigmund (1925d)
Selbstdarstellung. In: Grubrich-Simitis, Ilse (Hg.), »Selbstdarstel-lung«. Schriften zur Geschichte der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1973 .

Freud, Sigmund (1926d)
Hemmung, Symptom und Angst. GW XIV, 111-205.

Freud, Sigmund (1927a)
Nachwort zur Frage der Layenanalyse. GW XIV, 287-296.

Freud, Sigmund (1933a)
Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. SA I, 449-608.

Freud, Sigmund (1940a)
Abriß der Psychoanalyse. GW XVII, 63-138.

Freud, Sigmund (1950c)
Entwurf einer Psychologie. GW Nachtr., 387-477.

Freud, Sigmund (1953a)
Briefe an Martha Bernays, In: Jones, Ernest, Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Band 1, Bern: Huber 1960.

Freud, Sigmund (1955a)
Stipendiengesuch für zoologische Studien, in: Gicklhorn, Josef, Wissenschaftsgeschichtliche Notizen zu den Studien von S. Syrski (1874) und S. Freud (1877) über männliche Flußaale. Sitzungsber. Akad. Wiss. Wien (Math.-Naturwiss. Kl.), I. Abt., Bd. 164(1955).

Freud, Sigmund (1956a)
Bericht über meine mit Universitäts-Jubiläums-Reisestipendium unternommene Studienreise nach Paris und Berlin, Oktober 1886 - Ende März 1886, in: Gicklhorn, Josef & Gicklhorn, Renée Sigmund Freuds akademische Laufbahn im Lichte der Dokumente. Wien/Innsbruck: Urban & Schwarzenberg 1960, S. 82-89.

Freud, Sigmund (1960a)
Briefe 1873-1939. Ausgew. u. hrsg. von Ernst L. Freud. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1960.

Freud, Sigmund (1960e)
Reisestipendien-Gesuch, in: Gicklhorn, Josef & Gicklhorn, Renée, Sigmund Freuds akademische Laufbahn im Lichte der Dokumente. Wien/Innsbruck: Urban & Schwarzenberg 1960.

Freud, Sigmund (1963a)
Briefe an Oskar Pfister, in: Sigmund Freud / Oskar Pfister, Briefe 1909-1939, hrsg. von Ernst L. Freud und Heinrich Meng, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1963. 2. Aufl. 1980.

Freud, Sigmund (1965a)
Briefe an Karl Abraham, in: Sigmund Freud / Karl Abarahm, Briefe 1907-1926, hrsg. von Hilda C. Abraham und Ernst L. Freud, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1965.

Freud, Sigmund (1980c)
Brief an Rudolf Brun (18.3.1936). In: Aeschlimann, Jürg, Rudolf Brun (1885-1969). Leben und Werk des Zürcher Neurologen, Psychoanalytikers und Entomologen, Med. Diss., Zürich: 1980, S. 67.

Freud, Sigmund (1985c)
Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904. Hrsg. von Jeffrey Moussaieff Masson. Bearb. von Michael Schröter. Transkription von Gerhard Fichtner. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1986.

Freud, Sigmund (1989a)
Briefe an Eduard Silberstein, in: Freud, Sigmund, Jugendbriefe an Eduard Silberstein 1871-1881, hrsg. von Walther Boehlich, Frankfurt am Main: S. Fischer 1989.

Gamwell, Lynn & Wells, Richard (Eds.) (1989)
Sigmund Freud and Art. His Personal Collection of Antiquities. Introduction by Peter Gay. New York: State University of New York.

Gärtner, Gustav (1919)
Die Entdeckung der Lokalanästhesie. Der neue Tag, 1(1919), Nr. 137, S. 6.

Gay, Peter (1989)
Freud. Eine Biographie für unsere Zeit. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1989.

Gicklhorn, Josef & Gicklhorn, Renée (1960)
Sigmund Freuds akademische Laufbahn im Lichte der Dokumente. Wien/Innsbruck: Urban & Schwarzenberg 1960.

Grollman, Earl (1965)
Judaism in Sigmund Freuds World. New York: Bloch 1965.

Hemecker, Wilhelm (1991)
Vor Freud. Philosophiegeschichtliche Voraussetzungen der Psychoanalyse Sigmund Freuds. [Inaugural-Dissertation]. München: Philosophia: 1991.

Hellige, Hans-Dieter (1979)
Generationenkonflikt, Selbsthaß und die Entstehung antikapitalistischer Positionen im Judentum. Der Einfluß des Antisemitismus auf das Sozialverhalten jüdischer Kaufmanns- und Unternehmersöhne im Deutschen Kaiserreich und in der K.u.K.-Monarchie. Geschichte und Gesellschaft, 5(1979), S 476-518.

Hirschmüller, Albrecht (1978)
Physiologie und Psychoanalyse in Leben und Werk Josef Breuers. Bern: Huber 1978.

Hirschmüller, Albrecht (1990)
Freud und das Kokain oder Die Austreibung des Teufels mit Beelzebub. Antrittsvorlesung am 27. April 1990. Tübingen [Manuskript].

Hirschmüller, Albrecht (1996)
Einleitung zu: Freud, Sigmund, Schriften über Kokain. Herausgegeben und eingeleitet von Albrecht Hirschmüller. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1996, S. 9-39.

Jelinek, Edmund (1884)
Das Cocain als Anästheticum und Analgeticum für den Pharynx und Larynx. Wien. med. Wschr., 34(1884), S 1334-1337, 1364-1367.

Jones, Ernest (1960)
Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Bd. 1: Die Entwicklung zur Persönlichkeit und die grossen Entdeckungen 1856-1900. Bern/Stuttgart: Huber 1960.

Jones, Ernest (1962)
Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Bd. 2: Jahre der Reife 1901-1919. Bern/Stuttgart: Huber 1962.

Klein, Dennis (1981)
Jewish Origins of the Psychoanalytic Movement. New York: Praeger 1981.

Koller, Karl (1884a)
Vorläufige Mitteilung über locale Anästhesierung am Auge. In: Bericht über die Sechzehnte Versammlung der Ophtalmologischen Gesellschaft in Heidelberg. Rostock 1884.

Koller, Karl (1884b)
Über die Verwendung des Cocains zur Anästhesierung am Auge. Wien. med. Wschr., 34(1884), 1276-1278, 1309-1311.

Kraus, Oskar (Hg.) (1979)
Franz Brentano. Zur Kenntnis seines Lebens und seiner Lehre. München: C. H. Beck 1919.

Laible, Eva (1992)
»Durch Entbehrung zum Wissen«. Unbekannte Dokumente aus Freuds Universitäts-Jahren. Jahrbuch der Psychoanalyse, 29(1992), S. 239-264.

McGrath, William (1974)
Dionysian Art and Populist Politics in Austria. New Haven/London: Yale University Press 1974.

McGrath, William (1986)
Freud's Discovery of Psychoanalysis. The Politics of Hysteria. Ithaca/London: Cornell University Press 1986.

Nikolova, Vassilka (1988)
Some Ideas about the Symbolic System of the Oidipus Myth and its Interpretation in Consistency with the Science of Medicine and Psychology. In: F. Erös & G. Kiss (Ed.), Papers of the Seventh European Conference for the History of the Social and Behavioral Sciences, Budapest, 4-8 September 1988, S. 483-490.

Paneth, Joseph (1883/84)
Vita nuova. Villefranche 1883/84 [Manuskript].

Papini, Giovanni (1973)
A Visit to Freud. In: Ruitenbeek, Hendrik (Ed.), Freud as we knew him. Detroit: Wayne State University Press 1973, pp. 98-102.

Rank, Otto & Sachs, Hanns (1913)
Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Geisteswissenschaften. Wiesbaden: Bergmann 1913.

Recouly, Raymond (1973)
A Visit to Freud. In: Ruitenbeek, Hendrik (Ed.), Freud as we knew him. Detroit: Wayne State University Press 1973, pp. 58-62.

Reik, Theodor (1920)
Ödipus und die Sphinx. Imago, 6(1912), S 95-131.

Robert, Marthe (1975)
Sigmund Freud - zwischen Moses und Ödipus. Die jüdischen Wurzeln der Psychoanalyse. München: List Verlag 1975.

Robert, Marthe (1986)
Die Revolution der Psychoanalyse. Leben und Werk von Sigmund Freud. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1986.

Sulloway, Frank (1982)
Freud. Biologe der Seele. Jenseits der psychoanalytischen Legende. Köln/Lövenich: Edition Maschke 1982.

Syrski, Szymon (1874)
Über die Reproductionsorgane der Aale. In: Sitzungsber. Akad. Wiss. Wien (Math.-Naturwiss. Kl.), 1. Abt., Bd. 69 (1874), S. 315-326.

Tögel, Christfried (1989)
Berggasse - Pompeji und zurück. Sigmund Freuds Reisen in die Vergangenheit. Tübingen: edition diskord 1989.

Tögel, Christfried (1994)
»...und gedenke die Wissenschaft auszubeuten.« Sigmund Freuds Weg zur Psychoanalyse. Tübingen: edition diskord 1994.
 
 
 

Johannes Reichmayr

Freud und die Linke

Ein Thema wie »Freud und die Linke« kann von vielen Seiten her aufgerollt werden, weil in ihm die gesamte Geschichte der psychoanalytischen Bewegung enthalten ist. Ich habe einen persönlichen Zugang gewählt und werde über meine eigene Arbeit sprechen. Ich möchte Ihnen über drei meiner Arbeitsschwerpunkte erzählen, die mit dem Vortragsthema eng verbunden sind. Zunächst möchte ich Ihnen über meine erste Studie berichten, die ich auf dem Gebiet der Geschichte der psychoanalytischen Bewegung durchgeführt habe. Sie wurde unter dem Titel »Das Verhältnis von Sozialdemokratie und Psychoanalyse in Österreich zwischen 1900 und 1938« vor knapp 20 Jahren veröffentlicht. In den letzten eineinhalb Jahren habe ich mich mit den geheimen Rundbriefen von Otto Fenichel beschäftigt. Ich werde in einem zweiten Teil über diese Rundbriefe sprechen, die eine besonders wichtige Quelle zur Geschichte der Psychoanalyse für den Zeitraum von 1934 bis 1945 sind. Anfang nächsten Jahres werde ich dieses Material gemeinsam mit Elke Mühlleitner herausgeben. In einem dritten Teil möchte ich auf die Ethnopsychoanalyse zu sprechen kommen, die in meinem ursprünglichen Vortragstitel über »Freud und die Ethnopsychoanalyse« schon angekündigt war. Dieser Titel nahm Bezug auf mein im Vorjahr erschienenes Buch »Einführung in die Ethnopsychoanalyse«, in dem ich die Verbindungen zwischen Psychoanalyse und Ethnologie untersuchte. Im ersten Teil geht es mir darum, Ihnen näherzubringen, welchem weltanschaulichen oder politisch-kulturellen Lager sich Freud und die Mitglieder der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung zugehörig fühlten. In den beiden anderen Teilen möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf die Bedeutung von Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern innerhalb der psychoanalytischen Bewegung hinlenken, welche sich der politischen und sozialen Implikationen der Freudschen Psychoanalyse bewußt waren und welche sie als kulturwissenschaftliche Theorie und sozialwissenchaftliche oder ethnologische Forschungsmethode ernstgenommen, erprobt und weiterentwickelt haben. Eine Bemerkung zu meinem eigenen Standort. Meine wissenschaftlichen Interessen und Arbeitsschwerpunkte bildeten sich im ideologischen und kulturellen Rahmen der Studentenrebellion von 1968. Die durch den Austrofaschismus und Nationalsozialismus unterdrückten und als deren Folgen in der Nachkriegszeit ausgegrenzten Bereiche der österreichischen Wissenschaftsgeschichte erregten meine wissenschaftliche Neugierde. Parallel zur historischen Rekonstruktion und der historiographischen Dokumentation fand eine theoretische Debatte über die Vereinbarkeit von Freud und Marx statt. Gleichzeitig war eine Auseinandersetzung mit aktuellen Konzeptionen einer auf soziale und politische Phänomene angewandten Psychoanalyse in Gang gekommen. Am fruchtbarsten und interessantesten fand ich dabei die ethnopsychoanalytischen Arbeiten der Zürcher Psychoanalytiker Paul Parin, Fritz Morgenthaler und Goldy Parin-Matthèy. Soviel möchte ich zur Einleitung und als Hinweis darauf sagen, was Sie in diesem Vortrag erwarten wird.

1) Ich komme zum ersten Punkt. In der Arbeit über die Beziehungen zwischen Austromarxismus und Psychoanalyse, - ich habe diese Studie gemeinsam mit der Historikerin Elisabeth Menasse-Wiesbauer durchgeführt - verfolgten wir zunächst die sozialdemokratischen Spuren auf Freuds Wegen bis zum Beginn der »Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft« im Jahre 1902 und weiter bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Drei Episoden dazu: Persönliche Sympathien hatte Sigmund Freud zu Viktor Adler geäußert, dem Gründer und prominenten Führer der österreichischen sozialistischen Arbeiter-bewegung, der in einem »revolutionären Traum« auftaucht, den Freud in seine Traumdeutung aufgenommen hat. Diesen Traum träumte Freud in der ehemaligen Wohnung der Familie Adler in der Berggasse 19, in die er 1891 mit seiner Familie eingezogen war und auch seine Praxis führte. Und das Motto der Traumdeutung »Kann ich die höheren Mächte nicht beugen, bewege ich doch die Unterwelt« war von den-selben »revolutionären Regungen« bestimmt, die Freud 1869 auch in der Ablehnung der Schule und was in ihr gelehrt wurde bestärkten, so daß er gemeinsam mit seinem Freund Heinrich Braun entschlossen war, Jus zu studieren und eine politische Laufbahn einzuschlagen (Freud 1927). Heinrich Braun ist ein bekannter sozialdemokratischer Journalist und Politiker in Deutschland geworden. Ich werde nicht weiter ins Detail gehen und nur das Ergebnis festhalten. Sozialdemokraten und politisch links Stehende waren ein nicht wegdenkbarer Teil der frühen psychoanalytischen Bewegung, wie auch umgekehrt psychoanalytischer Geist in die Sozialdemokratische Partei Österreichs Eingang fand. Im Zeitraum bis zum Ende des Ersten Weltkrieges wurde vorwiegend auf der Ebene familiärer, persönlich-freundschaftlicher und beruflich-ärztlicher Querverbindungen ein hohes Maß gegenseitigen Verständnisses und Vertrauens zwischen Psychoanalyse und Sozialdemokratie erreicht. In der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung hielt am 10. März 1909 Alfred Adler den Vortrag »Zur Psychologie des Marxismus«, die als erste »offizielle« Diskussion dieses Themenkreises innerhalb der psychoanalytischen Bewegung angesehen werden kann. Die wohlmeinende und interessierte Aufnahme, die das Referat gefunden hat, war in diesem Personenkreis nichts Außergewöhnliches. Ernst Glaser schrieb in seiner Analyse dieser Sitzung: »Unter liberalen, zumeist jüdischen Ärzten und Intellektuellen gab es in Wien der ersten Dekade unseres Jahrhunderts ausreichend viele, die der damals im rasanten Aufstieg begriffenen Sozialdemokratie nahestanden oder ihr gar zugehörten. Der österreichische Sozialismus und der Austromarxismus zeichneten sich in diesen Jahren nicht zuletzt dadurch aus, daß ihre Vertreter in vielfältiger Weise mit Repräsentanten des allgemeinen geistigen Lebens verknüpft waren«. Es kann angenommen werden, daß Sigmund Freud bei Wahlen den Sozialdemokraten seine Stimme gab, was auch für 80 bis 90 Prozent der Mitglieder der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung zutreffen mochte. Vergleicht man dazu die Freud-Biographie von Ernest Jones oder kontrastiert man diese mit der von Michael Molnar herausgegebenen und kommentierten »Kürzesten Chronik« Freuds (die soeben auf Deutsch erschienen ist) , wird besonders Jones politischer Konservativismus und seine antisozialistischen Tendenzen deutlich, die ihn als politischen Weißwäscher der psychoanalytischen Geschichtsschreibung charak-terisieren lassen. Spannt man einen Bogen von der theoretischen Diskussion über Marxismus in der erwähnten Sitzung im Jahre 1909 bis zur Rede Freuds auf dem Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Budapest im Jahre 1918, in welcher er die Massenanwendung der psychoanalytischen Therapie propagierte , könnte man meinen, Freud hätte sich die 11. Feuerbachthese von Marx zu Herzen genommen und wäre von der weltinterpretierenden Theorie zur gesellschaftsverändernden Praxis geschritten. Auf dem bereits erreichten Niveau von gegenseitigem Verständnis basierend, erweiterten sich nach dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie in der Zeit der Ersten Republik Österreich die Beziehungen zwischen Psychoanalyse und Sozialdemokratie auch auf institutionelle und öffentliche Ebenen. Als Beispiel möchte ich die von Sigmund Freud 1927 unterzeichnete Unterstützungserklärung zugunsten des »Roten Wien« anführen, die in der von Viktor Adler 1891 gegründeten »Arbeiter-Zeitung« abgedruckt wurde. Freuds Unterschrift war auch eine Anerkennung der Leistungen des Austromarxismus für die Psychoanalyse. Die Psychoanalytiker konnten die Aufbruchsstimmung und das politisch-kulturelle Milieu im sozialdemokratischen Wien zur Weiterentwicklung ihrer Wissenschaft nutzen, ohne daß ein ausgesprochenes Naheverhältnis zur Sozialdemokratie zustandekam, wie das für die Individualpsychologie Alfred Adlers zutraf. Neben Psychoanalytikern, die schon vor dem Ersten Weltkrieg Sozialdemokraten gewesen waren (wie Paul Federn, Josef Karl Friedjung, Alfred Adler, Margarete Hilferding und andere) traten nun in der Wiener Gruppe der Psychoanalytiker Vertreter einer neuen Generation in den Vordergrund, die durch ihre Erfahrungen aus der Jugendkulturbewegung und durch die Kriegszeiten politisch und sozial sensibilisiert waren und dem Ziel der Sozialisten, eine neue Gesellschaft aufzubauen, verbunden waren (Siegfried Bernfeld, Helene Deutsch, Otto Fenichel, Anna Freud, Willi Hoffer, Annie und Wilhelm Reich und andere). Von ihnen gingen Versuche aus, psychoanalytisches und marxistisches Ideengut zu verbinden und eine Ausdehnung des Erfahrungs- und Wirkungsbereiches der Psychoanalyse auf das Fürsorge, Schul- und Erziehungswesen und die Erwachsenenbildung zu erreichen. Obwohl die Einsichten der Psychoanalytiker im Hinblick auf die Erziehung eines sozialistischen »Neuen Menschen« pessimistisch waren, weil sich das psychoanalytische Gedankengut und die psychoanalytischen Erfahrungen gegen eine direkte Umsetzung in Konzepte einer gezielten Formbarkeit des Individuums durch Erziehung sperrten, konnte sich in Wien eine pädagogisch orientierte Psychoanalyse herausbilden, die mit Namen wie Hermine Hug-Hellmuth, August Aichhorn, Siegfried Bernfeld, Anna Freud, Willi Hoffer, Editha Sterba und anderen verbunden war. Diese stimmten mit der kritischen Haltung überein, wie sie Bernfeld in seinem »Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung« aller Pädagogik und Erziehung gegenüber äußerte. Dem 1922 eröffneten psychoanalytischen Ambu-latorium blieb zwar eine öffentliche Finanzierung versagt, von Seiten führender Sozialdemokraten gab es jedoch Verständnis für das Problem des psychischen Elends. »Es ist sicherlich wünschenswert«, schrieb Therese Schlesinger 1927, »daß die Arbeiterschaft sich mit den Grundgedanken der Heilmethode und der Psychologie Freuds bekannt mache, um die erstere in ihren Dienst zu stellen, sobald es gelingen wird, den Arbeiterkrankenkassen entsprechende Mittel zuzuführen.« Als Mitglied der sozialdemokratischen Partei gründete Wilhelm Reich Ende 1928 mit der kommunistischen Ärztin Marie Frischauf in Wien die »Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexual-forschung. In sechs Sexualberatungsstellen wurde auf psycho-analytischer Grundlage Aufklärungsarbeit, unentgeltliche Beratung und Forschungstätigkeit zu individuellen und gesellschaftlichen Konflikten geleistet.

