Freud und Wundt

Von der Hypnose bis zur Völkerpsychologie

Christfried Tögel






Sigmund Freud ist auf psychologische Fragen wohl erst durch Franz Brentano aufmerksam gemacht worden (vgl. dazu den Beitrag von Horst-Peter Brauns und Alfred Schöpf in diesem Band). Der engere Kontakt zwischen Brentano und Freud fiel in die zweite Hälfte der siebziger Jahre. In dieser Zeit wurde Wilhelm Wundt nach Leipzig berufen und gründete dort 1879 das erste psychologische Laboratorium der Welt. Es war u. a. diese Gründungstat, die Wundt in den Augen der meisten Vertreter der modernen Psychologiegeschichtsschreibung zum Vater der akademischen Psychologie werden ließ. Für Freud schien Wundt nicht so eindeutig einzuordnen gewesen zu sein: einmal sieht er in ihm den Physiologen (Freud 1900, 5. 89), ein anderes Mal den Philosophen (Freud 1909, S.249, Anm. 1; Freud 1916/1917; 5. 83) und ein drittes Mal den Psychologen (Freud 1914, 5. 67; Freud 1916/1917, s.107). Allerdings sind die Probleme, bei deren Behandlung er sich auf Wundt beruft oder sich mit ihm auseinandersetzt im wesentlichen psychologischer Art (Hypnose, Traum, Fehlleistungen, Assoziation, Völkerpsychologie). Im folgenden soll Freuds Rezeption Wundtscher Auffassungen etwas näher betrachtet werden.
 


Hypnose

In seiner Selbstdarstellung aus dem Jahre 1925 hatte Sigmund Freud geschrieben:

,,Noch als Student hatte ich einer öffentlichen Vorstellung des ,Magnetiseurs' Hansen beigewohnt und bemerkt, daß eine der Versuchspersonen totenbleich wurde, als sie in kataleptische Starre geriet und während der ganzen Dauer des Zustandes so verharrte. Damit war meine Überzeugung von der Echtheit der hypnotischen Phänomene fest begründet .... In Paris [bei Jean Martin Charcot, C. T.] hatte ich gesehen, daß man sich der Hypnose unbedenklich als Methode bediente, um bei den Kranken Symptome zu schaffen und wieder aufzuheben. Dann drang die Kunde zu uns, daß in Nancy eine Schule entstanden war, welche die Suggestion mit oder ohne Hypnose im großen Ausmaße und mit besonderem Erfolg zu therapeutischen Zwecken verwendete" (Freud 1925, S.40). Freud übersetzte Bernheims Buch Die Suggestion und ihre Heilwirkung (1888) und besuchte den Meister im Sommer 1889 in Nancy. Der Eindruck, den Bernheims Arbeit auf Freud machte, und seine Unzufriedenheit mit klassischen therapeutischen Methoden wie der Elektrotherapie nach Erb führten dazu, daß die hypnotische Suggestion Freuds ,,hauptsächlichstes Arbeitsmittel" wurde (Freud 1925, 8.40). Doch Anfang der neunziger Jahre gab Freud die Hypnose nach und
 
 

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nach wieder auf; ,,erstens weil es ihm, trotz eines Unterrichtskurses bei Bernheim in Nancy, nicht gelang, eine genügend große Anzahl der Patienten in Hypnose zu versetzen, und zweitens, weil er mit den therapeutischen Erfolgen der auf Hypnose gegründeten Katharsis unzufrieden war" (Freud 1924, 8.410).

An die Stelle der Hypnose trat allmählich die Technik der freien Assoziation. Und in diesem Zusammenhang scheint Wilhelm Wundt für Freud erstmals bedeutungsvoll geworden zu sein. Im Jahre 1892 erschien nämlich bei Breitkopf & Härtel in Leipzig ein Vorabdruck von Wundts Artikel Hypnotismus und Suggestion, der dann 1893 auch in der von Wundt gegründeten Zeitschrift ,,Philosophische Studien" veröffentlicht wurde. Freud besaß diesen Artikel (vgl. Gundlach 1977; Fichtner 1988), und obwohl er ihn nirgends zitiert, ist die in diesem Beitrag entwickelte Position wohl nicht ganz ohne Einfluß auf Freuds Entscheidung geblieben, die Hypnose aufzugeben.