Mit der Errichtung des austrofaschistischen Ständestaates wurde 1934 der psychoanalytischen Aufklärungarbeit durch die Illegalisierung der Sozialdemokratie und ihrer Einrichtungen und durch die Emigration einer Reihe bedeutender linker Freudianer der kulturelle und intellektuelle Boden entzogen. Freud nahm von einer Veröffentlichung seiner religionskritischen Thesen in »Der Mann Moses und die monotheistische Religion« Abstand, da er ein staatliches Verbot der Psychoanalyse nicht riskieren wollte, nachdem im katholischen autoritären Ständestaat seine Theorie der Religion leicht als Kritik der »Grundfesten« dieses undemokratischen Staatsgebildes gewertet werden konnte. Die Angriffe der klerikal-faschistischen Kulturkämpfer drängten die Psychoanalyse in professionelle Selbstbeschränkung und kulturpolitische Isolation und dazu, sich von der bedrohlichen Außenwelt abzuwenden. Aus verschiedenen Quellen ist die »Angst vor Politik« in den Reihen der Wiener Psychoanalytiker belegbar, die sich bis in die Verleugnung der äußeren Realität auch in der psychoanalytische Theoriebildung verfolgen läßt. Aus unserer Untersuchung ging hervor, daß sich die Sozialdemokraten der Psychoanalyse gegenüber ab dem Beginn der dreißiger Jahren wesentlich offener zeigten, als es umgekehrt der Fall war, mit Ausnahme der politischen Freudianer, die ihrerseits innerhalb der psychoanalytischen Bewegung in Isolation gerieten. Speziell für die Wiener Psychoanalytische Vereinigung und darüber hinaus für die Internationale Psychoanalytische Vereinigung insgesamt waren Freuds politische Haltungen und Ängste maßgeblich und bestimmten den Grad der Anpassung und das Ausmaß der Zugeständnisse an die politische Reaktion ebenso mit wie die Distanz zur Linken. Daß sich die Äußerungen des heimischen Klerikofaschismus schnell und ohne Schwierigkeiten in die nationalsozialistischen Tonarten transformieren ließen, hat Jean Améry treffend beschrieben. Dies war auch Freud klar.

Die Flucht von fünfzig Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern und vielen in Ausbildung stehenden Personen nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten im März 1938 bedeutete das Ende der Psychoanalyse in Wien. Die Folgen dieses Bruchs sind bis heute offensichtlich und ein bestimmender Teil der Wissenschaftsgeschichte der österreichischen Psychoanalyse nach 1945. Ich möchte diesen ersten Teil meines Vortrages folgendermaßen zusammenfassen: Wie die Psychoanalyse zu Beginn des Jahrhunderts im ehemaligen Wohnhaus Victor Adlers, des Gründers und Führers der österreichischen Sozialdemokratie, entstand, endete die sozialdemokratische Bewegung in Österreich 1938 im Haus der amerikanischen Psychoanalytikerin Muriel Gardiner, in welchem die illegalisierten und im Untergrund operierenden Sozialisten ihr Zentrum hatten. Muriel Gardiners Mann Joseph Buttinger war seit 1935 Präsident des Zentralkomitees der revolutionären Sozialisten und nach 1938 deren Vertreter in Paris, von wo aus er Ende 1939 nach den Vereinigten Staaten emigrierte. Würde ich das Thema der Naheverhältnisse zwischen Psychoanalyse und Sozialdemokratie heute nochmals bearbeiten wollen, so könnte ich dies mit viel weniger Aufwand als vor 20 Jahren und noch dazu in systematischer Hinsicht leisten. Für die Beantwortung meiner Fragen steht heute das »Biographische Lexikon der Psychoanalyse« von Elke Mühlleitner zur Verfügung, welches das umfangreichste und detaillierteste historiographisch-biographische Material zusammen-stellt, das wir zur Gruppe der 150 Wiener Psychoanalytiker besitzen, die zwischen 1902 und 1938 Mitglieder der Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft und der Wiener Psychoalytischen Vereinigung waren. Damit ist das erste Mal die Möglichkeit gegeben, über eine kohärente Psychoanalytikergruppe, die gleichzeitig die Pioniergruppe der psychoanalytischen Bewegung war, empirisch belegbare Aussagen zu machen, vergleichende Studien zu betreiben oder dieses Material im Hinblick auf unser Thema auszuwerten.

2) Ich komme nun zu den geheimen Rundbriefen Otto Fenichels. Ich möchte zunächst kurz beschreiben, was die Rundbriefe sind und welchen Personenkreis sie betrafen. Anschließend möchte ich die Geschichte der Rundbriefe skizzieren aus der deutlich wird, welches Bild sich die in äußerer und innerer Emigration befindliche psychoanalytische Linke von der Lage der internationalen Psychoanalyse machte und mit welche Ansätze und Strategien entwickelt wurden, diese Situation zu verändern. Ich werde die Vernachlässigung der äußeren Realität in Theorie und Praxis und die Verflüchtigung der gesellschaftlichen Wirklichkeit in der Psychoanalyse aufgreifen, die Fenichel beobachtete, ein Phänomen, das parallel zur »Angst vor Politik« in den Reihen der Wiener Psychoanalytiker entstanden war.

Der aus Wien stammende Otto Fenichel (1897-1946) genießt den Ruf eines »Enzyklopädisten der Psychoanalyse«. Diesen Ruf hatte er sich nicht zuletzt durch das kurz vor seinem frühen Tod erschienene Lehrbuch »The Psychoanalytic Theory of Neurosis« (Fenichel 1945) erworben, das auch fünfzig Jahre nach seiner Ersterscheinung als einflußreiches Standardwerk für die psychoanalytische Lehre und Ausbildung angesehen wird. Ein anderes Projekt, das vom Umfang her dem seiner gesamten Veröffentlichungen entspricht, hatte Otto Fenichel ein halbes Jahr vor seinem Tod beendet. Am 14. Juni 1945 sandte er den letzten seiner 119 Rundbriefe aus, die er seit März 1934 für einen engen und vertrauten Personenkreis von Psychoanalytikern zusammengestellt hatte und über elf Jahre lang alle drei bis sechs Wochen verschickte. Das gesamte Briefkonvolut umfaßt mehr als 2000 Typoskriptseiten. Mit der Veröffentlichung dieses Materials wird sich Fenichel posthum den Ruf eines »Historiographen« der Psychoanalyse erwerben können und sich als Autor einer ersten konsistenten Sozialgeschichte der psychoanalytischen Bewegung für diesen Zeitraum Geltung verschaffen. Die Rundbriefe decken einen bedeutsamen Zeitraum ab. Zwischen 1933 und 1945, der Epoche der Vertreibung der Psychoanalyse aus ihren zentraleuropäischen Zentren und ihrer Etablierung in Amerika brachten für die Psychoanalyse diejenigen theoretischen und organisatorischen Veränderungen im Spannungsfeld von Bruch und Kontinuität ihrer Traditionen, die für ihre weitere Entwicklung ausschlaggebend waren und um deren Verständnis wir heute bemüht sind. Der Kreis der Rundbriefeempfänger, auch »engerer Kreis« genannt, setzte sich aus Personen zusammen, die Kollegen am Berliner Psychoanalytischen Institut waren und die sich aus dem sogenannten »Kinderseminar« kannten, das Otto Fenichel 1924 als Diskussionsforum für jüngere Psychoanalytiker initiiert hatte. Ab 1932 traf sich ein Teil von ihnen informell zur Diskussion psychoanalytisch-marxistischer Fragen. Aus dieser Gruppierung entstand der »engere Kreis«. Mit Ausnahme von Edith Jacobson emigrierten alle 1933. Ab Frühjahr 1934, dem Beginn der Rundbriefe, gehörten zum engeren Kreis: Otto Fenichel, George Gerö, Samuel Goldschein (Golan) (ab Anfang 1935), Edith Gyömröi (Glück), Nic Hoel (Waal) (bis Anfang 1935), Edith Jacobson, Barbara Lantos (Schneider), Käthe Misch (Friedländer), Annie Reich und Wilhelm Reich (bis Ende 1934). Nach dem ersten von Fenichel verfaßten Rundbrief vom Frühjahr 1934 entstanden aus den Antworten, Reaktionen, Berichten und Diskussionsbeiträgen Textteile für einen der folgenden Rundbriefe; darüber hinaus benutzte Fenichel seine eigenen Beobachtungen, die aus Gesprächen gewonnenen Informationen und seine umfassende Korrespondenz, die er mit Vertretern aller psychoanalytischen Gruppen führte, als Informationsbasis für die Rundbriefe. Fenichels Engagement während der Jahre in Oslo (1933-1935), in Prag (1935-1938) und in Los Angeles (1938-1945) stellte die Kontinuität der Diskussionen des engeren Kreises der Rundbrieefempfänger sicher. Fenichel war kein distanzierter Chronist. Er schrieb gleichsam das intellektuelle Tagebuch einer Gruppe von marxistisch denkenden und politisch links stehenden Psychoanalytikern, die sich der kulturwissenschaftlichen Bedeutung der Psychoanalyse bewußt waren und »Erhaltung, Ausbau und richtige Verwendung« der Freudschen Erkenntnisse zu ihrer »Lebensaufgabe« gemacht hatten. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, einen Gesamtüberblick über die Vielfalt und Breite der in den Rundbriefen enthaltenen Themen, Problemstellungen, Literaturrezeptionen und -kritiken, über die detaillierten Berichte, den Tratsch oder über die bewegungspolitischen Konfliktstoffe und deren Analyse zu geben. Um nur ein Beispiel herauszugreifen: In den Rundbriefen der Jahre 1934 bis 1937 sind 24 Einzelberichte enthalten, welche die Psychoanalyse im nationalsozialistischen Deutschland zum Thema hatten. Zusammengefaßt ergeben sie eine ebenso knappe wie präzise Darstellung der Lage der Psychoanalyse unter Hitler. In den Rundbriefen werden das Wechselspiel zwischen der theoretischen, praktischen und organisatorischen Entwicklung der Psychoanalyse berücksichtigt, kultur- und sozialhistorische Zusammenhänge herstellt und die politischen und ökonomischen Bedingungen des Wissenschaftsprozesses nicht ausklammert. Die Positionen, von denen aus die Rundbriefadressaten als Akteure in dieses Geschehen eingriffen, um ihren Einfluß zur Geltung zu bringen und um Veränderungen herbeizuführen, um »Geschichte der Psychoanalyse zu machen«, wurden offengelegt. In einer Rückschau auf die Entstehung und Entwicklung der Rundbriefe hat Otto Fenichel im Rundbrief LXXII vom 25. November 1940 eine Skizze zu ihrer Geschichte verfaßt, die uns einen guten Einblick in die Bildung, Arbeit und in die Absichten dieser Gruppe vermittelt. Ich möchte eine Erläuterung zum besseren Verständnis des Beginns des folgenden Berichtes von Fenchel machen. Sigmund Freud hat die Redaktion der beiden Zeitschriften, der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse und der Imago 1932 von Berlin nach Wien verlegt, wodurch Otto Fenichel den Redakteursposten verlor, den er 1931 als Nachfolger Sándor Radós übernommen hatte, als dieser nach New York übersiedelte. In diesem Zusammenhang wurden Fenichel und Reich von Freud als »bolschewistische Angreifer« bezeichnet, welche die Zeitschriften für Propagandazwecke zu mißbrauchen suchten. Freud wollte in einer Fußnote zu einem Artikel Reichs, in dem dieser gegen Freuds Todestrieb-Hypothese argumentierte darauf hinweisen, daß Reich Parteikommunist sei und daß der Bolschewismus bekanntermaßen die Forschungsfreiheit gleichermaßen einenge wie die Kirche. Fenichel schreibt in seinem Bericht:

Im Jahre 1931, als ich die Redaktion der »Zeitschrift« innehatte, hatte Freud nach Lektüre der Fahnen von Reich's Aufsatz »Der masochistische Charakter« angeordnet, daß dieser Aufsatz nur mit einer von ihm verfaßten Fußnote erscheinen dürfte, deren Publikation allen sozialistischen Analytikern höchst unwillkommen gewesen wäre. Aus diesem Anlas berief ich die »linken« Analytiker Berlins zusammen, um mit ihnen zu beraten, was zu tun sei. Wir versuchten, Reich zu gewissen Änderungen zu bewegen, die dieser strikt ablehnte. Die Sache wurde später dadurch aus der Welt geschafft, daß Freud unter der Bedingung der Publikation des Bernfeld'schen Gegenaufsatzes auf seine Fußnote verzichtete. - Dies war unsere erste Zusammenkunft. (Sie war einberufen worden, um in gemeinsamer Arbeit Reichs Halsstarrigkeit zu bekämpfen; nicht, wie Reich später einmal publiziert hat, weil Reich mich gebeten hatte, seine Anschauungen den Kollegen darzulegen, weil er dazu keine Zeit hatte.) - Bald darauf erschien das reaktionäre Heft »Psychoanalyse und Politik« der Zeitschrift »Psychoanalytische Bewegung«. Dies wurde der Anlaß zu einer zweiten Zusammenkunft. Wir trafen uns von nun an »informally«, zunächst zur Beratung »bewegungs-politischer« Fragen, wobei wir in der Berliner Vereinigung oft genug sehr ungeschickt als »Fraktion« auftraten. Bald gesellte sich zu dieser »politischen« Tätigkeit die wissenschaftliche: Wir kamen bei Reich zur Diskussion marxistisch-analytischer Fragen zusammen, und besonders die beiden Abende über »Psychoanalyse und Religion« und »Psychoanalyse und Pädagogik« habe ich in sehr guter Erinnerung, weil sie die Fehler der üblichen »bürgerlich-analytischen Auffassung« klärten. Diese erste Zeit unserer Arbeit fand ein Ende mit Hitler's Machtantritt. Die Berliner Kollegen zerstreuten sich über die ganze Welt. Wir sehnten uns nacheinander und hatten gleichzeitig, - berechtigterweise - den Eindruck, daß eine Einflußnahme auf die vom Faschismus auch innerlich bedrohte psychoanalytische Bewegung nötiger war als je. Im Frühjahr 1934 sandte ich den ersten »Rundbrief« in die Welt, der die Situation in den einzelnen Ortsgruppen der internationalen psychoanalytischen Vereinigung schilderte, die damals wirklich trostlos war. Zu Ostern 1934 hielt ich in Oslo einen Vortrag »Gegenwärtige Richtungen innerhalb der Psychoanalyse«, dessen Manuskript ich unlängst wieder las, und ich ums sagen, ich habe von dem damals Ausgeführten nichts zurückzunehmen; vor dem Luzerner Vortrag war die wissenschaftliche Situation wirklich so, daß der vollkommene Zerfall der Psychoanalyse unmittelbar drohte. Diejenigen von uns, die an jener Osloer Tagung Ostern 1934 teilnahmen, beschlossen daraufhin eine engere Zusammenkunft, bei der die bewegungspolitische Aufgabe: »Rettung der naturwissenschaftlichen Analyse« im Vordergrund stand, die aber auch marxistisch-analytische Forschungsarbeit leisten wollte. Ich wurde beauftragt, den Kontakt unter den Kollegen durch regelmäßige Rundbriefe aufrecht zu erhalten.- Die Rundbriefe hatten anfangs, so scheint es mir jetzt, einen meistens »politischen« Charakter. Sie hatten sich dann langwierig und in unerfreulicher Weise mit Reich auseinanderzusetzen, der sich, - Gott sei Dank - nach dem Luzerner Vortrag von uns trennte. Ich breche hier Fenichels Bericht ab, die Ihnen die Anfänge der oppositionellen Psychoanalytikergruppe schilderte. Mit dem Material der Rundbriefe können viele offene Fragen und Streitpunkte, die sich in und um die Geschichte der Psychoanalyse ranken geklärt werden. Zum Beispiel die Frage um den Ausschluß Wilhelm Reichs aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung oder Fragen im Zusammenhang mit den Vorgängen innerhalb der Deutschen Psychoanaytischen Gesellschaft in ihrem Anpassungsprozess an das Hitler-Regime. Auch die Konflikte zwischen Fenichel und Reich, die zur Trennung der beiden führten, können mit dem Material der Rundbriefe nachvollzogen werden. Reichs Meinung, daß die Psychoanalyse nur im Lager der politischen Linken und nie im Lager der Rechten ihre Funktion erfüllen kann und seine Absichten, die Internationale Psychoanalytische Vereinigung auf diese Position zu verpflichten, kontrastierte zu stark mit Fenichels liberal-bürgerlichem Bemühungen, daß innerhalb der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung die Forschungs- und Meinungsfreiheit zu verteidigen sei. Fenichel war gegen eine Spaltung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, welche Reich mit seiner Politik in Kauf genommen hätte. Die von den linken Psychoanalytikern konstatierte Krise der internationalen psychoanalytischen Bewegung hatte Mitte der dreißiger Jahre ein Ausmaß erreicht, welches ihren völligen wissenschaftlichen und organisatorischen Zerfall der befürchten ließ. Auf Grund dieser Beurteilung der Situation wurde von den sozialistischen Psychoanalytikern um Fenichel die dringendste Aufgabe darin gesehen, die Freudsche Auffassung der naturwissenschaftlich konzipierten Psychoanalyse zu retten und zu bewahren. Nicht nur eine von Georg Gerö vorgeschlagene »Einheitsfront zum Schutze der Realität« sollte den verschiedenen Konzepten, wie etwa in denen von Melanie Klein, Edward Glover, René Laforgue und anderen, in denen die äußere Realität in der klinischen und angewandten Psychoanalyse systematisch vernachlässigt und in psychologistischer oder biologistischer Reduktion geleugnet wurde, entgegengesetzt werden, sondern selbst Kurse zur »Einführung in die Psychoanalyse für Psychoanalytiker« wurden in dieser Situation als für nötig befunden. Fenichel bemerkte das Phänomen der Verleugnung der Realität innerhalb der Psychoanalyse auf klinisch-theoretischer Ebene im Zusammenhang mit der »Angst vor Politik«. Ich gebe Ihnen Auszüge aus dem Bericht Fenichels über die Lage der Psychoanalyse in Österreich aus seinem ersten Rundbrief vom März 1934 wieder: Als ich im Sommer dieses Jahres von einem der Analyse Fernstehenden gefragt wurde, was die momentanen aktuellen Probleme der psychoanalytischen Forschung seien, antwortete ich: »Ob in Wien Naziregierung kommt oder nicht.« Ich wußte damals noch nicht, in welchem Grade ich recht hatte, und wie Politik und sogar die wissenschaftliche Arbeit der Wiener Vereinigung voll ist von Rücksichtnahmen auf politische Begebenheiten. Am deutlichsten zeigt sich dies bereits in der Handhabung der Redaktion der Zeitschrift, die ja, statt wie früher von einem, von 4 Leuten geleistet wird, weshalb die Kollegen nicht Zeit finden, auch nur einen einzigen Brief zu beantworten oder ein eingegangenes Manuskript zu bestätigen. Was in den Zeitschriften erscheint, ist jedem Leser deutlich, braucht daher weniger besprochen zu werden, als das, was nicht erscheint. Immerhin seien hervorgehoben: Die Arbeit von Weizsäcker, die knapp vor dessen Ernennung zum Unterführer der Deutschen Fachschaft noch glücklich erscheinen mußte, deren Abdruck den traurigen Versuch einer »Brücke zu den bisherigen Gegnern« darstellt, - leider gerade zu den Gegnern, zu denen uns eine Verbindung nicht wünschenswert erscheint: Nachdem auf 120 Seiten auseinandergesetzt wurde, daß ein Patient einen Ödipuskomplex u.dgl. hat, heißt das Fazit der Arbeit etwa: es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde etc. etc. und die Naturwissenschaft soll sich bescheiden, nicht alles auf dieser Welt ist naturwissenschaftlicher Erfassung zugänglich. - Dieser Versuch zum Brückenschlagen zeigt sich auch im Referatenteil. Die Referate über gegnerische Veröffentlichungen sind auf einmal in einem erstaunlich freundlichen und akademischen Ton gehalten; kein Tadel und keine Polemik. Gerö erzählte mir, daß aus seinen Referaten einzelne kritische Sätze einfach ausgelassen wurden. Ich ums um jedes kritische Wort in meinen Referaten lange Korrespondenzfehden führen. - Um so erstaunlicher ist es, daß Referate über Werke mancher Mitglieder unserer Vereinigung keineswegs so zurückhalten sind. Mir wurde es verboten, Federn anzuprangern, der empfohlen hatte, man möge Kinder, die Zeichen sexueller Erregung zeigen, dazu veranlassen, den Atem anzuhalten; oder auf Dalys himmelschreiende Arbeit über die revolutionären Hindus zu sagen, daß mit größerer soziologischer Unkenntnis wohl noch nie über Revolution geschrieben worden sei; oder auch nur über Jeliffes Ansicht, daß kurzsichtig werde, wer nicht in die Ferne sehen wolle, zu sagen sie sei oberflächlich und primitiv; aber man vergleiche damit das Referat Roheims über das Buch von Reich »Der Einbruch der Sexual-Moral« in der letzten »Imago«. - Mit diesem Referat hat es übrigens seine Bewandtnis: Im Sommer erzählten mir Wälder und Kris, Roheim hätte ihnen ein Referat über Reichs »Einbruch der Sexual-Moral« zugeschickt, daß derart unsachlich und gespickt von Schimpfworten sei, daß sie es nicht abdrucken könnten. Sie wüßten noch nicht, wen sie statt dessen mit einem Referat beauftragen sollten. Offenbar sind inzwischen in der großen Welt Dinge eingetreten, die es Wälder und Kris opportun erscheinen lassen, das zuerst Abgelehnte doch abzudrucken. Ich lasse jetzt eine längere Passage aus und zitiere Ihnen noch Fenichels Resümee: Kein Zweifel, in einem Punkt stimmen die Vereinigungen in Wien und Berlin bereits überein: In der schlotternden Angst. 3) Ich komme nun zum dritten und letzten Teil meines Vortrages, zur Ethnopsychoanalyse. Die Ethnopsychoanalyse kann als die bedeutendste Weiterentwicklung der Psychoanalyse im deutschsprachigen Raum nach dem Zweiten Weltkrieg angesehen werden. Die Pioniere auf diesem Gebiet, die Schweizer Psychoanalytiker Paul Parin, Fritz Morgenthaler und Goldy Parin-Matthèy haben bei ihren Feldforschungen in Westafrika in den fünfziger und sechziger Jahren erstmals die psychoanalytische Technik als Forschungsmethode angewandt. Mit ihren ethnopsychoanalytischen Untersuchungen bei den Dogon und den Agni in Westafrika war ihnen der Nachweis gelungen, daß sich die Psychoanalyse praktisch und theoretisch eignet, Menschen, die einer fremden Ethnie angehören, zu verstehen. Paul Parin, Goldy Parin-Matthèy und Fritz Morgenthaler arbeiteten ab 1952 in Zürich hauptberuflich als Psychoanalytiker. Daneben unternahmen sie von 1954 bis 1971 sechs Expeditionen nach Westafrika, die im Abstand von zwei oder drei Jahren stattfanden und jeweils etwa sechs Monate dauerten. Auf diesen Reisen hatten sie ihre ethnopsychoanalytischen Beobachtungen begonnen und später die ethnopsychoanalytischen Feldforschungen durchgeführt.

Die Erfahrungen mit der Psychoanalyse in der fremden Kultur hatten Auswirkungen auf die psychoanalytische Arbeit in der eigenen Kultur. Aus dieser Wechselwirkung ist die Ethnopsychoanalyse (die auch als »vergleichende Psychoanalyse« bezeichnet wurde) entstanden. Der Psychoanalytiker und Ethnologe Mario Erdheim bemerkte, daß mit diesen Erfahrungen die Psychoanalyse gleichsam neu erfunden wurde, und sie aus einer einseitigen Forschungsperspektive befreit wurde. In diese war sie gekommen, weil sie sich auf eine rein klinische Sicht und eine bloße therapeutische Anwendung einengte. Die Psychoanalytiker mußten sich in der fremden Kultur aus ihrer konventionellen Berufsrolle lösen und sie lernten, ihre psychoanalytische Praxis in der eigenen Kultur mit anderen Augen zu sehen. Sie nutzten ihre neuen Erfahrungen zu einer Ausweitung, Ergänzung und Kritik der psychoanalytischen Theorie und Praxis. Erdheim schreibt: »Durch die Versetzung der psychoanalytischen Tätigkeit in eine dem Analytiker fremde Kultur kommt ein ähnlich verblüffender Effekt zustande wie einst bei der Einführung der bekannten Anordnung: Analysand auf der Couch, Analytiker dahinter. Damals brachte sie Freud die nötige Entlastung, um auf die Unbewußtheit schaffenden, durch den Blickkontakt aufrechterhaltenen Konventionen zu verzichten und seine gleichschwebende Aufmerksamkeit auf die freien Assoziationen des Analysanden zu richten. Das Setting entlastete Freud von den Rollen des Hausarztes, Priesters, Vertrauten usw. Das ethnologische Setting hat nun eine ähnlich entbindende Funktion, und zwar von der therapeutischen Aufgabe, die in unserer Kultur die wichtigste Legitimation abgibt, um sich im Rahmen einer sozialen Beziehung mit dem Unbewußten auseinanderzusetzen ... Die (wie einst in Wien) zeitlich auf einige Monate beschränkten Analysen in der fremden Kultur erweisen sich als ein Gegenmittel gegen die Routinisierung der Psychoanalyse in der eigenen Kultur. Die Situation der Feldforschung löst zuerst einmal die Identifikation mit der Rolle des Analytikers auf«. 1963 erschien die Studie »Die Weißen denken zuviel. Psychoanalytische Untersuchungen bei den Dogon in Westafrika«, in der erstmals über die Anwendung der psychoanalytischen Technik als Forschungsmethode in einer außereuropäischen traditionellen Kultur berichtet wurde. Das Forschungsziel bestand darin, Einzelheiten über das Innenleben und die unbewußten seelischen Strukturen der untersuchten Personen zu erfahren, statt zu allgemeinen Feststellungen über die Persönlichkeit der Dogon oder die der Westafrikaner zu kommen und »zu prüfen, ob sich die Technik der Psychoanalyse dazu eignet, das Innenleben von Menschen zu verstehen, die in einem traditionsgeleiteten westafrikanischen Gesellschaftsgefüge leben«. Vom Dezember 1965 bis Mai 1966 dauerte eine weitere Forschungsreise, deren Ziel es war, bei den Agni, die im tropischen Regenwald an der Elfenbeinküste leben, eine ethnopsychoanalytische Feldstudie durchzuführen. Das umfangreiche Material, das bei dieser Untersuchung erhoben werden konnte, wurde in dem 1971 veröffentlichten Buch »Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst; Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika« verarbeitet. Auch die Arbeit über die Agni basierte auf den methodischen und theoretischen Grundlagen der Psychoanalyse. Sie versucht, mit den gewonnenen Daten die theoretischen und metapsychologischen Konstruktionen der Psychoanalyse zu erweitern, zu vertiefen und zu differenzieren. Im Unterschied zur Untersuchung über die Dogon, in deren Mittelpunkt die Erfassung der psychischen Struktur einzelner Personen stand, wird bei den Agni die Wechselwirkung zwischen individuellen und gesellschaftlichen Strukturen besonders beachtet und das Studium des Individuums im Rahmen seiner Kultur hervorgehoben. Die ethnopsychoanalytischen Beobachtungen und Untersuchungen, die in den Jahren 1954 bis 1971 in Westafrika gemacht wurden, haben zu »Einsichten über bis dahin unerkannte oder zu wenig beachtete Zusammenhänge gesellschaftlicher Einrichtungen mit unbewußten Prozessen« geführt, die sich »geradezu aufdrängten« Das Ergebnis war, daß vor allem die Wirkungen der gesellschaftlichen Kräfte im Individuum zum Ausdruck kommen und im Vordergrund stehen und die biologischen Momente gegenüber den kulturellen Bedingungen zurücktreten. Wenn Sie dieses Ergebnis im Zusammenhang mit meinen Bemerkungen in den beiden vorangegangenen Teile des Vortrages sehen möchten, können wir sagen, daß die Ethnopsychoanalyse die gesellschaftliche Wirklichkeit in die Psychoanalyse theoretisch und praktisch zurückgebracht und von neuem verankert hat und auch der déformation professionelle, der Gesellschafts- und Wirklichkeitsblindheit der Psychoanalytiker, einen Ausweg gewiesen hat.

Die Erfahrungen der Psychoanalytiker in der fremden Kultur standen im Wechselverhältnis mit der psychoanalytischen Tätigkeit in der eigenen Kultur. Die ethnopsychoanalytischen Anschauungen wurden »bei den Afrikanern und gleichzeitig und danach bei unseren Analysanden in der Schweiz in direkten Untersuchungen von Individuen entwickelt. Dabei haben wir die psychoanalytische Theorie, oder Metapsychologie von Sigmund Freud, seinen Mitarbeitern und Nachfolgern vorerst unverändert angewandt. Erst wenn sich diese Theorie einmal nicht eignete, um unsere Beobachtungen zu erklären, haben wir sie modifiziert, etwas hinzugefügt, anderes weggelassen oder abgeändert. So kommen wir natürlich nicht zu einer neuen, geschlossenen Theorie. Doch wirken unsere Hypothesen und Annahmen auf die psychoanalytischen Anschauungen zurück, beeinflussen unser Handeln als Analytiker, können anderen Analytikern vielleicht helfen, die Probleme ihrer Analysanden besser zu verstehen«. Auch für das eigene professionelles Selbstverständnis waren diese Erfahrungen maßgeblich: »Als Psychoanalytiker sind wir wegen der lebendigen Erfahrung mit Afrikanern freier und mutiger geworden, besser im Stande, auf die sozialen Beziehungen unserer Analysanden in Europa einzugehen, und weniger geneigt, ein Verhalten, das von unserem eigenen abweicht, als krankhaft anzusehen. Das hat auch auf unsere theoretischen Anschauungen zurückgewirkt«. Parin stellte zusammen-fassend fest, was bei den ethnopsychoanalytischen Untersuchungen offensichtlich geworden ist: - daß es eine kulturunabhängige Normalität nicht gibt; - daß jede Abwehr (auch solche, die bei uns pathologisch genannt werden) unter Umständen Ich-synton ist; - daß nicht nur die Erlebnisse der frühen Kindheit, sondern in hohem Masse die Adoleszenz und gesellschaftliche Einwirkungen auf das erwachsene Individuum das Seelenleben tiefgehend mitbestimmen; - daß dem Analytiker Rollenerwartungen und Rollenprojektionen zukommen, die in die Analyse einbezogen werden müssen, damit sich die Übertragung jeweils optimal entfalten und äußern kann; - daß sich eine genügende emotionale Offenheit nur einstellt, wenn der Analytiker es zuläßt, die genannten Gegebenheiten zu beachten.

Die Erfahrungen in der fremden Kultur haben die Wahrnehmung für die Verhältnisse in der eigenen Gesellschaft geschärft. Die psychoanalytischen Untersuchungen bei den Dogon und den Agni hatten die Wirkung der gesellschaftlichen Kräfte im Individuum unmittelbar deutlich werden lassen. Diese Erfahrungen schufen die notwendige Distanz, um bei der psychoanalytischen Arbeit in der eigenen Kultur die komplexen gesellschaftlichen Prozesse zu erfassen und in die psychoanalytische Theorie und Praxis miteinzubeziehen. Auf der theoretischen Ebene wurde diesen Erfahrungen mit dem Modell der Anpassungsmechanismen des Ichs Rechnung getragen. Die Anpassungsmechanismen entlasten »das Ich in ähnlicher Weise von der ständigen Auseinandersetzung mit der Außenwelt ... wie die Abwehr-mechanismen das gegenüber den abgewiesenen Triebansprüchen leisten«. Nun wurde dem Funktionieren von Anpassungsmechanismen in der eigenen Kultur nachgegangen, was zur Elaborierung der »Identifikation mit der Ideologie einer Rolle« führte und die Phänomene der Macht und Herrschaft ins Blickfeld rückten. Damit konnte die soziale Umwelt nicht mehr wie bisher als unveränderliche Größe angesetzt werden, sondern es war möglich, unterschiedliche soziale und gesellschaftliche Gegebenheiten und Verhältnisse in der Struktur und für die Funktion des Ichs zu studieren und so die Leistungen des Ichs in einer sich verändernden und auf es einwirkenden Umwelt zu bestimmen. Diese »ethnopsychoanalytische« Erweiterung der Psychoanalyse ermöglichte eine umfassendere psychoanalytische Untersuchung des Einzelnen in seiner Gesellschaft. Die Hindernisse bei der Ausarbeitung des Verfahrens lagen nicht auf der theoretischen Ebene oder in den Grundannahmen der psychoanalytischen Theorie, die in ihren Ansätzen, etwa dem Konzept der Verdrängung oder der Auffassung des Über-Ich, die Wirkung gesellschaftlicher Kräfte berücksichtigt hatte, sondern vielmehr in den Umständen, unter denen die psychoanalytische Forschung in der eigenen Kultur betrieben wurde: »Der psychoanalytische Beobachter gehörte immer der gleichen Gesellschaft und oft der gleichen Klasse an wie sein Analysand, den er untersuchte, und beide hatten mehr oder weniger die gleiche Sozialisation durchgemacht. Die nötige Distanz zur Erfassung gesellschaftlicher Prozesse war kaum zu gewinnen. Zumindest diese eine Schwierigkeit fällt weg, wenn man das Instrument der Psychoanalyse auf Angehörige eines anderen Volkes anwendet, besonders wenn man sich damit außerhalb dessen begibt, was man den 'abendländischen Kulturkreis' genannt hat. Dann tritt der Zusammenhang gesellschaftlicher Einrichtungen und Prozesse mit psychischen Strukturen und Funktionen ungleich klarer hervor«. Bei den Forschungen in Westafrika war es notwendig, »die jeweilige gesellschaftliche Wirklichkeit unserer Gesprächspartner von Grund auf neu zu studieren«. Wie tief Gesellschaftliches in die Psyche jener Menschen eingriff, haben die aus den Beobachtungen hervorgehenden Annahmen über die psychischen Strukturen und Funktionen bei den Dogon und Agni gezeigt. Analog dazu sollte der Analytiker bei den Patienten seiner eigenen Kultur erkennen können, »welche Einflüsse die Makrosozietät eines Volkes, einer Klasse, einer sozialen Schicht auf seinen Analysanden ausgeübt hat und noch ausübt. Er ums in Betracht ziehen, daß ein Beamter nicht nur nützliche organisatorische Funktionen hat, sondern daß er Mitmenschen durch seine Macht unterdrückt, daß ein Unternehmer nicht nur einen interessanten und initiativen Beruf hat, sondern auch Herrschaft ausübt und Ausbeutung betreibt, daß ein Industriearbeiter nicht nur eine eintönige manuelle Beschäftigung ausübt, sondern dabei das Ausführungsorgan eines ihm fremden und feindlichen Interesses ist. Erst mit solchem Wissen kann die Ich-Analyse an die Deutung der zur Anpassung dienenden Mechanismen herangehen; das heißt, es können jene Anteile des Ich analysiert werden, die durch Angleichung geformt oder deformiert worden sind«. Die Aufgabe, das Zusammenspiel psychischer Vor-gänge und gesellschaftlicher Prozesse mit den Mitteln der Psychoanalyse zu erfassen, hat in der psychoanalytischen Bewegung Tradition. Sigmund Freud versuchte in seiner »Massenpsychologie und Ich-Analyse« im Jahre 1921 eine Antwort auf diese Fragestellung zu finden und legte damit den Grundstein zur psychoanalytischen Sozialpsychologie. Im 1923 ausformulierten Strukturmodell (Es, Ich, Über-Ich) vermittelt das Über-Ich die von der sozialen Realität ausgehenden Verdrängungen. Ein Teil der sozialistischen und kommunistischen Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen hatten ein politisch motiviertes Interesse an der wissenschaftlichen Aufklärung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft und unternahmen verschiedene Versuche einer Konzeptualisierung (Otto Fenichel, Wilhelm Reich, Siegfried Bernfeld, Erich Fromm, Edith Jacobson, Annie Reich und andere). Die Ethnopsychoanalyse kann auch in historischer Perspektive als Teil des Themas »Freud und die Linke« angesehen werden, insofern ihre Entstehung und Entwicklung mit der Tradition derjenigen Fragestellungen verknüpft ist, mit welchen die linken Freudianer sich bemühten, das Wechselspiel zwischen Individuellem und Gesellschaftlichem zu erforschen. Denken Sie dabei an Siegfried Bernfelds 1925 erschienenen Essay »Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung« oder an Wilhelm Reichs 1933 veröffentlichte Studie »Massenpsychologie des Faschismus«, so haben Sie zwei Beispiele, die auf den Erkenntnissen von Freuds »Massenpsychologie und Ich-Analyse« aufbauen. Der Ansatz, über die Anpassungs-mechanismen des Ichs zur Psychoanalyse gesellschaftlicher Prozesse zu gelangen, hebt sich von anderen Versuchen dieser Art dadurch ab, daß er es mit den Mitteln der Psychoanalyse selbst, ihrer Methode und Theorie, unter Beibehaltung des Trieb- und Konfliktmodells der Psychoanalyse, leistet. Die Psychologie des Ichs wurde so ausgebaut, daß das Wirken gesellschaftlicher Prozesse dort aufgeklärt werden konnte, »wo sie sich jedenfalls bemerkbar machen: im Seelenleben des Einzelnen«. »Es sind die gesellschaftlichen Strukturen selbst, die sich in Ideologien übermitteln und im Ich zur psychischen Struktur geworden (zeitweise) unser Fühlen, Denken und Handeln bestimmen. Unser Ich handelt als Agent der Gesellschaft, deren Einrichtungen eine neue Qualität, die psychische, angenommen haben. Diese Aussage tönt nicht neu. Soziologen haben das immer schon gesagt. Nur hatten wir Psychoanalytiker gute Argumente gegen die Kränkung, die darin liegt, daß wir nun auch der sonst so feindlich entgegenstehenden Gesellschaft, der wir andererseits durch den Eros verbunden sind, im Innern unseres seelischen Haushalts begegnen und ihr oft gar bewußtlos gehorchen sollen«. Mit der Aufgabe der Rückgewinnung der inneren und der äußeren Realität sind Analysand und Analytiker im Verlauf der analytischen Prozesses gleichermaßen befaßt. Beide sind den Kränkungen der versagenden und den Verführungen der lustspendenden Wirklichkeit ausgesetzt. Beiden geht es darum, wie es Freud als Schlußsatz in den »Studien über Hysterie« formulierte, das »hysterische Elend in das gemeine Unglück zu verwandeln«, gegen das man sich schließlich gemeinsam zur Wehr setzten kann.
 