Der vierte Teil von Wundts Artikel trägt die Überschrift ,,Die praktische Bedeutung des Hypnotismus". Der Autor schreibt dort u. a.:

,,Wer die sorgfältige, durchaus den Charakter besonnener Objectivität an sich tragende Schilderung des gegenwärtigen Hauptvertreters der Schule von Nancy, Bernheim, gelesen hat.., der kann sich dem Eindruck nicht entziehen, daß es sich hier wirklich um die Gewinnung einer außerordentlich wichtigen therapeutischen Methode handelt" (Wundt 1893, S.73). Diese positive Einschätzung, verbunden mit der Tatsache, daß Wundt bei der Literaturangabe von Bernheims Buch auch den Übersetzer angibt (,,Deutsch von 5. Freud"), sollte Freud eigentlich eher zum Festhalten an der Hypnose bewegt haben. Doch Wundt schränkt auf den nächsten Seiten seiner Arbeit die obige Aussage erheblich ein und schreibt: ,,So gut wie die einzelne Morphiumnarkose ohne nachweisbare Folgen vorübergehen kann, und doch der oft wiederholte Genuss eine unzweifelhafte pathologische Veränderung zurücklässt, gerade so ist dies, wenn auch wahrscheinlich in anderem Grade und in anderer Weise, bei der Hypnose zu erwarten" (a.a.O., S. 80f.). Sicher hat diese Warnung auf Freud nicht geringen Eindruck gemacht, hatte er doch 1891 seinen Freund Ernst Fleischl von Marxow durch Morphinismus verloren und auch noch dazu beigetragen, dessen Sucht zu verstärken (vgl. dazu auch Bernfeld 1953). So nimmt es nicht wunder, daß Freud sich 1917, rückblickend auf die Grunde für die Aufgabe der Hypnose, an folgendes erinnert: ,,Im Hintergrunde stand die von erfahrener Seite ausgesprochene Mahnung, den Kranken nicht durch häufige Wiederholung der Hypnose um seine Selbständigkeit zu bringen und ihn an diese Therapie zu gewöhnen wie an ein Narkotikum" (Freud 1916/1917, S.467). So hat Wilhelm Wundts sachliche und gründliche Analyse der Probleme der Hypnose mit großer Wahrscheinlichkeit zur Entscheidungsfindung Freuds in bezug auf eine optimale Therapieform beigetragen.
 


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Traum

Als Freud an der Traumdeutung schrieb, bekannte er seinem Freund Wilhelm Fließ:

,,Ich bin tief im Traumbuch, schreibe es fließend und freue mich in Gedanken an all das ,Schütteln des Kopfes' über die Indiskretionen und Vermessenheiten, die es enthält. Wenn man nicht auch lesen müßte! Das bißchen Literatur ist mir schon zuwider" (Freud 1986, 8.325). Trotzdem hat Freud seine Aufgabe mit aller Gründlichkeit erledigt und unter den Autoren, die sich zum Traum geäußert haben, auch Wilhelm Wundt mehrfach erwähnt, von dem er u. a. schrieb, daß seine Lehren ,,für so viele andere Bearbeiter der Traumprobleme maßgebend geworden sind" (Freud 1900, 8.60). Freud selbst steht dem Wundtschen Traumverständnis eher skeptisch gegenüber, wenn er auch in Einzelfragen mit ihm übereinstimmt. So zitiert er Wundt z. B. als Vertreter der Theorie von der Bedeutung der inneren Sinneserregung für die Traumätiologie einer Theorie, die auch Freud (mit gewissen Einschränkungen und Spezifizierungen) für richtig hielt. Außerdem gesteht Freud zu, daß Wundt in den somatischen Reizen nicht die einzigen Quellen des Traums sieht, sondern daß nach Wundt ,,ein gewisser Rest von seelischer Tätigkeit dem Traume verbleibt" (ebd.). Allerdings versuche Wundt, diesen psychischen Anteil an der Traumerregung zu verkleinern, ,,indem er ausführt, daß man die ,Phantasmen des Traums wohl mit Unrecht als reine Halluzinationen ansehe. Wahrscheinlich sind die meisten Traumvorstellungen in Wirklichkeit Illusionen, indem sie von den leisen Sinneseindrücken ausgehen, die niemals im Schlafe erlöschen"' (Freud 1900, 8.44). Und Freud zieht schließlich folgendes Fazit: ,,Die Lehre von... Wundt ist aber unfähig, irgendein Motiv anzugeben, welches die Beziehung zwischen dem äußeren Reiz und der zu seiner Deutung gewählten Traumvorstellung regelt, also die ,sonderbare Auswahl' zu erklären, welche die Reize ,oft genug bei ihrer produktiven Wirksamkeit treffen"' (Freud 1900, S.228). Diese Einschätzung hinderte Freud aber nicht, Wundt als Kronzeugen für die von ihm vertretene Theorie der Verwandtschaft von Traum und Geisteskrankheiten anzuführen. In der Vorbemerkung zur 1. Auflage der Traumdeutung hatte Freud geschrieben: ~ wer sich die Entstehung der Traumbilder nicht zu erklären weiß, wird sich auch um das Verständnis der Phobien, Zwangs- und Wahnideen, eventuell um deren therapeutische Beeinflussung, vergeblich bemühen" (Freud 1900, 5. VII). Und im Kapitel 1 (Abschnitt H) über die ,,Beziehungen zwischen Traum und Geisteskrankheiten" wird Wundt zitiert: ,,In der Tat können wir im Traum fast alle Erscheinungen, die uns in den Irrenhäusern begegnen, selber durchleben" (Wundt 1874, 8.662; zit. n. Freud 1900, 8.94). Die Wesensverwandtschaft von Traum und Geisteskrankheit ist übrigens eine der wenigen Auffassungen, die Freud mit Denkern der verschiedensten Richtungen (Kant, Griesinger, Fechner, Wundt u.v.a.) teilt (vgl. dazu Tögel 1983; Tögel 1988).
 


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Fehlleistungen

Aus Anlaß der Diskussion verschiedener Arten des Versprechens schreibt Freud in Zur Psychopathologie des Alltagslebens: ,,An dieser Stelle der Erörterung muß man aber der Äußerungen Wundts gedenken, der in seiner umfassenden Bearbeitung der Entwicklungsgesetze der Sprache (Völkerpsychologie, 1. Band, 1. Teil, S. 371 u. ff., 1900) auch die Erscheinungen des Versprechens behandelt. Was bei diesen Erscheinungen und anderen, ihnen verwandten niemals fehlt, das sind nach Wundt gewisse psychische Einflüsse" (Freud 1901, S.68). Und Freud zitiert Wundt dann ausführlich:

,,Dahin gehört zunächst als positive Bedingung der ungehemmte Fluß der von den gesprochenen Lauten angeregten Laut- und Wortassoziationen. Ihm tritt der Wegfall oder der Nachlaß der diesen Lauf hemmenden Wirkungen des Willens und der auch hier als Willensfunktion sich betätigenden Aufmerksamkeit als negatives Moment zur Seite. Oh jenes Spiel der Assoziation darin sich äußert, daß ein kommender Laut antizipiert oder die vorausgegangenen reproduziert, oder ein gewohnheitsmäßig eingeübter zwischen andere eingeschaltet wird, oder endlich darin, daß ganz andere Worte, die mit den gesprochenen Lauten in assoziativer Beziehung stehen, auf diese herüberwirken - alles dieses bezeichnet nur Unterschiede in der Richtung und allenfalls in dem Spielraum der stattfindenden Assoziationen, nicht in der allgemeinen Natur derselben. Auch kann es in manchen Fällen zweifelhaft sein, welcher Form man eine bestimmte Störung zuzurechnen, oder ob man sie nicht mit größerem Rechte nach dem Prinzip der Komplikation der Ursachen auf ein Zusammentreffen mehrerer Motive zurückzuführen habe" (Wundt 1900, S.380 f.; zit. n. Freud 1901, S.68 f.). Gleich nach diesem langen Zitat schreibt Freud: ,,Ich halte diese Bemerkungen Wundts für vollberechtigt und sehr instruktiv. Vielleicht könnte man mit größerer Entschiedenheit als Wundt betonen, daß das positiv begünstigende Moment der Sprechfehler - der ungehemmte Fluß der Assoziationen - und das negative - der Nachlaß der hemmenden Aufmerksamkeit - regelmäßig miteinander zur Wirkung gelangen, so daß beide Momente nur zu verschiedenen Bestimmungen des nämlichen Vorgangs werden. Mit dem Nachlaß der hemmenden Aufmerksamkeit tritt eben der ungehemmte Fluß der Assoziationen in Tätigkeit; noch unzweifelhafter ausgedrückt: durch diesen Nachlaß" (Freud 1901, S.69). Im Laufe der weiteren Diskussion dieser Frage stellt Freud dann die These auf, daß für das Versprechen Gedanken außerhalb der Redeintention entscheidend sind und daß von Lautgesetzen völlig abgesehen wird. Er schreibt weiter: ,,Ich befinde mich hierbei in voller Übereinstimmung mit Wundt' der gleichfalls die Bedingungen des Versprechens als zusammengesetzte und weit über die Kontaktwirkungen der Laute hinausgehende vermutet" (Freud 1901, S.90 f.). Freud schließt sich dann endlich auch Wundts ,,bemerkenswerte(r) Begründung für die leicht zu bestätigende Tatsache, daß wir uns leichter verschreiben als versprechen" (Freud 1901, S.145) an und zitiert: ,,Im Verlaufe der normalen Rede ist fortwährend die Hemmungsfunktion des Willens dahin gerichtet, Vorstellungsverlauf und Artikulationsbewegung miteinander in Einklang zu bringen. Wird die den Vorstellungen folgende Ausdrucksbewegung durch mechanische Ursachen verlangsamt wie beim Schreiben..., so treten daher solche Antizipationen besonders leicht ein" (Wundt 1900, S.374; zitiert bei Freud 1901, S.145).
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Assoziation

In den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse finden wir eine der wenigen Stellen, an denen Freud eine Beziehung zwischen Psychoanalyse und experimenteller Psychologie herstellt. Diese Beziehung wird über assoziationspsychologische Überlegungen und Versuche realisiert. Freud schreibt in diesem Zusammenhang:

,,Die Wundtsche Schule hatte das sogenannte Assoziationsexperiment angegeben, bei welchem der Versuchsperson der Auftrag erteilt wird, auf ein ihr zugerufenes Reizwort möglichst rasch mit einer beliebigen Reaktion zu antworten. Man kann dann das Intervall studieren, das zwischen Reiz und Reaktion verläuft, die Natur der als Reaktion gegebenen Antwort, den etwaigen Irrtum bei einer späteren Wiederholung desselben Versuches und ähnliches. Die Züricher Schule unter Führung von Bleuler und Jung hat die Erklärung der beim Assoziationsexperiment erfolgenden Reaktionen gegeben, indem sie die Versuchsperson aufforderte, die von ihr erhaltenen Reaktionen durch nachträgliche Assoziationen zu erläutern, wenn sie etwas Auffälliges an sich trugen. Es stellte sich dann heraus, daß diese auffälligen Reaktionen in der schärfsten Weise durch die Komplexe der Versuchspersonen determiniert waren. Bleuler und Jung hatten damit die erste Brücke von der Experimentalpsychologie zur Psychoanalyse geschlagen" (Freud 1916/1917, S.107). Ähnlich hatte Freud sich schon zwei Jahre vorher in seiner Schrift Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung geäußert (Freud 1914).

Wir haben bereits gesehen, daß assoziationspsychologische Überlegungen bei Freud schon immer eine Rolle gespielt haben; so hatte er die Hypnose durch die Technik der freien Assoziation ersetzt und seine Theorie der Fehlleistungen basiert selbstverständlich ebenfalls auf der Annahme, daß die Assoziationen eher determiniert als frei sind.