 

Michael Molnar

Freud's »Kürzeste Chronik«:

Vorgeschichte einer Antibiographie
 
 

Ein gewisser Roy Winn aus Australien schrieb einmal an Freud, er solle eine intimere Autobiographie schreiben. Freud lehnte höflich ab; in seiner Antwort vom 23. April 1933 schreibt er: »Ich persönlich erwarte von der Welt nur, daß sie mich in Ruhe lasse und ihr Interesse lieber der Psychoanalyse zuwende.« Ich lasse diese Aussage ohne Kommentar, oder vielmehr ich lasse sie als Kommentar zu meinem Vortrag so stehen.

Historiker dürfen nicht zu viel Phantasie haben, mindestens nicht in ihren Publikationen, diese sollten sachlich sein. Ihre Forschungen dagegen sind oft phantasievoll bis phantastisch. Und vielen Historiker gemein ist die Phantasie von der Entdeckung erstaunlicher Dokumente, tief versteckt in Archiven. Und wenn diese Archive dann noch Freud-Archive sind, und wenn die Leiter dieser Archive allerlei Verbote und Beschränkungen erlassen haben, dann fängt diese Phantasie erst richtig an zu florieren. Forscher träumen von verlorenen Liebesbriefen, hoffentlich an die Schwägerin, wenigstens aber an die Verlobte, sie träumen von der immer noch gesperrten sogenannten »Geheimen Chronik«.

Ich kann nicht behaupten, ganz immun zu sein gegenüber der Faszination solcher Geheimnisse, aber um fasziniert zu sein, muß man erst einmal wissen, was bereits bekannt ist und was noch unbekannt. Als ich im Jahre 1986 meine Arbeit im Freud Museum in London aufnahm, war ich noch nicht Historiker und wußte viel zu wenig vom Zustand der Freud-Forschung, um das beurteilen zu können. Zu jener Zeit war man dabei, die Archive zu räumen; ich war der einzige im Gebäude der genügend Deutsch konnte, und wurde deswegen gebeten einige Blätter, die der Kustos in einer Schreibtischschublade gefunden hatte, durchzulesen und zu identifizieren.

Es waren die 20 Seiten der »Kürzesten Chronik«, eine Art Notiztagebuch von Freuds letztem Jahrzehnt, von 1929 bis 1939. Es war keineswegs eine geheime Chronik und die Blätter enthielten keine skandalösen Geschichten, obwohl man das auf den ersten Blick noch nicht sagen konnte, da die Notizen sehr kurz und rätselhaft sind. Und weil sie so rätselhaft waren, wurde ich sehr schnell von ihnen eingenommen. Als ich 4 oder 5 Jahre später mit enträtseln fertig war, war ein Buch daraus geworden und ich genoß den Ruf eines Historiker und Spezialisten. So kam das Ganze. Sicher ist, das ich jetzt mehr über die Familie Freud weiß, als über meiner eigene.

Zuerst sollte ich erzählen, was die Chronik eigentlich darstellt.. Wie gesagt, es ist kein geheimes Tagebuch, nichts Herzzereißendes findet sich darin. Eine Chronik ist ein neutrales Register von Vorgängen, persönlich oder historisch. Freuds Chronik notiert seine letzte zehn Jahre, d.h. die letzten Jahre in Wien, die wachsende Gefahr aus Nazi-Deutschland, den Anschluß, seine Emigration nach England. »Ein gemeines, unehrliches Jahrzehnt« nannte es der Dichter W.H. Auden, und auch heute noch fällt das Lesen nicht leicht, denn wir leben noch immer irgendwie im Schatten jener Zeiten. Wir fürchten Wiederholungen, sicher nicht ohne Grund.

Indem ich nun meine Arbeit an der Chronik beschreibe, will ich auch verwandte Themen wie »Biographie« und »Autobiographie« diskutieren. Oft gibt es irgend etwas - sei es persönliche oder politische Übertragung oder andere Sympathien -, das ein bestimmtes Thema für einen Forscher anziehend macht. Obwohl es reiner Zufall war, daß man diese Chronik in meiner Gegenwart ans Tageslicht zog, gab es Gründe, warum ich eben in diese Forschung »verstrickt« wurde. Meine Eltern und ihren Familien hatten unter denselben Verhältnissen gelebt wie Freud. Mein Vater wohnte in Freuds Wien der dreißiger Jahren. Seine Familie waren assimilierte und nichtreligiöse Juden. Sie wurden wie Freud nach dem Anschluß in Wien eingesperrt, und mein Vater konnte sich erst im letzten Moment retten. Seine Eltern, die zu alt waren, um ohne ausländische Unterstützung Einreisevisa zu bekommen, blieben zurück. Obwohl das alles vor meiner Geburt geschah, wuchs ich auf mit dem Gefühl, das ich von meiner Eltern übernahm, einer Falle entkommen zu sein. Vorher wollte ich niemals in diese Falle der Familiengeschichte blicken. Indem ich nun an Freuds Chronik arbeitete, zwang ich mich - obwohl sozusagen aus zweiter Hand - mich mit dieser Familiengeschichte auseinanderzusetzen.

Man hat mir gesagt - unter anderem auch der berühmte Historiker Peter Gay -, daß diese Chronik ein triviales Dokument sei, und das es sich nicht lohne, sie herauszugeben. Offensichtlich teilen viele diese Meinung, denn niemand vor mir hatte versucht sie zu veröffentlichen, obwohl sie den Historikern bekannt war. Auf den ersten Blick verspricht sie wirklich nicht viel; sie schaut eher aus wie eine Einkaufsliste oder ein Filofax aus: eine Reihe rätselhafter Worte, Namen, Treffen, Geschenke, politische Vorgänge - alles nur mit 2 oder 3 Worten dargelegt, wahrscheinlich nur um den Benutzer daran zu erinnern. Es war dieser rätselhafte Aspekt, der mich anfangs interessierte und ich begann die Forschungen fast wie ein Spiel, eine Art historisches Kreuzworträtsel, bei dem man die leeren Felder ausfüllen muß.

Nehmen wir zum Beispiele das heutige Datum im Jahre 1938. Am 23. Juni waren knapp 18 Tagen seit Freuds Ankunft in England vergangen. Die Notizen an diesem Tag lauten: »Prinzeß - Cyprischer Kopf - Besuch der R.S. - Filme.« Das erste Wort ist klar: »Prinzeß« bedeutet Prinzeß Marie Bonaparte, eine glamouröse und interessante Frau, nicht nur Sprößling der Familie von Napoleons Bruder, sondern auch Frau des Prinzen Georg von Griechenland.

Nebenbei bemerkt, wegen ihr mußte ich zweimal mit der Verlagszensur kämpfen. In meinem Kommentar schrieb ich, daß sie eine Adelige sei, aber »nichtsdestoweniger« eine höchst intelligente Frau. Der amerikanische Herausgeber wollte - vielleicht wegen seiner snobistischen Tendenzen - das Wort »nichtsdestoweniger« streichen. Als Christfried Tögel das Wort »nevertheless« ganz korrekt ins Deutsche übersetzte, wollten die Leute vom Stroemfeld Verlag - die ich mir bis dahin nicht als Verteidiger der Monarchie vorgestellt hatte - genau dasselbe machen.

Also, Marie Bonaparte begann 1926 eine Analyse bei Freud, wurde selbst Analytikerin, und benutzte später ihr Geld und ihren Einfluß, um die Französische Psychoanalytische Gesellschaft aufzubauen. In den dreißiger Jahren wurde sie zu einer engen Freundin Freuds; man könnte sagen, daß sie Ferenczis Stelle einnahm.

Ich muß erwähnen, daß die Chronik hier, wie fast überall, nur den Namen enthält - sie sagt nicht, ob es sich um einen Besuch oder Anruf oder Brief oder was auch immer handelt. Das muß man meistens selbst herausfinden.

Die nächsten Worte - »Cyprischer Kopf« - haben sicher mit Freuds Antiquitätensammlung zu tun. Jeder, der die Bilder von Engelmann, die er im Mai 1938 in Berggasse aufnahm, gesehen hat, weiß, das Freud in einem selbstgemachten Museum wohnte. Zu dieser Zeit aber, kurz nach seiner Ankunft in England, lebte er ohne seine Sammlung, denn sie war vor der Auswanderung am 4. Juni verpackt worden und wartete in einem Lager, bis man sie verschickt werden konnte. Aber, wie Freud in einem Brief an Eitingon schrieb, »die Gangster sind nicht zu berechnen«, und er zweifelte, ob er seine geliebte Sammlung jemals wiedersehen würde. Diese Sammlung war ein Stück von ihm, das er zurückgelassen hatte: erst wenn sie in England sei, sagte er, würde er sich wirklich »nazifrei« fühlen.

Alle seine Besucher wußten, wie sehr er Antiquitäten liebte, und sie wußten auch, daß der Weg zu Freuds Herzen am besten durch eine Antiquität geebnet würde. Nur zwei Tage später finden wir den Eintrag »Mrs Gunn mit ägypt. Antiqu.«. Unter den Adressen in Freuds englischem Adreßbuch sieht man die eines Antiquitätenhändlers aus Nord-London, und in einem anderen Notizbuch, in dem er auch Besucher eintragen, findet sich der Name des berühmten Kunsthändlers Kalman. Marie Bonaparte war reich und dazu auch Prinzessin von Griechenland, hatte also Zugang zum Pariser griechischen Antiquitäten-Markt. Sie pflegte Freud Sachen mitzubringen, wann immer sie ihn besuchte. Später im selben Jahr schenkte sie ihm eine Bronze-Venus. Auch scheint sie es gewesen zu sein, die ihm die schöne griechische Vase mitbrachte, die später zu Freuds Urne wurde.

Man könnte vieles über Marie Bonaparte sagen, aber hier will ich nur das, was sich in der Kürzesten Chronik findet, mitteilen. In den zehn Jahren der Chronik wurde sie nur dreimal Marie genannt, in alle anderen 26 Erwähnungen nennt Freud sie entweder Prinzeß oder Prinzessin. War er ein Snob? Oder erinnerte er sich an die Liebesbriefe an seine Verlobte von vor mehr als 50 Jahren, in denen er seine zukünftige Braut »Prinzessin« nannte? Ich überlasse es anderen, Schlußfolgerungen zu ziehen.

Die nächsten Worte in diesem Eintrag lauten »Besuch der R.S.« Das ist die weltbekannte Royal Society. Zwei Jahre früher, am 30. Juni 1936, wurde Freud zum Ausländischen Mitglied der Royal Society ernannt - »die höchste wissenschaftliche Ehre Englands und, nehme ich an, der Welt« schrieb Ernest Jones. Was hier im Juni passierte, war das zwei Mitglieder der Gesellschaft Freud das Charter-Buch in sein neues Heim brachten. Das war schon an und für sich außerordentlich, wie die Londoner »Times« in einem Bericht hervorhob, denn normalerweise verließ das Buch niemals den Sitz der Royal Society im Burlington House. Nur der König im Buckingham Palace besaß dieses besondere Privileg. Also war es für Freud eine doppelte Ehre. In dem Film heute abend werden Sie diese Ehrung sehen können. In ihrem Kommentar zur Filmszene, in der Freud mit den Vertretern der Royal Society im Garten erscheint, sagt die Anna Freud schlicht »that was a very nice moment«. Und sie macht uns aufmerksam darauf, das die Unterschrift Charles Darwins, einer von Freuds Vorbildern, auf der selben Seite steht.

Um dieses Ereignis gibt eine Merkwürdigkeit. Das Buch mußte zu Freud gebracht werden, weil er anscheinend zu krank war, um ins Burlington House zu fahren. In der Chronik ist Gesundheit, oder ehe Leiden, ein Hauptthema und sehr gut dokumentiert, jedoch scheint um diese Zeit nichts Erwähnenswertes zu geschehen. Und im Film sieht Freud ganz heiter und rüstig aus, auch wenn man die vielleicht unrichtige Filmgeschwindigkeit berücksichtigt. Außerdem hatte der Freud zwei Wochen früher keine Schwierigkeiten gehabt, das Haus zu verlassen, um im Tierheim in Notting Hill seinen geliebten Hund Lün, der dort in Quarantäne war, zu besuchen. Und das war erheblich weiter als Burlington House. Vielleicht können wir daraus auf Freuds Einstellung zu Werten schließen; sie waren für ihn sehr relativ.

Die Zeitschrift der Royal Society berichtete, daß auch Anna Freud und Prinzeß Marie Bonaparte die Society Mitglieder empfingen. Und es war wahrscheinlich die Prinzessin, die die Zeremonie auch filmte. Sie war eine Photoamateurin und die Hälfte des Filmes heute abend ist ihr Werk. Da sieht man auch eine ganz komische Szene, in der sie in der Berggasse nervös auf ihre analytische Stunde wartet (wahrscheinlich hat das ihre Tochter Eugenie gefilmt).

Das letzte Wort dieses Eintrags für den 23. Juni ist »Filme«, bedeutet aber wahrscheinlich nicht die Aufnahme sondern eine Vorführung von Filmen, die auf vorigen Besuchen aufgenommen worden waren. Es war nicht die erste Filmvorführung, denn schon am 14. November 1937 liest man den Eintrag »Prinzessin Kinovorstellung.«

Bei der Beschreibung dieses Eintrags, habe ich die Frage beiseite gelassen, auf welche Weise ich Hintergrundinformationen recherchiert habe. Meistens war dies ganz einfach. Zuerst habe ich in den wichtigsten Biographien nach möglichen Daten gesucht, dann die Korrespondenz um diesen Tag durchgesehen. Das klingt vielleicht etwas zu systematisch. Oft spielen Glück oder Zufall eine Rolle. In diesem Fall, z.B., gibt es einen Brief von Martha Freud über diesen Tag, den ich auf systematische, Wege niemals gefunden hätte. Erstens weil er im Archiv der Library of Congress, für das es noch kein detailliertes Verzeichnis gibt, und zweitens weil er im existierenden Verzeichnis unter einem falschen Namen eingetragen ist. Da ist der Brief als von Martin Freud an Lilly Marlé aufgenommen. Doch als ich ihn sah, erkannte ich sofort Marthas Schrift (Das ist einer der Vorteile, wenn man sich länger mit dem Material beschäftigt). In diesem Brief schreibt Martha, daß die Prinzessin 3 Tage bei ihnen sein wird und fügt hinzu » ... also von Sommerruhe nicht viel zu spüren!« Dies macht, glaube ich, den Eindruck deutlich, den diese königliche Frau auf andere machte. Auch spürt man hier Marthas Gleichgewicht und Humor, denn der Brief wirkt keineswegs bitter oder böswillig.

Obwohl ich jetzt einige Schlüsse über Persönlichkeiten und Verhältnisse ziehe, wollte ich das im Buch eigentlich nicht machen. Ich wollte einfach nicht spekulieren - und das hängt mit meiner Vermeidung der Biographie zusammen. Man könnte zwar denken, das einzelne Einträge eher trivial sind und sich daraus kein Thema ergibt. Eine Biographie dagegen strebt der Bedeutung entgegen; sie beschreibt ein Leben mit unter einem Thema, sie verbindet zufällige Ereignisse zu einer großen Unternehmung, die ein bestimmtes Leben auszeichnet. Die Frage, die sich bei der Arbeit an dieser Chronik stellte, war, ob man die vielen kleinen Vorgänge, die sich im letzten Lebensjahrzehnt Freud ereigneten, von seiner großen Unternehmung trennen kann, sie aber trotzdem von Wert bleiben.

In gewissem Sinne ist es unmöglich, den Mann Freud von seiner Sache zu trennen; er und die Psychoanalyse sind untrennbar, und deswegen ist diese Frage nicht ganz richtig gestellt. Ich spreche von der Pflicht des Herausgebers: inwiefern ist er gezwungen, implizite oder versteckte Verbindungen hervorzuheben? Soll er Richter werden, verurteilen, rühmen oder moralisieren?

Am Anfang wollte ich überhaupt nichts Eigenes hinzufügen. Ich hatte lediglich vor, die Einträge durch Zitate zu erklären, ohne jegliche äußere Einmischung. Dies war eine durchaus literarische Idee und sie stammt von Borges oder Walter Benjamin. Leider ließ sie sich nicht umsetzen - es gab nicht genügend Briefwechsel oder andere Unterlagen, um die mehr als 1000 Einträge zu dokumentieren. Es erhob sich auch die Frage, ob ich erwarten konnte, daß die Leser den historischen Hintergrund kennen.

Bei rein akademischen Büchern entstehen diese Fragen erst gar nicht, denn man weiß mehr oder weniger für wen man schreibt. Eigentlich wußte ich das auch, aber meine Vorstellung deckte sich nicht mit der des Verlags. Es war nämlich ein kommerzieller Verlag, der das Buch herausbrachte, und ich wurde von ihm gezwungen, für die sogenannte breite Öffentlichkeit zu schreiben. Und während ich schrieb, bekam ich vom Verlag ständig widersprüchliche Anweisungen. Ich sollte z.B. alle psychoanalytische Termini erklären, auf der anderen Seite dagegen sollte ich allerlei Einzelheiten, die man als zu technisch ansah, weglassen; auch sollte ich meine Kommentare kürzen. Dann waren sie wieder zu knapp, und ich sollte mehr schreiben u.s.w. Wegen dieser Widersprüche entschied ich mich, das Buch in zwei Ebenen aufzuteilen, eine für die besagte breite Öffentlichkeit und eine andere für die viel engere Öffentlichkeit der Freud-Historiker und Freud-Forscher.

Es war aber die schon erwähnte Frage der Biographie, die die meisten Streitereien mit dem Verlag verursachte. Man erwartete nämlich von mir, daß ich aus den verstreuten Einträgen eine Art Erzählung, eine ordentliche Geschichte machte. Natürlich versuchte ich zu erklären, daß das unmöglich sei: es gibt keine thematische Zusammenhänge - der Zufall regiert. Man braucht nur eine Seite der Chronik anzuschauen, um das zu verstehen. Ich wollte auch keine Jahreseinführungen schreiben, wie man es von mir auch verlangte, denn die Aufteilung des Lebensstroms nach Jahren ist eine ziemlich künstliche Sache. Doch hier gab ich nach, und meine Strafe dafür war, daß diese 10 Seiten mir fast soviel Mühe und Sorge bereiteten, wie alles andere zusammen. Ironischerweise wurden diese Jahreseinführungen oft gelobt. Mir wurde klar, das ich überhaupt kein Gefühl für die Wünsche dieser berühmten breiten Öffentlichkeit habe.

Wovon ich träumte war, aus der Polyphonie der Fußnoten und Annotationen, eine Antibiographie zusammenzustellen. Hierin wollte ich die Widersprüche der Chronik nicht vermindern, was normalerweise das Ziel von Erklärung und Kommentar ist, sondern ich wollte sie unterstreichen. Am 29. Januar 1933 liest man den Eintrag: »Ruth Grippe, Hitler Reichskanzler«. Oder am 18. Mai 1934 nur ein einziges Wort »Gardenia«, also eine Blume, wahrscheinlich ein Geschenk und eine Erinnerung an die Tage in Rom vor fast 30 Jahren. Hier denkt man wieder an den Besuch bei Lün 1938 und sein Verhältnis zum Besuch der Royal Society. Solche eigenartigen und zufälligen Notizen wollte ich nicht zu einer zusammenhängenden Geschichte machen. Ihre Bedeutung liegt eben gerade darin, daß sie das Wichtige und das Willkürliche naiv nebeneinander stellen. Die Biographie hat normalerweise Schwierigkeiten mit unbedeutende Tatsachen. Sie ist eine sehr konventionelle und altmodische literarische Form. Man muß zum Roman, ich denke z.B. an Sternes »Tristram Shandy« oder an Joyces »Ulysses« greifen, um eine echte Spiegelung des Chaos des Leben zu finden. In Freuds komischer Chronik wollte ich den Kern des Absurden und Willkürlichen darstellen.

Aber - die Öffentlichkeit verlangt anscheinend Geschichten, und ein Verlag muß ihr gefällig sein. Während der Arbeit an dem Buch spielte der Titel des englischen Ausgabe deswegen eine außerordentliche Rolle. Ich erfuhr sehr bald, daß das Buch unmöglich »Kürzeste Chronik« heißen konnte, das Wort »Tagebuch« mußte im Titel vorkommen. Die Rechte am Manuskript gehörten den Sigmund Freud Copyrights, dessen Leiter dieses Wort nicht erlauben wollte. Im Laufe der nächsten 3 Jahre kämpfte der Verleger hartnäckig um das Recht, diesen Titel zu benutzen und letzten Endes gaben die Sigmund Freud Copyrights nach. In Frankreich ist der Buchtitel korrekt, aber der Untertitel lautet »intime Notizen«. Kurz, überall muß die Öffentlichkeit glauben, sie werde intime Geheimnisse präsentiert bekommen.

In gewissem Sinne war ich einverstanden, einen intimen Freud zu zeigen, aber eher unter dem schon erwähnten antibiographischem Aspekt. Bei meiner Arbeit mußte ich fast die gesamte Freud-Literatur, oder wenigstens soviel wie möglich, durchschauen, und hatte bald genug vom ewig wiederkehrende Urbild des strengen Großvaters. Diese Bild von Freud entwickelte sich aus den 2 oder 3 Porträtphotos, die seiner Schwiegersohn Max Halberstadt von ihm machte, und die man überall sehen kann. Im Buch wollte ich auch eine andere Seite von Freud zeigen, nicht den allzu bekannten strengen Professor, sondern den Familienmenschen. Deswegen suchte ich auch Photos aus, auf denen er lachte oder mit den Hunden spielte, eben die intimeren Augenblicke seines Lebens.

Hier stieß ich übrigens auf etwas, das man die Tyrannei des Bekannten nennen könnte, also eine Art Zensur. Wenn man jemanden oder etwas sehr gut kennt, will man von einer neuen oder unbekannten Seite nichts wissen. Ich hatte ein bestimmtes Photo sehr gern, auf dem ein lachender Freud mit der kleinen Tochter einer Verwandten spielt und wollte es ganz an den Anfang des Buches stellen. Darüber mußte ich lange mit dem Designer ringen, denn für ihn war das nicht sein Freud, der Denker und Meister.

Oft werden die Einträge vom Zufall regiert, aber nicht immer: manchmal gibt es versteckte Verbindungen zwischen ihnen. Ein Beispiel: Am 22. Oktober 1936 liest man »Datum v. Fließ' Geburtstag«. Fließ war der wichtigste Freund Freuds zur Zeit der Selbstanalyse. Er war HNO-Arzt und hatte unter anderen eine merkwürdige Theorie zur Verbindung von Nase und Geschlechtsorganen. In Freuds Briefwechsel mit ihm kommen Nasen und Nasenblutungen häufig vor. Der nächste Eintrag vom 27. Oktober lautet nun »Nasenblutung«. Ein zweites Beispiel: Am 1. Mai 1933 schreibt Freud: »Sperre der Stadt gegen Umzüge«. Dies bezieht sich auf eine Verbot von Demonstrationen durch die Dollfuß-Regierung, nachdem linke Parteien, die Sozialdemokraten und die Kommunisten bekanntgaben hatten, daß sie den 1. Mai mit Umzügen feiern wollten. Freud verbrachte jedes Jahr mit seiner Familie den Sommer entweder in Grinzing oder einem anderen Vorort von Wien, da es dort kühler war und man einen Garten hatte. Und gerade nach diesem Eintrag vom 1. Mai liest man am 4. Mai, mit großen Buchstaben geschrieben, »Hohe Warte«, die Adresse der Sommerwohnung. Und in etwas kleinerer Schrift hat Freud davor das Wort »Umzug« eingeschoben., so daß da der Eintrag jetzt »Umzug Hohe Warte« lautet. Das ist ein Beispiel für den »esprit d'escalier« der Franzosen, d.h. ein Treppenwitz, der Witz, den man spät, schon auf der Treppe, nachdem man das Zimmer schon verlassen hat, erfindet. Wahrscheinlich ist das hier auch bei Freud so gewesen, als er später beide Einträge zusammensah. Man kann es auch als politischen Witz eines unpolitischen Menschen ansehen.

Hier sieht man auch wie sehr man ständig zwischen den Zeilen lesen muß. Je kürzer der Eintrag ist, desto mehr Zweideutigkeiten enthält er. Wenn man bloß einen Namen liest, weiß man anfangs überhaupt nicht, worum es sich handelt. Es gibt einen für mich besonderen ärgerlichen Fall mit Thomas Mann. Hier hätte man denken können, daß ein solcher Schriftsteller eine Zusammenkunft mit Freud unbedingt in seinem Tagebuch notieren würde. Also - am 7. Mai 1936 steht bei Freud der Name »Thomas Mann«. Aber wenn man in Manns Tagebüchern nachschlagt, findet man zwischen dem 6. und 13. Mai eine Lücke. Und weder Freud noch Mann, diese zwei unermüdlichen Schriftsteller, erwähnen den Tag an andere Stelle. Das nächste Mal kommt »Thomas Mann« am 15. Januar 1937 vor. Hier aber gibt es einen Eintrag für den Tag in den Manns Tagebuch. Er notiert seine Ankunft in Wien, seine Unterkunft im Hotel Imperial, und seinen Abschied; auch das es Telefonanrufe gab. Aber kein Wort von Freud. Soll man annehmen, das er Freud nur per Telefon gesprochen hat?

Es gibt viele Fälle, wo weitere Nachforschungen Aufklärung gebracht hätten. Aber ich hatte 1100 Einträge zu kommentieren und der Verlag hat mir einen Termin gesetzt. Also mußte ich die Arbeit unvollständig abgeben. So ist es immer. Bei Mann und Freud wissen wir wenigstens etwas über das Verhältnisse zwischen beiden Männern. In einem anderen Fall blieb und bleibt es mir ein totales Geheimnis, worum es geht. Am 2. August 1935 steht »Rockefeller jr. Es gelang mir nicht, hier eine brauchbare Spur zu finden. Vielleicht hätte ich mich bei der Rockefeller-Stiftung bewerben und ein Stipendium für Nach-forschungen im Rockefeller-Archiv beantragen sollen?

Ich sprach vorhin von Biographie und Antibiographie. In einer Biographie erwartet man vom Herausgeber, daß er eine klare Meinung äußere. Er soll seinen Helden oder seine Heldin entweder verteidigen oder angreifen. Ich wollte mich aber in solche Angelegenheiten nicht einmischen, wollte vielmehr neutral bleiben »als verläßlicher Chronist«, wie es Freud einst selbst in einem Brief an Anna ausdrückte. Ich versuchte die Kommentare auf derselben Ebene wie die Einträge zu halten. Das gelang mir nicht immer. Irgendwo nannte ich Eva Freud, Olivers Tochter, Freuds liebste Enkelin. Das war nur eine Meinung: als Grund für sie waren mehrere Briefstellen, in denen er sie als sehr lieb bezeichnet, insbesondere eine Stelle, wo er von ihrer körperlichen und geistigen Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Heinele spricht, der ganz sicher in den zwanziger Jahren Freuds liebster Enkel war. Nach dem Erscheinen des Buches bekam ich jedoch von Sophie Freud, der Schwester Anton Walter Freuds, einen sehr lieben Brief, voll Lob für das Buch, aber mit einem Einwand. Warum, so fragt sie, habe ich Eva als liebste Enkelin bezeichnet, sie habe immer gedachte, sie sei das Freud liebste Enkelkind gewesen. Hier kann und will ich nicht versuchen zu entscheiden.

Wenn es um menschliche Beziehungen und Gefühle geht, gibt es meistens mehrere mögliche Standpunkte. In der Chronik könnte man die Beziehung zwischen Freud und Ferenczi als Beispiel nehmen. In seiner Freud-Biographie schreibt Jones, das Freud Ferenczi ganz und gar aufgegeben habe. Und in der Tat: es gibt ein paar Briefe, die ganz danach klingen. Kurz vor Ferenczis Tod dagegen gibt es einige Briefe Freuds an seinem ehemaligen Freund, in denen man Spuren der guten alten Beziehung findet. Jones, als verläßlicher Biograph, hatte seine eigene feste Meinung, und man muß immer aufpassen, wenn man seine Biographie liest, denn er spielte selbst eine bedeutende Rolle in dieser Geschichte und ist deshalb niemals objektiv. In seinen Briefen aus dieser Zeit sieht man, wie er Freud gegen Ferenczi aufhetzt, und das Wort Eifersucht ist hier durchaus am Platze.

Freud mag man verurteilen, weil er Berichte von Voreingenommen wie Jones oder Radó nicht kritisch hinterfragte. Ich wollte mich aber aller Urteile enthalten und sie dem Leser überlassen. Aus demselben Material kann der Leser nämlich ganz andere Schlüsse ziehen als ich. Und das ist sein gutes Recht.

Was mich besonders stört bei Biographien, ist, daß man zu einem endgültigen Urteil gelangen soll. Am Ende kommt eine Zusammenfassung - das Bild paßt zum Leben. Ich wünsche nicht unbedingt wie Freud, das man ihn in Ruhe läßt und nur seine Werke erforscht; ich wünsche aber wohl, daß die Biographen bescheidener sind und zugeben können, daß sie nur eine Seite ihres Helden beschreiben. Es geht nämlich auch anders. Biographien könnten z.B. polyphonisch sein, von mehreren Standpunkten aus geschrieben werden. Ich hatte mir die »Kürzeste Chronik« ursprünglich als zwei- oder dreiteiliges Buch vorgestellt. Der Kern selbstverständlich Freuds Notizen, dann die historischen Anmerkungen und Kommentar, die selbst wiederum geteilt sind in Haupttext und Fußnoten am Ende des Buches, und schließlich die Einleitung zum Buch und die Jahreseinführungen. Und wie so oft übrigens war die Einleitung das letzte, das geschrieben wurde.

Deswegen will ich auch jetzt mit einer Art Einleitung, die sehr autobiographisch klingen wird, enden. Während meine Arbeit an der Chronik fragte ich mich oft, warum ich jahrelang hartnäckig an dieser Arbeit gesessen habe; schließlich hatte ich auch mein eigenes Leben. Ich wußte bald genau, wann Freud wo war in den dreißiger Jahren, konnte aber manchmal kaum sagen, was ich selbst noch vor einer Woche gemacht hatte. Dazu kam, daß ich viel mehr über Freuds Familie wußte als über das Leben meiner eigenen Eltern und Großeltern. Obwohl auch sie, wie schon gesagt, unter ähnlichen Umständen wie Familie Freud gelebt und gelitten hatten.

Meine Mutter hatte unter derselben Bedrohung gelebt, nur in Berlin und nicht in Wien. Ihr Stiefvater, Jochen Klepper, hatte auch ein Tagebuch geschrieben. Keine Chronik, sondern wirklich ein richtiges Tagebuch, in dem er das Deutschland der dreißiger Jahre und den wachsenden Nazi-Terror detailliert beschrieb. Dieses Tagebuch wurde nach dem Krieg herausgegeben. Irgendwann hat meine Mutter mir erzählt, daß man einen Übersetzer ins Englische suche. Ich sagte nichts dazu. Nicht daß diese Tagebücher langweilig waren. Keineswegs. Aber ich spürte eine ganz bewußte Antipathie zu diesem Stiefgroßvater. Er war nämlich ein tief religiöser, und meines Erachtens tief neurotischer Christ, und seine Art deutsch-lutheranischen Glaubens war mir total fremd. Unter seinem Einfluß wurden meine jüdische Großmutter und meine Tante getauft. Im Jahr 1942, als die Deportation meiner Tante unvermeidlich war, brachten sie sich alle drei gemeinsam um.

Freud blieb viel zu lange in Wien, teilweise weil er alt war und wohl auch weil er langsam am Krebs starb. Wie viele andere, konnte er nicht an einer Nazi-Invasion glauben bis es zu spät war. Mein Stiefgroßvater dagegen lebte unter den Nazis seit 1933. Er blieb da, weil er arisch war und dachte, er könne seine jüdische Frau schützen. Zuerst gelang ihm das auch, denn er war ein bekannter Schriftsteller. Auch war er tief patriotisch. Als meine Mutter 18 Jahre alt war sah sie, daß sie Deutschland verlassen mußte und wollte mit ihrer jüngeren Schwester mitfahren. Sie war aber der Liebling ihres Stiefvaters, und der wollte sie nicht weglassen; außerdem war sie auch erst 16 Jahre alt. Er meinte, es sei zu früh für sie. So kam meine Mutter alleine nach England und ihre Schwester starb. Und mir kam es vor, und vielleicht kommt es mir noch immer so vor, als ob nicht die Nazis Schuld waren an ihrem Tod, sondern er, der Klepper, mit seinem verdammten Patriotismus und seiner Religion.

Hier nun habe ich eine Vermutung: Daß ich nämlich die Arbeit an der Chronik als Ersatz für die Beschäftigung mit meiner Familie angenommen und ausgeführt habe. Ich wollte die Geschichte neu schreiben, ohne ihre Tragik und Unvermeidlichkeit. Das Tagebuch von Klepper ist ein tragisches Werk, sein Ende ist von Anfang an unvermeidlich. Trotz Leiden, Krebs und aller anderen widrigen Umständen ist Freuds Chronik dagegen nicht tragisch. Ich wollte auch verhindern, daß man sie wie eine Tragödie liest. Deswegen habe ich das Erzählen einer konsequenten Geschichte vermieden. Das Ganze sollte wie eine Art Collage wirken und einen Weg in die Freiheit zeigen. Jetzt scheint es mir, als ob die Arbeit an der »Kürzesten Chronik« für mich eine Reaktion auf die Unvermeidlichkeit meiner Familiengeschichte war. Als ob ich sie auch würde neu schreiben können, diesmal unter dem Zeichen der Freiheit und Rettung. Auch deswegen habe ich ans Ende meiner Einführung folgendes Zitat von Freud gestellt: »Die Psychoanalyse zeigt uns den Faden, der aus dem Labyrinth führt.«
 
 
 
 

Helmut Junker

Freud und die Folgen:

Die Internationalisierung der Psychoanalyse
 
 

Gegründet wurde die Internationale Psychoanalytische Vereinigung in Nürnberg 1910. Der Ungar Sándor Ferenczi hielt die Rede, in der er zum Zusammenschluß der Analytiker aufforderte. In der kampflustigen und kriegerischen Sprache der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg forderte er die Teilnehmer auf, den Guerillakrieg de einzelnen in der Gesellschaft aufzugeben und sich als geschlossene Organisation der Entwicklung de Psychoanalyse zu widmen. Sigmund Freud war in Nürnberg 54 Jahre alt. Die wichtigsten Werke: »Studien übe Hysterie« (1895), die »Traumdeutung« (1900), »Zu Psychopathologie des Alltagslebens« (1901) und »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« (1905) waren veröffentlicht, die Grundlagen der Psychoanalyse geschaffen und in der Analyse mit Patienten praktiziert. Ebenfalls publiziert war die erste umfangreiche Fallgeschichte Freuds »Bruchstück einer Hysterie-Analyse« , der Fall »Dora« ( 1905 ) .

Die geistige Internationalisierung hat wenige Jahre früher bereits eingesetzt, als um 1907 Freud seine späteren engsten Mitarbeiter, den Deutschen Karl Abraham, den Engländer Ernest Jones, den Schweizer C. G. Jung und den Exilrussen Eitingon über das Burghölzli, die große Psychiatrische Klinik in Zürich unter Leitung von Egon Bleuler kennengelernt hatte. Neben Wien und Zürich entwickelten sich bald Berlin und London zu Zentren der psychoanalytischen Ausbildung und Praxis.

Die Internationalisierung führte auch zu Rivalitäten unter den ersten Analytikern, vorwiegend aus Wien gegen Zürich. Freud trennte sich schmerzlich und gewaltsam von seinen Mitarbeitern Stekel und Adler in Wien und brach die Beziehung zu C. G. Jung ab, den er ausdrücklich bereits zum Nachfolger seines Werkes ausersehen und in Briefen als »Kronprinzen« bezeichnet hatte.

Nur vier Jahre dauerte diese stürmische Entwicklungsphase der Psychoanalyse, bis sie durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914, fast von einem Tag zum anderen, unterbrochen wurde. Briefe aus Wien werden selbst vom kriegsverbündeten Deutschland geöffnet. Schon nach einem Kriegsjahr, 1915, hat Freud nur noch einen Patienten, die Ernährungslage in Wien spitzt sich kritisch zu und alle Mitarbeiter Freuds außer Rank, dem Sekretär und Verfasser von »Der Mythos von der Geburt des Helden« (1909) - sind an der Front, einschließlich seiner drei Söhne Martin, Ernst und Oliver.

Freud widmet sich intensiv analytischen Studien und es entstehen in der Kriegszeit die umfangreicher »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«, eine Zusammenfassung des bereits Erreichten, gewissermaßen der Bildungsroman für Psychoanalytiker wie früher der Roman Wilhelm Meister von Goethe für ein gebildetes Lesepublikum - worauf der kanadische Analytiker Patrick Mahony hingewiesen hat. Ferner entstehen die sogenannten metapsychologischen Schriften, in denen Freud Grundbegriffe der Analyse erläutert und dogmatisiert: Über Trieb und Triebschicksale [die Libidotheorie und die sexuelle Entwicklung), über die Verdrängung (der unerträglichen Triebspannungen und die Symptombildung) und schließlich zum Kernstück seiner Lehre: Das Unbewußte. Ebenfalls während des Krieges setzte Freud die begonnenen Technischen Schriften fort, eine Art vorläufiges Lehrbuch der Technik der Psychoanalyse, das bis über seinen Tod (1939) hinaus die einzige Praxisanleitung aus der Feder Freuds blieb und häufig als absoluter Kanon zur Technik der Analyse gebraucht und mißbraucht wurde. Freud selbst hatte die fünf Aufsätze ausdrücklich als »Ratschläge« bezeichnet.