Im Zusammenhang mit assoziationspsychologischen Auffassungen Freuds ist interessant, daß von seiten der Wundtschen Schule hier Berührungspunkte zur Psychoanalyse gesehen wurden. So findet sich in dem Artikel Psychologie und Nervenheilkunde von Willy Hellpach, erschienen in den ,,Philosophischen Studien", folgende Bemerkung: ,,Gerade die von Breuer und Freud empfohlene Behandlung... knüpft an die allbekannte, auch von Wundt anläßlich der Erinnerungsvorgänge geschilderte Tatsache an, daß unliebsame und in ihrem Fortwirken ganz unberechenbare Stimmungen schwinden, sowie es gelingt, die sie tragende Vorstellungsgruppe zu apperzipieren" (Hellpach 1902, S.211; Hervorh. v. C. T.).

Willy Hellpach, der bei Wundt im Jahre 1900 über Farbenwahrnehmung bei indirektem Sehen promoviert hatte (Hellpach 1899), bezieht sich mit diesem Satz auf die Studien über Hysterie (Breuer & Freud 1895). Er übt zwar starke Kritik an der Methode Breuers und Freuds' hält aber deren Hypothesen zur Ätiologie der Hysterie für ,,denkmöglich", da ,,die ersten geschlechtlichen Ereignisse" am allermeisten geeignet seien, im späteren Leben sich ,,unvermutet über unser Inneres zu breiten" (Hellpach 1902, S.210). Besonders wichtig in dieser Arbeit Hellpachs ist der Hinweis auf die gemeinsame theoretische Grundlage Wundtscher und Freudscher Auffassungen: die Assoziationspsychologie. Wundt widmete einen nicht geringen Teil seiner Arbeiten dem Problem der Assoziation; unter seiner Leitung
 
 

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wurde dieses Phänomen auch experimentell untersucht (vgl. z.B. Trautscholdt 1883). Ein wichtiges Resultat dieser Experimente beschreibt Wundt so:

,,Höre ich z.B. das Wort ,Vater' ohne jeden bestimmten Zusammenhang mit anderen Vorstellungen, so kann mit ihm je nach Umständen das Wort ,Mutter' oder ,Haus' oder ,Land' usw. in assimilative Verbindung treten. In solchen Fällen kann es sich daher ereignen, daß ein ähnlicher Wettstreit zwischen diesen verschiedenen Reproduktionen erfolgt, wie wir ihn etwa bei der Betrachtung eines unähnlichen Porträts beobachten, und es pflegt sich dies zumeist ebenfalls in Unlust- und Erregungsgefühlen, sowie in einer Verzögerung des ganzen Prozesses auszusprechen." (Wundt 1911, S.75 f.; Hervorhebung C. T.). In diesem Zitat ist, im Hinblick auf Freud, die Hervorhebung der Verzögerung des assoziativen Prozesses, in den Fällen, in denen er mit unangenehmen Gefühlen verbunden ist, am wichtigsten. Genau diese Erkenntnis wurde zu einem Grundpfeiler der psychoanalytischen Behandlungstechnik. Wenn sich z.B. die Einfälle des Patienten zu seinen Träumen verzögern, verstärkt der Psychoanalytiker seine Aufmerksamkeit in der Annahme, daß eben diese Verzögerung mit etwas Unangenehmem und Verdrängtem verbunden ist. Wir können Freud also mit einem gewissen Recht als Assoziationspsychologen bezeichnen (wenn auch ein anderer Teil seiner Auffassungen Erkenntnissen der Wahrnehmungspsychologie recht nahe steht; man denke z. B. an ,,Verdichtung" und ,,Verschiebung" bei Freud und an die Gesetze der Ähnlichkeit, des Kontrastes und der räumlichen und zeitlichen Nachbarschaft in der Gestaltpsychologie).
 