Nach dem Ersten Weltkrieg wird 1919 der Internationale Psychoanalytische Verlag gegründet und die bereits herausgegebenen Zeitschriften Imago und die internationale Zeitschrift für Psychoanalyse erleben ihre Blütezeit. Inzwischen ist die erste Generation nach Freud herangewachsen und publiziert. Ich nenne aus dem engsten Kreis Abraham, Jones und Ferenczi, aus Wien Rank, Federn, Hitschmann und Reik, aus Ungarn Alexander, den Begründer der Psychosomatik, Roheim, dessen anthropologische Studien berühmt wurden, Hollos, der als einer der ersten der analytische Therapie der Psychosen angeht, Spitz, der zukünftige Kinderanalytiker, und Michael Balint, dem wir nach dem Zweiten Weltkrieg so viel verdanken und auf den ich noch ausführlicher eingehen werde. Aus England werden die Gebrüder Glover bekannt, aus Frankreich Laforgue und Marie Bonaparte. Die IPV besteht aus mehreren hundert Mitgliedern. Die Geschichte der Psychoanalyse hat begonnen und nur noch die Prominentesten können benannt werden, wenn man sich nicht mit der Geschichte in den einzelnen Ländern befaßt. Freud ist 1919 63 Jahre alt, bleibt Leiter der Bewegung, publiziert - man fährt aus England, Frankreich und vorwiegend den USA zu ihm zur Analyse, die vorwiegend Lehranalysen sind, und kritische Stimmen aus New York nennen ihn »den Papst in Wien«.

In diesen Jahren wandelt sich das sprachliche Gesicht der Psychoanalyse. Neben der originären deutschen Sprache tritt die englische. Die wichtigsten Werke Freuds, die gerade vor dem Weltkrieg erstmals ins Englische übersetzt wurden, erleben jetzt zu Beginn der zwanziger Jahre in den Vereinigten Staaten von Amerika eine sensationelle Entwicklung. Die Psychoanalyse löst gesellschaftlich eine Art Flächenbrand aus: Die Sexualtheorie, das Unbewußte, das Verdrängte, die analytische Traumdeutung - vor allem aber die Fehlleistungen des Alltagslebens dringen in das allgemeine Bewußtsein ein. Sie werden von einer multikulturellen Gesellschaft aufgesogen, popularisiert, verballhornt, verwässert - aber gewinnen Bedeutung. In Romanen, Filmen, in der Alltagspresse und auch in den Sensationsblättern finden Themen der Psychoanalyse Gestalt. So bietet man Freud an, einen jugendlichen Mörder in New York zu begutachten - er lehnt ab. Dennoch behielten die Ausbildungsinstitute in Wien, London und vor allem Berlin bis etwa 1930 absoluten Vorrang. Die Ausbildungskandidaten Freuds sollten in den USA dort die Institutsgründungen vorantreiben und dann Ausbildungen im Sinne Freuds durchführen. In der Auseinandersetzung um die Laienanalyse - ursprünglich konnte in Europa jeder akademisch Ausgebildete Analytiker werden - erleiden Freuds Ideen eine Niederlage. Ende der zwanziger Jahre verbietet ein amerikanisches Gesetz gegen die quacks (deutsch: Quacksalber) allen Nicht-Medizinern die Ausübung der Psychoanalyse. Damit hat die sogenannte Medizinalisierung der Psychoanalyse eingesetzt: Als Therapieform darf sie nur von Medizinern ausgeübt werden. Die kulturellen Leistungen auf dem Gebiet der Anthropologie, Massenpsychologie, Literatur - , Kunst, Wissenschaft und Religion verlieren an Bedeutung. Die Schubkraft der therapeutischen Kapazität der Psychoanalyse wird erhöht, sie dringt in nahezu alle Bereiche der Psychiatrie und später auch der Allgemeinmedizin ein.

Was geschah in Europa in diesen zwanziger Jahren? Eine äußerst wichtige Anwendung der Psychoanalyse hielt ihren Einzug: Die Kinderanalyse bzw. Kindertherapie und mit ihr die ersten Frauen, ihre Gründerinnen: Karen Horney, Helene Deutsch, Melanie Klein, auch E. H. Erikson, August Aichhorn und Siegfried Bernfeld. Anna Freud wird 27-jährig eine der ersten ausgebildeten weiblichen Mitglieder der Vereinigung, übrigens beim Vater analysiert. Die Freudsche Theorie, insbesondere die der kindlichen Sexualität und Ödipalität, die sich hauptsächlich auf die Entwicklung des Knaben bezogen hatte, erhielt in der sexuellen Entwicklung des Mädchens eine wichtige Weiterentwicklung, die schließlich auch die Rolle der Frau in einer nun nicht mehr patriarchalischen Gesellschaft neu definierte. Seit dieser Zeit ist die pädagogische Wirkung der Psychoanalyse nicht mehr aus den westlichen Kulturländern wegzudenken. Publizistischer Höhepunkt dieser Entwicklung wurde die 1936 erschienene und in alle Weltsprachen übersetzte - bis heute als Basisbuch der Kinderanalyse geschätzt und gelehrt Anna Freuds: »Das Ich und die Abwehrmechanismen«. Vor allem in den USA gelangte die psychoanalytische Pädagogik zu umfassender Geltung.

Ich kann auf die Entwicklung in Osteuropa hier nicht eingehen. Kurzfristig bestand jedoch in Moskau ein psychoanalytisches Institut, bevor es der Stalinismus hinwegfegte. In Odessa praktizierte Sabine Spielrein, von C. G. Jung in Zürich ausgebildet, Psychoanalyse.

In diesen dreißiger Jahren, noch zu Lebzeiten Freuds also, wird eine Veränderung in der Ausrichtung der Psychoanalyse deutlich, eine Verlagerung der Triebtheorie zu einer Ich-Theorie, worüber ich einige Sätze sprechen möchte, da die Unterschiede auch heute von theoretischer und praktischer Bedeutung sind: Bereits 1923 hatte Freud vor seiner schweren Krebserkrankung, gegen die er sich sechzehn Jahre lang bis zu seinem Tod 1939 mit aller geistigen Vitalität aufbäumte, »Das Ich und das Es« veröffentlicht. Bis dahin waren die Psychoanalytiker von einer Zweiteilung des »psychischen Apparates« ausgegangen, das Bewußte gegen das Unbewußte, wobei die Analyse dieses Unbewußte gegen die verdrängenden Kräfte wieder bewußt machen sollte. Jetzt hatte Freud eine Dreiteilung ausgearbeitet: Das Es, das die Triebkräfte umfaßte, das Überich, das die Kulturnormen, das Gewissen, die Einschränkung der Triebe durch die erforderlichen und erzwungenen Forderungen der Gemeinschaft umfaßte - und dazwischen das Ich, die vermittelnde Instanz. Sie kennen das Aperçu aus späterer Zeit: Wo Es war soll Ich werden. Das Ich sollte somit dem Individuum größtmögliche Autonomie geben, sowohl über die Triebe als auch gegen die Anforderungen eines zu unerbittlichen und grausamen Überichs im Sinne der Moralität oder des kulturellen Anspruchs. Freud selbst, nun 70-jährig, blieb jedoch skeptisch gegenüber der Reichweite menschlicher Entwicklung. Oft verwendete er das Bild vom Reiter und Pferd: Zwar soll der Reiter, das Ich, das Pferd, welches den Trieb darstellt, dominieren, doch nur allzu oft gehen die Pferde durch, handelt der Mensch triebhaft, unbesonnen und hilflos.

Wer wünscht seinem Kind nicht, daß es sich frei entwickelt und Ich-Stärke gewinnt? Die Wendung der Psychoanalyse zum Ich wurde daher von allen offenen, progressiven pädagogischen Richtungen bereitwillig aufgenommen. Besonders in einer multikulturellen Gesellschaft wie in den USA verhalf diese Idee zur Integration der rassisch und kulturell oft extrem verschiedenen Einwandererpopulationen. Neben der Medizinalisierung (dem Schwergewicht auf ärztlich ausgeübte Analyse) führte die jetzt so genannte Ich-Psychologie innerhalb der Psychoanalyse auch zu Veränderungen des Grundaufbaus und der Wirkungsweise der Psychoanalyse . War sie einmal als Bewegung der sexuellen Aufklärung und gegen gesellschaftliche Einschränkungen der Sexualmoral aufgetreten, war ihre Herkunft eindeutig aus der Pathologie der Hysterien, Zwangsneurosen und Phobien abgeleitet und durch die Analyse dieser Patientinnen und Patienten ausgearbeitet worden, so war jetzt eine Theorie der allgemeinen Persönlichkeitsentwicklung, also für die normale Entwicklung des Kindes ausgearbeitet. Damit war für aufgeklärte Eltern eine Leitschnur, eine Prophylaxe gegen Fehlentwicklungen verwendbar, konnte sie auch von staatlichen Institutionen, Krankenhäusern, Beratungsstellen gefördert werden und hielt Einzug in so gut wie alle soziale Einrichtungen, die sich mit Brennpunkten menschlicher Problematik befaßten. Alle Entwicklungen, die sich auf das Gesundheitssystem und die Einbindung in psychiatrische Leistungen bezogen, blieben Freud fremd, er bekämpfte sie bis zum Ende seines Lebens. Er verlangte eine unabhängige Psychoanalyse, mißtraute allen Einverleibungen, sei es in der Medizin, der Pädagogik oder Religion, fürchtete Verwässerung bis hin zur Auflösung. Einige Analytiker sind ihm bis heute in diese Auffassung gefolgt.

Als 1933 der Nationalsozialismus über Deutschland und dann über Europa hereinbrach, zerstörte er in kürzester Zeit das Gewebe der internationalen Beziehungen der Psychoanalytiker. Bereits Wochen nach der Machtübernahme im Januar war die Psychoanalyse als jüdische Wissenschaft verboten, verbrannte die Hitler-Jugend in Berlin Freuds Bücher. Ihr Feuerspruch lautete: Gegen seelenzerfasernde Überschätzung des Trieblebens, für den Adel der menschlichen Seele... übergeben wir den Flammen die Werke Sigmund Freuds. Es beginnt der Exodus der zumeist jüdischen Analytiker. Fenichel flieht über Frag nach Skandinavien, England und schließlich in die USA. Einige erreichen Holland als Übergangsland. Mit zunehmender Verfolgung werden die Vereinigten Staaten zum wichtigsten Fluchtland. Wenige, wie z. B. Kemper, finden in Südamerika ein neues Arbeitsfeld.

Mit dieser Vertreibung aus der sprachlich-kulturellen Verankerung wurden auch die gesellschaftlich-politischen Gruppierungen innerhalb der Psychoanalyse zersplittert. Über längere Zeit bestanden in Wien und Berlin Gruppierungen, die sich sozialdemokratisch, auch sozialistisch-marxistisch verstanden. Ihre berühmteste Figur: Wilhelm Reich. Aichhorn und Reik in Wien, auch Simmel und Jacobson in Berlin, waren bestrebt, die Ideen der Psychoanalyse für breitere Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen, bis hin in die sozialer Brennpunkte wie Jugendkriminalität und Strafvollzug. Freud selbst verfolgte einen neutralen Kurs, verstand die Psychoanalyse als überpolitisch im Sinne der parteigebundenen Interessen, beharrte auf ihrer Wissenschaftlichkeit.

In den Aufnahmeländern und verschärft mit Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 kämpften die exilierter Analytiker zunächst um ihr materielles Überleben. Ärzte mußten Krankenhauspraktika und Examina in englischer Sprache bestehen, bevor sie Analyse praktizieren konnten; Psychologen waren kraft Gesetzt von der Praxis ausgeschlossen. Sie wandten sich pädagogischen Einrichtungen und Beratungsstellen zu. Obwohl Amerika als das Land der unbegrenzten Möglichkeiten galt und die Popularität der Psychoanalyse in der Mittelstandsgesellschaft anhielt und ein großen Bedarf an analytischen Kenntnissen hatte, war das Fortkommen der zumeist deutschsprachigen Analytiker mühsam. Alle unterlagen einem Sprachwechsel und einem kulturellen Anpassungsdruck dieser Gesellschaft, in der die Normalität als ein höheres Gut angesehen wurde als die Individualität, wie sie aus dem Bildungsbereich des alten Europa kam. Die mächtigen medizinischen Organisationen, voran die amerikanische Psychiatrie, zwängten die kulturell offene kulturkritische Psychoanalyse in die Mauern einer auf Therapie ausgerichteten Methode ein.

1938 war auch Österreich von den Nationalsozialisten überwältigt worden. Es gelang der engsten Familie um Freud, über Paris nach London zu emigrieren, wo der 83jährige und schwer krebskranke Freud noch ein Jahr lang praktizierte. Er starb im September 1939. Seine Tochter Anna, die bereits länger als fünfzehn Jahre sowohl Sekretärin, Vertraute und Pflegerin ihres Vater gewesen war, setzte in London sein Lebenswerk fort. Sie betreute, zusammen mit ihrer Lebensgefährtin, Dorothy Burlingham, in unermüdlicher Arbeit Kriegswaisenhäuser in London und setzte die Kinderanalyse bis in ihr hohes Lebensalter in den achtziger Jahren fort. Mit strenger Hand verwaltete sie das Erbe ihres Vaters, setzte den langjährigen Mitarbeiter Freuds Ernest Jones als einzigen autorisierten Biographen ein und sammelte alle aus der Katastrophe geretteten Schriften, Materialien und Briefe Freuds, später unterstützt von K. R. Eissler in New York.

Als nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs ab 1945 die Psychoanalyse von England und den USA nach dem kontinentalen Westeuropa zurückkehrte, hatte sich ihr Gesicht grundlegend gewandelt: Sie war ausschließlich englischsprachig geworden, medizinisch geprägt und in eine liberale kapitalistische Gesellschaft integriert. Nach 1950 setzte eine zunehmend beschleunigte Rezeption der klassischen wie der neuen psychoanalytischen Ideen ein, die Ende der siebziger Jahre ihren Höhepunkt überschritt. In zahlreichen Übersetzungen wurden die Werke von Winnicott, Bion, Melanie Klein (England), von Hartmann, Kris, Löwenstein, Greenson {USA), auch von Erich Fromm, Herbert Marcuse und Karen Horney, den sogenannten »Kulturalisten« in deutscher Sprache zugänglich und wurden von einem breiten akademischen Publikum aufgesogen. Um 1970 fand in der BRD eine sozial orientierte Bildungsreform statt, in deren Folge viele Universitätsneugründungen das Fach Psychoanalyse in ihren Lehrbereich aufnahmen. Aus Frankreich kam das modifizierte Theoriegebäude von Jacques Lacan. An deutschen Autoren möchte ich Alexander Mitscherlich, Horst Eberhard Richter und Wolfgang Loch nennen.

Analytische Psychotherapien wurden jetzt, auch in ihren zahlreichen Anwendungen in der Psychiatrie, Pädagogik (Kinderanalysen) und Psychosomatik zunächst in den skandinavischen Ländern, dann in den Niederlanden, Deutschland, Österreich zu Leistungen der allgemeinen Krankenkassen; andere Länder schlossen sich an. Damit, so scheint es, wurde die Psychoanalyse als tragende Idee ab den siebziger Jahren in der sogenannten westlichen Welt etabliert. Auch die Länder, in denen es keine Psychotherapie auf Krankenschein gibt und die Behandlung aufgrund einer privaten Vereinbarung zwischen Arzt und Patient stattfindet, haben in ihrer klinischen Versorgung psychoanalytische Kriterien aufgenommen. Neuere Konzepte der Familientherapie, auch Paartherapie, fanden kaum Anerkennung über die jeweilige Gruppierung hinaus.

Nicht mehr wegzudenken ist in Deutschland jedoch der Einfluß, den die Gruppenverfahren, ausgehend von Michael Balint, einem Ungarn in England, gewonnen haben . Sowohl in der Ausbildung von Therapeuten, in ihrer Supervision sowie als Gruppen von sechs bis zehn Personen, in der Mitglieder verschiedener ärztlicher Disziplinen ihre psychischen Problempatienten besprechen, werden analytische Konzepte vermittelt, die sich mit der Übertragung und insbesondere mit der Gegenübertragung der Therapeuten auf ihre Patienten befassen. Neben dem ärztlichen Wissen wird der Beziehung zwischen Arzt und Patient ein entscheidendes Gewicht für den Heilungsvorgang beigemessen. Hinzuweisen ist auch, daß die Gruppentherapien in Deutschland von den Krankenkassen bezahlt werden, sofern eine fachspezifische Ausbildung vorliegt.

Was sagen die Kritiker zu dieser Entwicklung? Seit langem beklagen sie, in der Nachfolge Freuds, der von der Legierung des Goldes der Psychoanalyse mit dem Kupfer der Suggestion und immer wieder auf die Verwässerung hingewiesen hatte, seit längerem ein Verschwinden der Schubkraft der psychoanalytischen Ideen. Herbert Marcuse sprach bereits Ende der sechziger Jahre vom: »Über das Veralten der Psychoanalyse«. Der psychische Gesundheitsbegriff der Moderne deckt sich zunehmend weniger mit den Zielen der klassischen Analyse. Dort galt es, hauptsächlich um die Dimension des Menschen, die als sein Unbewußtes, ihm durch die Analyse in größerer Bewußtheit zur Verfügung stehen sollte. Das wissende Individuum galt als höchste Kulturleistung. Dagegen erscheinen in neuerer Zeit nicht so sehr die Fähigkeiten des Individuums, sondern soziale Phänomene, wie die einer Gruppen-Verträglichkeit, einem sozio-ökobezogenen System der Kultur als wünschenswert. Dann ist aber die Anpassung an gegebene soziale Systeme wichtiger als die individuelle Abgrenzung und Entwicklung. Der Psychoanalyse wäre dann sozusagen »der Stachel« entzogen.

Gleichzeitig ist aus den letzten zwanzig Jahren deutlich geworden, wie das große Gebäude der Psychoanalyse für die verschiedensten neuen Therapieformen wie ein Steinbruch verwendet wurde - wie jahrhundertelang das Kolosseum in Rom. Man nimmt heraus, was man gebrauchen kann, für Kurztherapien, stationäre Therapien, Paartherapien, Fokaltherapien der verschiedensten Richtungen. Dieser Vorgang hat sich in einer »freien Gesellschaft« als unumkehrbar erwiesen.

Dennoch besteht die Analyse auch in ihrer klassischen Form. Am striktesten vielleicht in der Ausarbeitung der Ideen Melanie Kleins in der Kleinschen Analyse, die mit fünf Wochenstunden über sehr langen Zeitraum versucht, die sehr frühen unbewußten Phantasien des Patienten aufzudecken und - wenn nötig - bis zum »psychotischen Kern« zu analysieren. Auch im Werk des Freudianers Kernberg finden sich explizite psychoanalytische Konzepte, die er auf Charakterstörungen anwendet und die als Borderline-Störungen klassifiziert wurden. Die Psychoanalyse hat sich weiterhin den frühen Störungen zugewendet, sie untersucht auch die dyadischen Beziehungen von Mutter und Kind und befaßt sich mit frühen Störungen des Narzißmus. Heinz Kohut hat in seiner sogenannten Selbst-Psychologie innerhalb der Psychoanalyse darauf hingewiesen, daß das Selbst ein integrativer Bestandteil der Person ist, die Es-Ichüberich einschließen und die scharfe Trennung dieser Topik mildern. Tendentiell steht dies dem unausweichlichen, tragischen Konfliktmodell Freuds gegenüber, der behauptete: »Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus«. Kohut verwandelte die Konfliktsituation in ein gut lebbares Konzept eines sich selbstachtenden und geschätzten Selbst.

Kommen wir auf das Bild des Steinbruchs zurück. Die Mauern die aus dem Kolosseum gebrochen wurden, bilden ganze Straßenzüge von verschiedenen, verwirrenden Häusern der Therapie. Vielleicht kennen sie bereits die »Therapieführer«, die ähnlich wie Stadtpläne dem armen unwissenden Patienten Orientierung geben sollen. Eines der letzten Bücher nannte im Untertitel: »Die 50 wichtigsten Therapien«! Allen diesen Therapien ist eigen, sofern sie sich noch auf analytische Grundideen berufen, Daß, so möchte ich übertreibend sagen, sie sozialpsychologische Verfahren geworden sind. Indem sie die Abwehrmechanismen des Ich durch Einsicht in die Konflikte modifizieren, bleiben sie im Bereich des Bewußten. Phänomene der Übertragung und der Gegenübertragung werden so gehandhabt, als wären sie dem Bewußtsein leicht zugänglich. Sowohl die genetische Betrachtungsweise der Symptome wie auch das Durcharbeiten der Problematik im strengeren Sinne wird vermieden. Es sieht im Westen so aus - ist das nicht auch ein gesellschaftlicher Betrug am wirklichen Leiden des Menschen? - als gäbe es für jede Mißbefindlichkeit (Mißstimmung), jedes Symptom, jede psychische Krankheit, eine entsprechend richtige, wirksame Therapie. Auf dem freien Markt kämpfen Therapieformen um Einfluß und Gelderwerb, sind Dienstleistungen wie Reisen, Kuren, werden zu gesellschaftlicher Unterhaltung. Jedes Wort aus der Zivilisation kann den Beinamen Therapie erhalten: Verinnerlichte Verfahren wie Denktherapie, emotional-rationale Therapie - über Anwendungen wie Beziehungs- und Gruppentherapien und schließlich fast an jede große Kulturleistung angehängt: Musiktherapie, Tanztherapie, Kunsttherapie, Literaturtherapie und andere. Noch weiter entfernt sind die Veranstaltungen, die von den großen Kritikern als Unterhaltungs-Therapien angesehen werden, eine Form oft teurer gesellschaftlicher Spiele, Wochenend-Ereignisse, die Vereinsamung vorübergehend aufheben, vielleicht interessant sind, sicher vom Unglück ablenken, es aber nicht durchdenken und durcharbeiten, wie die analytischen Begriffe lauten.

Wie sieht die gegenwärtige Entwicklung aus? Psychoanalyse und eine Vielzahl aus der Analyse abgeleiteten Verfahren bestehen nebeneinander und konkurrieren um mögliche Patienten. Neben den analytischen Therapien hat die lerntheoretisch orientierte Verhaltenstherapie Einzug in das deutsche Krankenkassensystem gefunden. Aus einem ursprünglich starren Reiz-Reflex, Lernen-, Fehllernen-, Ablernen-Theorie vom russischen Forscher Pavlov und über den amerikanischen Psychologen Skinner hinaus ist inzwischen eine flexible Form der Verhaltensmodifikation entstanden, in der auch beziehungspsychologische Prozesse (die Rolle des Arzt-Patient-Verhältnisses) mitbedacht werden. In der Psychiatrie hat zur Zeit eine starke Hinwendung zu biologischen Konzepten stattgefunden, die verschiedenen Neurotransmitter an den Gehirnsynapsen sollen Depressionen und andere Zustände biochemisch heilen; der Einfluß der analytischen Therapie geht dort zurück.

Betrüblich erscheint mir, daß die psychoanalytische Pädagogik, Grundlage auch der Kinderanalyse, in Kindergärten und Schulen an Bedeutung verliert. gesellschaftlicher Konservativismus vermittelt Wissen, evaluiert das Lernen, entwickelt daraus eine Didaktik. Beziehungspsychologische Konzepte der Lehrer-Schüler, Lehrer-Eltern und Schüler-Schüler-Verhältnisse, also das entscheidende emotionale Klima, in dem Schüler und Lehrer sich wohl fühlen und lernen, bleibt einschließlich der Schäden eines rigiden Lernsystems unberücksichtigt. Die jetzt so oft erwähnte Gewalt an Schulen ist eine ernste gesellschaftliche Gefahr.

Man mag davon ausgehen, als ob zur Zeit weltweit eine Art Stillstand in der Entwicklung neuer Therapie eingetreten ist, daß aber alles angewendet und verwendet wird, was in den nun über hundert Jahren aus der Psychoanalyse und verwandten Vorstellungen gewonnen wurde. Es geht für die neue Generation um Erarbeitung des immensen Bestandes an psychoanalytischem Wissen. Neue geniale Entwürfe und gesellschaftswirksame Utopien liegen nicht vor.

Lassen Sie mich zum Schluß ein paar Sätze zum Stichwort der »Internationalisierung der Kulturleistung Psychoanalyse sagen oder, einfacher ausgedrückt - was wurde gewonnen? Entsprechend der 1904 veröffentlichten »Psychopathologie des Alltagslebens« kann die Existenz eines unbewußten auch im Geschehen des Alltags beobachtet und reflektiert werden. Populär gesprochen: Die Freudsche Fehlleistung ist inzwischen eine alltägliche Chance unseres Nachdenkens. Wenn ich diesen Vortrag begonnen hätte mit: »Verehrte Abwesende« anstatt verehrte Anwesende hätte ich mit diesem einen Buchstaben im Deutschen einen unbewußten Sinn verraten. Sie alle hätten gelacht und gewußt, daß ich diesen Vortrag nicht hätte halten wollen. In mir aber hätte die Peinlichkeit anschließend zur Überlegung geführt, warum ich liebe: Abwesende als Anwesende gewünscht hätte. Alle unsere Versprecher, das Verschreiben, Verhören, Verlesen Vergessen sind nicht etwa sinnlose Zufallsprodukte sondern, wie wir seit Freud wissen, Fehlleistungen, eine Produktion unseres Unbewußten, das in das Bewußtsein eindringt. So ahnen wir heute zumindest um die Zusammenhänge unserer psychosomatischen Krankheiten, wo Ärger und Magengeschwüren, von Abhängigkeit und Asthma bronchiale, von nicht beachtetem Streß und Herzkrankheiten - von funktionellen Beschwerden bis hin zur organischen Schädigung, etwa des Herzinfarkts. Wir sind darin viel weniger blind als unsere Ur-Urgroßeltern vor hundert Jahren. Denken Sie an die Aufgabe, die der deutsche Philosoph Emanuel Kant bereits vor mehr als zweihundert Jahren uns gestellt hat: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« .

Unser Wissen über die Begrenztheit des Ich zwischen Trieben und verinnerlichten kulturellen Normen, dem Überich, auch über seine Vermittlungsposition zwischen diesen Zwischeninstanzen, gibt uns eine größere Chance zur Selbstorientierung, Selbstentwicklung und eine Anleitung zur Lösung von Konflikten. Es ist die wirklich alltägliche und reale Chance zur Reflexion, sie können auch sagen »Selbsttherapie«. Die sogenannten Abwehrmechanismen wie sie Anna Freud 1936 aufgelistet hatte, geben ein dynamisches Spiel unserer Ich-Kräfte an, sind beobachtbar im Bewußtsein und leiten zu unbewußten Prozessen: Ich kann - in günstigstem Fall spüren, wann ich Unliebsames wegschiebe (Verdrängung), wann ich emotional Ereignisse ausklammere (Isolierung), in einen anderen Zusammenhang schiebe (Verschiebung), wann ich meine Wut in den anderen hineinlege (Projektion) oder mir etwas Gutes oder Schlechte: einverleibe, was mir gar nicht gehört (Introjektion), wenn ich etwas nicht wahrhaben will, weil es mir peinlich ist (Verleugnung).

Schließlich gibt es Träume und Tagträume, die uns gehören, denen wir assoziativ lauschen und die wir in uns analysieren können, wenn wir wollen. Das alles, Sie wissen es, reicht nicht bei schweren Lebenskrisen und psychischen Krankheiten. Aber die Prophylaxe ist uns gegeben, eine gewisse Voraussicht: Das Wissen der Psychoanalyse hat uns gewarnt und hellsichtiger gemacht. Wenn wir klug sind, verwenden wir es. Ob daraus im Lebenskampf eine eher optimistische Einstellung entsteht oder ob die Kräfte nicht ausreichen und eine pessimistische Lebenssicht bleibt, werden Sie je für sich selbst entscheiden.

Alle diese Vorstellungen gehören nicht mehr, so meine ich, zu einer dünnen Bildungsschicht, sind kein esoterisches oder elitäres Wissen. Sie sind frei verfügbar in allen Büchern, die darüber geschrieben wurden, und in den Menschen, in denen sie leben. Sie werden uns in jedem Gespräch mitgeteilt, das darauf angelegt ist, sich und den anderen auch in Konflikten verstehen zu können.
 
 
 

Nikola Atanassov

Psychoanalyse in Bulgarien
 
 

Die Ideen der Psychoanalyse fangen an sich in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in Bulgarien auszubreiten. Etwa 20 Jahre nach der Veröffentlichung von Sigmund Freuds Traumdeutung und etwa 10 Jahre nach der Gründung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (1910). Vermittler dieser Ideen waren junge Wissen-schaftler, die an westeuropäischen Universitäten studiert hatten. Im Jahre 1921 gründeten auf Initiative des Psychiaters Nikola Krestnikov sieben Hochschullehrer der Sofioter Universität eine Psychologische Vereinigung. Dr. Krestnikov hatte in Paris und St. Petersburg studiert; nach dem Krieg war er maßgeblich an der Gründung der medizinischen Fakultät der Sofioter Universität beteiligt; später, im Jahre 1934, wurde er Leiter der Neuropsychiatrischen Klinik. Die anderen Mitglieder der Vereinigung waren:

Es fällt auf, das in dieser Vereinigung zusammen mit Anhängern der Psychoanalyse, wie Nikolov und Kinkel, auch akademische Psychologen wie Kazandjiev und Dimitrov Mitglieder waren. Offensichtlich war ein Ziel der Vereinigung die Diskussion von Themen aus verschiedenen Gebieten der Psychologie. Es ist mir nicht bekannt, daß Sitzungsprotokolle der Vereinigung erhalten sind. Aus anderen Veröffentlichungen wird aber deutlich, daß man dort sowohl theoretische Probleme, als auch klinische Fälle (z.B. durch Krestnikov und Nikolov) besprochen wurden. Die Studie von Ivan Kinkel Zur Frage der Psychologischen Grundlage und Ursprung der Religion ist der wohl wichtigste theoretische Beitrag. Zum ersten Mal ist er auf der Sitzung am 25. März 1921 vorgestellt und ein paar Monate später in der Zeitschrift Demokratische Rundschau veröffentlicht worden. Später wurde diese Studie auch in drei Sprachen übersetzt.

In dieser Studie versucht Ivan Kinkel die psychoanalytische Methode auf die Erklärung des Ursprungs religiöser Vorstellungen anzuwenden. Er ist im wesentlichen inspiriert worden durch Freuds in Totem und Tabu entwickelte Ideen. Kinkel bringt viele Beispiele religiöser Vorstellungen, Traditionen und Sitten der slawischen Völker, besonders der Bulgaren und Russen. Außerdem greift er auf Material aus der Analyse bulgarischer Patienten zurück. Die erwähnte Studie enthält die Grundzüge der Ideen des Autors, die später in seinem Hauptwerk Wissenschaft und Religion im Lichte der psychoanalytischen Soziologie (Sofia, 1923 und 1924) entwickelt werden. Kinkels nächstes Buch Wissenschaft und Religion aus der Sicht der Psychologie ist eine populärwissenschaftliche Darstellung derselben Ideen. Es besteht aus der Einleitung und vier Kapiteln. In der Einleitung geht es um drei Systeme des Weltverständnisses: Animismus und Magie, Religion und Wissenschaft. Die Idee des Verfasser ist, daß sich diese drei Systeme als aufeinanderfolgende historische Schichten ablösen: das animistische (magisch - mythologische) System ist für die primitive Menschheit typisch, das religiöse für die spätere infantile Periode der Entwicklung, die bis zum 17. Jahrhundert andauert. Dann entwickelt sich das objektiv- wissenschaftliche Weltverständnis der erwachsenen Menschheit. Jedem System ist im Buch ein Kapitel gewidmet. Am Schluß werden die Elemente und Reste der primitiven Psychologie im geistigen Leben des modernen Menschen betrachtet. In den folgenden Jahren veröffentlichte Kinkel weitere Artikel, die der Anwendung der Psychoanalyse auf die Soziologie gewidmet sind: Die historisch-materialistische und die psychoanalytische Methode in der Soziologie und Soziale Psychopathie und revolutionäre Bewegung.

Der Studie Zur Frage der psychologischen Grundlage des Ursprungs der Religion verdankt Kinkel seine internationale Anerkennung. Er übersetzte sie ins Deutsche, erweiterte ihren historischen und analytischen Teil wesentlich, und schickte sie dann an Sigmund Freud. Otto Rank beantwortete den Brief und schrieb Kinkel, daß er und Freud seine Arbeit gelesen hätten und ihm vorschlügen, es Werk vollständig in der psychoanalytischen Zeitschrift Imago zu veröffentlichen. Tatsächlich erscheint die Arbeit noch im gleichen Jahr in der Zeitschrift, und als erweiterter Sonderdruck im Internationalen Psychoanalytischen Verlag. Später ist dieselbe Studie ins Schwedische übersetzt und in einem psychoanalytischen Almanach veröffentlicht worden; auch die Moskauer psychoanalytische Gruppe unter Moshe Wulf und Ivan Ermakov) hat sie in Russisch herausgegeben. Eine Rezension der Arbeit ist 1923 im Archiv für die Geschichte der Philosophie erschienen. In Henri Ellenberger Buch Die Entdeckung des Unbewußten wird Ivan Kinkel an zwei Stellen erwähnt.

In der oben erwähnten Studie von Kinkel wird an klinischen Fällen deutlich, wie die ersten bulgarischen Anhänger der Psychoanalyse mit Patienten gearbeitet haben. Ein Fall von Größen- und Verfolgungs-wahn wird von Dr. Krestnikov vorgestellt; die Analyse führt Dr. Nikolov durch. Interessant ist, daß der Kranke trotz seiner Psychose analysiert worden ist. Es war zu einer Zeit, in der Freud die Psychoanalyse von Psychosen (oder »narzißtischen Neurosen«) für unmöglich gehalten hat, weil die Patienten nicht fähig seinen zur Übertragung. In einem anderen Fall handelt es sich ebenfalls um eine Psychose. Im Laufe der Analyse verwendet Dr. Nikolov »die hundert Schlüsselwörter von Jung«. Offensichtlich geht es um das »Assoziationsexperiment« und die bulgarischen Analytiker warfen Freuds Methode der freien Assoziation und Jungs Assoziations-experiments in einen Topf. Weder Freud noch Jung wären von der Kombination beider Methoden besonders begeistert gewesen.

Bei der Besprechung von klinischen Fällen scheinen Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse nicht berücksichtigt worden zu sein. Wahrscheinlicher ist, daß man sich auf die Analyse des vom Patienten gelieferten Materials beschränkt hat - so wie es manche von Freuds frühen Schülern auch praktiziert haben. Offensichtlich ist es unter den Mitgliedern der Psychologischen Vereinigung sehr bald zu unüber-windlichen Differenzen gekommen. Schon Mitte der zwanziger Jahre vertritt Michail Dimitrov Positionen, die auf eine radikale Ablehnung der Psychoanalyse hinauslaufen. Im Jahre 1926 veröffentlichte Kinkel den Artikel Die Zerstörung der analytischen Psychologie durch Michail Dimitrov, in der er seinen Kollegen scharf kritisiert. Seine Argumente haben aber eher emotionalen, als wissenschaftlichen Charakter (das gilt auch für alle Artikel im Rahmen der Polemik zwischen Fürsprechern und Gegnern der Psychoanalyse, hauptsächlich in der Philosophischen Rundschau erschienen) . Der Initiator der Gründung der Vereinigung - Dr. Krestnikov - entwickelte Ende der zwanziger eine eigene psychotherapeutische Technik, die er Reproduktion (genauer Reproduktion der pathogenen affektiven Erlebnisse) nannte. Sie war den vor-psychoanalytischen Therapien wie Hypnose und Katharsis ähnlicher als der Psychoanalyse. Es scheint, daß ab Mitte der zwanziger Jahre von den Mitgliedern der ersten Vereinigung nur Nikolov und Kinkel psychoanalytische Positionen vertreten haben.

In den zwanziger Jahren veröffentlichte Atanas Iliev einige Arbeiten zur Psychoanalyse. Ich habe aber keine Angaben, daß er Mitglied in der Psychologischen Vereinigung war oder in irgendeiner Weise an ihrer Arbeit teilgenommen hat. Iliev hatte Philosophie und Pädagogik in St. Petersburg, Paris und Sofia studiert. Er verbrachte zwei Jahre in Wien, wo er sich vorwiegend für Freuds Psychoanalyse interessierte. Seine wichtigsten, mit der Psychoanalyse verbundenen Schriften, sind: Probleme der Kunst. Von der ästhetischen Forschung zur psychoanalytischen Theorie der Ästhetik, Psychoanalyse, Pan-sexualität und Kunst und Ästhetik und Psychoanalyse. 1934 wurde Iliev Dozent für Philosophie, und später Professor für Ethik und Ästhetik. Nach dem Krieg bezogt er marxistische Positionen.

Ende der zwanziger Jahre wird in Sofia eine neue psychoanalytische Vereinigung gegründet, die wahrscheinlich bis zum Anfang des Zweiten Weltkrieges existierte. Laut Dr. Andrei Andreev war sie »ein kleiner psychoanalytischer Zirkel« von nicht mehr als zehn Leuten. Da Ivan Kinkel und Mladen Nikolov zu dieser Zeit noch psychoanalytisch arbeiteten - dafür sprechen ihre Publikationen -, kann man davon ausgehen, daß sie in der Arbeit der Vereinigung teilgenommen haben. Da ich keine Unterlagen über die Tätigkeit der Vereinigung finden konnte, kann ich nur auf Personen verweisen, die in dieser Periode psychoanalytische Werke veröffentlicht haben; wahrscheinlich waren die meisten von ihnen Mitglieder des »kleinen psychoanalytischen Zirkels« .

Zur selben Zeit veröffentlichen andere Ärzte und Psychiater (z.B. Nikola Schipkovenski, Kiril Tscholakov) psychoanalytische Artikel, vorwiegend in der Philosophische Rundschau. Sie vertraten aber nicht explizit psychoanalytische Positionen. Später entwickelten beide eine eigene psychotherapeutische Technik, die bekannt wurde als »befreiende Psychotherapie« bzw. »Dekapsulation«. Kiril Tscholakov veröffentlichte 1947 sein Buch Freuds Psychoanalyse im Lichte der Kritik, wo er versucht psychoanalytischer Grundkonzepte kritisch zu beurteilen. Im selben Buch gibt es ein Kapitel, das der Verbreitung der Psychoanalyse in Bulgarien gewidmet ist.

Leider ist es fast unmöglich herauszubekommen wie die Leute, die in dieser Zeit Patienten analysiert haben, ausgebildet worden sind. Es gibt keine Angaben, daß irgendeiner von ihnen eine Lehranalyse absolviert hat. Höchstwahrscheinlich waren sie lediglich theoretisch vorbereitet. Mir ist auch nicht bekannt, daß außer Ivan Kinkel noch andere Bulgaren mit der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung oder mit Psychoanalytikern anderer Länder in Verbindung gewesen sind. Allerdings gibt es außer Publikationen in wissenschaftlichen Zeitschriften, in der Tagespresse oder in einzelnen Broschüren keinerlei Dokumente über die Arbeit dieser Personen. Laut Georgi Kamenov, der Anfang der sechziger Jahre eine größere Anzahl psychoanalytischer Artikel bulgarischer Autoren auffinden konnte, sind die meisten der Vorkriegspublikationen in den Jahren 1944 - 1949 bewußt vernichtet worden. Mit Ausnahme von drei Arbeiten Ivan Kinkels sind die wissenschaftlichen Publikationen bulgarischer Analytiker nicht systematischer Forschung gewidmet, sondern beleuchten eher eine bestimmte psychoanalytische These. Interessant ist auch, daß es gewöhnlich nicht um Fragen der Psychoanalyse selbst geht, sondern um ihre Anwendung in der Soziologie, Philosophie, Kriminalistik (Mladen Nikolov), Pädagogik (Ljubomir Russev), Tierpsychologie (Andrei Andreev), Sexologie, Psychiatrie.

Manche Autoren konzentrierten sich auf die Anwendung der Psychoanalyse auf Kunst und Literatur: So versuchte z.B. Buko Isaev die Werke Friedrich Nietzsches und Leo Tolstois und die Bedeutung Freuds für die deutsche Belletristik zu analysieren. Ljubomir Russev veröffentlichte Arbeiten zur Psychoanalyse in Botevs Werken und zum Autismus in Gvorovs Lyrik.

Die Mitglieder der psychoanalytischen Bewegung in Bulgarien haben großen Anstrengungen zur Popularisierung der Psychoanalyse und zur Verbreitung psychoanalytischer Kenntnissen unternommen. Sie haben Referate und Vorlesungen vor Studenten, Lehrern und Schülern gehalten. In einem Interview für die Zeitung Der Gedanke sagt Buko Isaev, daß er über 400 Vorträge über Psychoanalyse gehalten habe, die alle sehr gut besucht gewesen seien. Aktive Propagandisten der Psychoanalyse waren auch Ivan Kinkel, Mladen Nikolov und Ljubomir Russev. Ihre Übersetzungstätigkeit dagegen war relativ bescheiden. Die einzige größere Übersetzung ist die schon erwähnte der Vorlesungen zur Einführung in der Psychoanalyse von Andrei Andreev.

Der erste Versuch zur Etablierung der Psychoanalyse in Bulgarien geht in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zu Ende. Nicht mehr als fünfzehn Leute waren aktiv an ihm beteiligt. Außerhalb dieser kleinen Gruppe finden die Ideen der Psychoanalyse kaum Anhänger. 1926 sprach Ivan Kinkel von dem »...breiten Interesse, das die psychoanalytische Lehre in der bulgarischen Intelligenz auslöst«; allerdings gibt es keine Beweise dafür, daß dieses Interesse mehr als nur vorübergehend war. Auf jeden Fall erfordert dieses Phänomen eine ausführlichen Analyse. Die Umstände und Ergebnisse des sich heute vollziehenden zweiten Versuchs, psychoanalytisches Denken der bulgarischen Mentalität nahezubringen, sind sicher nicht weniger interessant, als die Entwicklung vor 60 Jahren.

Das kommunistische Regime, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Bulgarien etablierte, unterdrückt die Verbreitung der Psychoanalyse in Bulgarien weitgehend. Sie wird mal als »unwissenschaftlich«, mal als »bürgerliche Wissenschaft« bezeichnet. Publikationen, die die Psychoanalyse erwähnen, werden nur dann zugelassen, wenn sie kritische Äußerungen enthalten. Manche angesehene bulgarische Psychiater, wie z. B. Nikola Schipkovenski, sind beschuldigt worden, daß sie psychoanalytische Ideen geäußert hätten, obwohl sie eigentlich eine sehr kritische Haltung der Psychoanalyse gegenüber hatten. In den fünfziger und sechziger Jahren fahren manche Psychiater fort, die Reproduktionstechnik von Krestnikov zu verwenden: Sein Sohn Angel Krestnikov und Christo Dimitrov bewahren die ursprüngliche Methode, während Atanas Atanassov eine modifizierte Version, die von Pavlovs Reflexologie beeinflußt worden ist, verwendet.

Die Geschichte der bulgarischen Psychoanalyse in den sechziger und Anfang der siebziger Jahre ist mit den Namen Christo Dimitrov verbunden. Er begann seine berufliche Karriere als Anhänger von Pavlov und Marx. Nach eine Gehirnoperation erblindet er und kann seine Ausbildung als Psychiater nicht fortsetzen. Ihm wird vorgeschlagen, die Theorie der Psychoanalyse vom Standpunkt der marxistischen Philosophie zu kritisieren. Er widmet sich dieser Aufgabe, und es wird ihm erlaubt, eine kleine Gruppe von Psychiatern, die ihm beim Literaturstudium helfen sollten, um sich zu versammeln. Dadurch bekommen sie die Möglichkeit, die Psychoanalyse theoretische kennen zu lernen und psychoanalytische Begriffe ins Bulgarische zu übersetzen. Christo Dimitrov veröffentlichte zwei Bücher, in denen er kurz psychoanalytische Theorien vorstellt. Er hatte ein phänomenales Gedächtnis und ausgezeichnete theoretische Kenntnisse; außerdem sei er auch ein guter Psychotherapeut gewesen. Im Jahre 1974 stirbt er völlig unerwartet.

Einer seiner Anhänger - Nikolai Kolev - emigriert 1968 nach Schweden. Dort erhält er eine Ausbildung als Psychoanalytiker. Zur Zeit ist er Mitglied der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung und Lehranalytiker der schwedischen Vereinigung. 1988 besuchte Nikolai Kolev Bulgarien und nahm an der Arbeit des ersten Internationalen Symposium für Psychotherapie in Sofia teil.

Ende der sechziger Jahre begann Georgi Kamenov, Psychiater im Krankenhaus in Karlukovo, sich für die Psychoanalyse zu interessieren. Er korrespondierte mit Raymond Battegay und dieser ermunterte. Kamenov, sich mit Gruppentherapie zu beschäftigen und sie als Ausgangspunkt und Vorbereitung individueller analytischer Behandlung einzusetzen. 1973 wechselte Georgi Kamenov an die Medizinische Akademie Sofia und versammelte um sich einen kleinen Kreis von Anhängern, die er in analytischen Techniken ausbildete. Er machte sie mit Begriffen wie Übertragung und Gegenübertragung, Supervision und Lehranalyse bekannt. So bildete er eine neue Generation von Psychotherapeuten aus und trug entscheidend zur weiteren Entwicklung der Psychotherapie in Bulgarien bei. Einige seiner Schüler sind: Jenia Georgieva (sozialpsychologisches Familienberatungszentrum in Lozenets), Rumen Georgiev (Vorsitzender der Bulgarischen Assoziation für Psychotherapie und psychologische Konsultation), Alexander Marinov (niedergelassener Psychotherapeut), Philip Dimitrov (1992-1993 Ministerpräsident Bulgariens).

Im Jahre 1979 drehte der Regisseur Velo Radev den Film »Adaptation«. Er war inspiriert worden durch Dr. Kamenovs Arbeit und behandelte zum ersten Mal psychoanalytische Themen für eine breites Publikum. Offiziellen Stellen jedoch blieben Dr. Kamenovs Arbeit gegenüber negativ eingestellt und zwangen ihn 1978 das Land zu verlassen. Er ließ sich in New York nieder, wo er eine seine psychoanalytische Ausbildung erhielt; zur Zeit lebt und arbeitet er dort unter den Namen George Kamen. 1992/93 verbrachte er sechs Monate in Bulgarien. Er beschäftigt sich intensiv mit den psychischen Schäden bei Gewaltopfern unter totalitären Regimen; außerdem organisiert er viele Arbeitstreffen, Seminare und führt Supervisionen durch.

Der größte Teil von Kamenovs Schülern in Bulgarien arbeitet heute in der Psychotherapie. Zusammen mit anderen, die an der Psychotherapie interessiert sind, gründeten sie ein Kollegium der Psychotherapie, das bis 1985 existierte. Die Teilnehmer trafen sich jeden Freitagnachmittag, um theoretische Probleme zu diskutieren, klinische Fälle vorzulegen und gegenseitige Supervision auszuüben. (Hier finden sich Ähnlichkeiten zu den Aktivitäten der ersten psychoanalytischen Vereinigung in den zwanziger und dreißiger Jahren). Damals praktizierten die Mitglieder des Kollegiums hauptsächlich Gruppenpsychotherapie. Außerdem standen sie mit ausländischen Kollegen in Verbindung, und obwohl es nicht ganz einfach war führte z.B. Dr. Diana Waller aus London einige Seminare über analytisch orientierte Kunst-Therapie durch. 1984 besuchten die griechischen Familien- und Gruppentherapeuten George und Vaso Vasiliu Bulgarien. Später kamen sie noch mehrere Male und trugen wesentlich dazu bei, daß die systematische Familientherapie bei uns Fuß faßte. Im Rahmen von gemeinsamen Projekten bilden sie bulgarische Kollegen aus und sind bis heute noch mit vielen von ihnen in fruchtbarer Verbindung.

Nach 1985 wurden die internationale Kontakte intensiviert. Einigen jungen Psychotherapeuten gelang es, an Weltkongressen für Gruppenpsycho-therapie (Zagreb 1986) und Familientherapie (Prag 1987) teilzunehmen und dort Bekanntschaften zu schließen. Vielleicht wird es dank dieser Kontakte möglich sein, in den nächsten Jahren in Bulgarien eine Psychotherapie-Ausbildung zu organisieren.

Im Jahre 1988 fand im Nationalen Kulturpalast ein Internationales Symposium für Psychotherapie statt, an dem Kollegen aus Osteuropa, Griechenland, Schweden, Canada und den USA teilnahmen. Im April 1989 begann eine Gruppe von etwa 10 Psychotherapeuten eine Ausbildung für Psychodrama nach internationalem Standard. Die Ausbildung ist von den Mitgliedern des nicht mehr funktionierenden Kollegiums für Psychotherapie organisiert worden; auch der wissenschaftliche Sekretär des damals existierende Programms zur Erforschung des Menschen, der Psychiater und Psychotherapeut Dr. Toma Tomov, hat wesentlich zur Realisierung dieses Ausbildungsprogramms beigetragen. Die Ausbilder waren Gabriele Wiesmann-Brun aus der Schweiz (damals Dozent am Moreno-Institut in Überlingen) und Joran Jogberg von der Schwedischen Akademie für Psychodrama in Stockholm. Diese Gruppe hat ihre Ausbildung 1994 beendet und beide Ausbilder halten bis heute Kontakt zu Bulgarien (z.B. supervisiert Frau Wiesmann-Brun z.Zt. bulgarische Kollegen) .

In den neunziger Jahren werden immer neue psychotherapeutische Methoden in Bulgarien bekannt. Zwei andere Gruppen organisieren eine Psychodrama-Ausbildung mit schweizerischen und deutschen Therapeuten. 1991 wurde die Bulgarische Vereinigung für Psychodrama und Gruppenpsychotherapie gegründet, die auch Mitglied des Internationalen Psychodrama-Instituts für Europa. Ein weiteres gemeinsames Projekt, das mit Unterstützung des Programms zur Erforschung des Menschen ins Leben gerufen wurde, war die Ausbildung in systematischer Familientherapie mit Lektoren von der Universität Lund in Schweden. Der Besuch von Anton Karschuki, einem schwedischen Therapeuten bulgarischer Abstammung, und Steve de Sheizer (USA) hat eine Gruppe junger Leute für die Kurztherapie begeistert. Ein Schüler von Milton Erikson - Jeffrey Zaig - hat die Eriksons Methoden bei uns vorgestellt. 1994 wurde dann in Sofia ein Milton Erikson-Institut gegründet. Eine Gruppe in Varna erhielt eine Ausbildung »positiver Psychotherapie« (nach Nosrad Peseschkian), eine andere kleine Gruppe nimmt am internationalen Ausbildungsprogramm für persöhlichkeits-zentrierte Therapie nach Carl Rogers teil.

Obwohl die Psychotherapie in Bulgarien immer mehr an Popularität gewinnt, stehen die meisten Therapeuten bei uns noch am Anfang ihrer Ausbildung. Sie haben keine Erfahrung, keine richtige Berufsidentifikation, keine Bücher und Zeitschriften und nicht genügend internationale Kontakte; außerdem arbeiten sie unter Bedingungen, die die Entwicklung der Psychotherapie nicht gerade erleichtern. Die Ausübung von Psychotherapie in Bulgarien ist nicht geregelt, es gibt auch keine Berufsstand. Eine Reihe von selbsternannten »Therapeuten« praktizieren ohne jegliche Ausbildung. 1993 ist die Bulgarische Vereinigung für Psychotherapie und psychologische Beratung gegründet worden. Ihr Ziel ist die Förderung beruflicher Kontakte. Sie soll außerdem Ausbildungsstandards festlegen und eine Regelwerk für die Praxis erarbeiten; die Vereinigung sucht u.a. auch deswegen Kontakt zu internationalen Institutionen. Vor einiger Zeit hat sie sich um Mitgliedschaft im Weltrat für Psychotherapie und in der Europäischen Psychotherapeutischen Vereinigung beworben. Es fällt auf, daß die Verbreitung neuer psychotherapeutischer Methoden in Bulgarien schneller vorangeht als die Etablierung der Psychoanalyse. Und das obwohl die Psychoanalyse die älteste der modernen psychotherapeutischen Schulen ist. Ich denke, daß ein eventuelle Fehlen der Psychoanalyse auf der bulgarischen psychotherapeutischen Szene negative Folgen haben würde. Natürlich dauert die psychoanalytische Ausbildung sehr lange und ist besonders schwierig in einem Land, das keine Lehranalytiker hat. 1991 wurde in Sofia die Bulgarische Psychoanalytische Gesellschaft gegründet, deren Ziel die Verbreitung der Psychoanalyse in Bulgarien ist. Gründungsmitglieder waren drei Psychiater (Ljubomir Shivkov, Toma Tomov und Nadja Polnareva), ein klinischer Psychologe (Nikola Atanassov), ein Philologe (Dimiter Dotschev) und ein Historiker (Emil Georgiev). Später hat sich Milena Kirova angeschlossen, die Dozentin an der Sofioter Universität ist. Die Gesellschaft hat Kontakte mit der IPV und dem Instituts für Psychoanalyse an der Universität in Frankfurt am Main. Die Mehrheit seiner Gründungsmitglieder gehört zum Lehrkörper der Abteilung für Verhaltenswissenschaften an der Neuen Bulgarischen Universität. Dort werden Ausbildungsprogramme entwickelt, die auch psychodynamischen Theorien einbeziehen. Als Ergebnis der Zusammenarbeit dieser Abteilung mit dem Zentrums für psychoanalytische Forschungen an der Universität in Kent und dem GRAB-Institut in London werden in Bulgarien jährlich psychoanalytishe Wochen und ein Ausbildungsprogramm für Gruppenbeziehungen durchgeführt. Auf Grund eines gemeinsamen Projekts steht eine Gruppe junger Wissenschaftler, die sich für Psychoanalyse interessieren, mit der Pariser Psychoanalytischen Vereinigung in Verbindung.

Rein theoretische Forschungen zur Theorie und Geschichte der Psychoanalyse sind verknüpft mit den Arbeiten von Christfried Tögel vom Bereich Wissenschafstheorie und Wissenschaftsgeschichte der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften. Seine zahlreichen Publikationen (darunter drei Bücher zur Freud-Biographik) weisen ihn als einen hervorragenden Freud-Kenner aus. Er hat als Supervisor zwei Projekte zur Erfassung und Neuordnung der Freud-Archive in Wien und London geleitet.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß während in westlichen Ländern die Psychoanalyse und ihre Einsichten schon längst ein Teil der Kultur und der Gesellschaft geworden sind, sie in Bulgarien immer noch weitgehend unbekannt ist. Ich hoffe, daß ihre Akzeptierung nur eine Frage der Zeit ist. Doch wir sollten uns im klaren sein, daß Bulgarien viel Zeit vergehen wird, bis das Jahrzehnten Versäumte aufgeholt werden wird.
 

Die Autoren

Atanassov, Nikola
Jg. 1955, Klinischer Psychologe; Forschungstätigkeit auf dem Gebiet der Geschichte der Psychologie und Psychoanalyse in Bulgarien.
Adresse: Institut für Psychologie, Bulgarische Akademie der Wissenschaften, Akad. Bonchev Str., Bl. 6, BG-1113 Sofia

Freud, Anton
Jg. 1921, Chemie-Ingenieur; Enkel Sigmund Freuds, Sohn Martin Freuds. Emigrierte 1938 von Wien nach London; Nach dem 2. Weltkrieg Mitglied der Komission für Kriegsverbrechen in England.
Adresse: ‘Stonehamme’ Woodhurst Lane, Oxted, Surrey RH8 9ED

Junker, Helmut
Jg. 1934, Psychoanalytiker; lehrt an der Gesamthochschule Kassel im Rahmen interdisziplinärer Fachbereiche; zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte der Psychoanalyse und Freud-Biographik, darunter der Essayband Von Freud in den Freudianern (1991).
Adresse: Hilgendorfweg 24, D-22587 Hamburg.

Marinelli, Lydia
Jg. 1965, Historikerin; wissenschaftliche Mitarbeiterin der Sigmund Freud-Gesellschaft Wien; historische Forschungen u.a. zum Internationalen Psychoanalytischen Verlag (1995).
Adresse: Sigmund Freud-Gesellschaft, Berggasse 19, A-1090 Wien.
e-mail: 100612.3241@compuserve.com

Molnar, Michael
Jg. 1946, Literaturwissenschaftler; Forschungsdirektor des Freud Museums (London); Autor zahlreicher Veröffentlichungen zur Freud-Biographik und Herausgeber von Freuds Kürzester Chronik (englisch 1992, deutsch 1996).
Adresse: The Freud Museum, Maresfield Gardens 20, London NW3 5SX
e-mail: freud@gn.apc.org

Reichmayr, Johannes
Jg. 1947, Dozent für Psychologie mit besonderer Berücksichtigung der Psychoanalyse, Assitenzprofessor an der Universität Klagenfurt; zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte und Theorie der Psychoanalyse, darunter Spurensuche in der Geschichte der Psychoanalyse (1990) und Einführung in die Ethnopsychoanalyse (1995).
Adresse: Linke Wienzeile 36/5A A-1060 Wien
e-mail: Johannes.Reichmayr@univie.ac.at

Tögel, Christfried
Jg. 1953, Wissenschaftshistoriker; zahlreiche Arbeiten zur Geschichte der Psychoanalyse und Freud-Biographik, darunter Berggasse - Pompeji und zurück. Sigmund Freuds Reisen in die Vergangenheit (1989), » ... und gedenke die Wissenschaft auszubeuten. Sigmund Freuds Weg zur Psychoanalyse (1994), Freuds Wien. Eine biographische Skizze nach Schauplätzen (1996).
Adresse: 46 Rossmore Court, Park Road, Regent's Park, London NW1 6XX
e-mail: c.toegel@gmx.net