 

Völkerpsychologie

Freud beginnt sein Vorwort zu Totem und Tabu mit folgenden Sätzen:

,,Die nachstehenden vier Aufsätze... entsprechen einem ersten Versuch von meiner Seite, Gesichtspunkte und Ergebnisse der Psychoanalyse auf ungeklärte Probleme der Völkerpsychologie anzuwenden. Sie enthalten also einen methodischen Gegensatz einerseits zu dem groß angelegten Werke von W. Wundt' welches die Annahmen und Arbeitsweisen der nicht analytischen Psychologie derselben Absicht dienstbar macht, und andererseits zu den Arbeiten der Züricher psychoanalytischen Schule, die umgekehrt Probleme der Individualpsychologie durch Heranziehung von völkerpsychologischem Material zu erledigen streben. Es sei gern zugestanden, daß von diesen beiden Seiten die nächste Anregung zu meinen eigenen Arbeiten ausgegangen ist" (Freud 1912/1913, S.3). Allerdings wird Jung von Freud nur zweimal, en passant, erwähnt, während Wundt extensiv, auf fast zwanzig Seiten, behandelt wird. Freud ist der Auffassung, daß es von aktuellem Interesse sei, das Rätsel des Tabus zu lösen, weil die ,,Sitten- und Moralverbote", denen wir selbst unterworfen sind, mit dem primitiven Tabu wesensverwandt sind. Nachdem er diese Ansicht begründet hat, fährt Freud fort: ,,Wir werden also in besonders erwartungsvoller Spannung aufhorchen, wenn ein Forscher wie W. Wundt uns seine Auffassung des Tabu mitteilt, zumal da er verspricht, ,zu den letzten Wurzeln der Tabuvorstellungen zurückzugehen"' (Freud 1912/1913, S.32). Freud stellt dann ausführlich Wundts Tabutheorie vor und kommt zu folgenden Schlußfolgerungen:
 
 

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,,Wundt lehrt also, das Tabu sei ein Ausdruck und Ausfluß des Glaubens der primitiven Völker an dämonische Mächte. Später habe sich das Tabu von dieser Wurzel losgelöst und sei eine Macht geblieben, einfach weil es eine solche war, infolge einer Art von psychischer Beharrung; so sei es selbst die Wurzel unserer Sittengebote und unserer Gesetze geworden. So wenig nun der erste dieser Sätze zum Widerspruch reizen kann, so glaube ich doch dem Eindruck vieler Leser Worte zu leihen, wenn ich die Aufklärung Wundts als eine Enttäuschung anspreche. Das heißt wohl nicht, zu den Quellen der Tabuvorstellungen heruntergehen oder ihre letzten Wurzeln aufzeigen. Weder die Angst noch die Dämonen können in der Psychologie als letzte Dinge gewertet werden, die jeder weiteren Zurückführung trotzen. Es wäre anders, wenn die Dämonen wirklich existierten; aber wir wissen ja, sie sind selbst wie die Götter Schöpfüngen der Seelenkräfte des Menschen; sie sind von etwas und aus etwas geschaffen worden" (Freud 1912/1913, S.34). Es folgen noch eine Erörterung von Wundts Auffassung über die Doppelbedeutung des Tabus, die Freud als ,,bedeutsame, aber nicht ganz klar zu fassende Ansichten" (Freud 1912/1913, S.34> bezeichnet und ein Zitat aus Elemente der Völkerpsychologie von Wundt, das belegen soll, daß die Wissenschaft die Bedeutung des Totemismus anerkennt: ,,Nehmen wir all dies zusammen, so ergibt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit der Schluß, daß die totemistische Kultur überall einmal eine Vorstufe der späteren Entwicklungen und eine Übergangsstufe zwischen dem Zustand des primitiven Menschen und dem Helden- und Götterzeitalter gebildet hat" (Wundt 1912, S~ 139; zitiert bei Freud 1912/1913, S.123). Abgesehen von einigen wenigen Übereinstimmungen in Einzelfragen scheint Freud den Wundtschen völkerpsychologischen Ansichten ausgesprochen kritisch gegenübergestanden zu haben. Als er am dritten Aufsatz von Totem und Tabu über ,,Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken" arbeitet und sich gleichzeitig über Wundts Auffassung zu diesen Problemen informiert, muß er sich schon sehr über dessen Völkerpsychologie geärgert haben, denn am 17.10. 1~2 schreibt er an Sándor Ferenczi: ,,[Ich] bin wütend über Wundt. Nach 11stündiger Arbeit abends diesen Quatsch lesen zu müssen, ist eine harte Strafe" (zit. n. Jones 1955, dt. 1984, Bd. 2'S.416).

Der Überblick über die Rezeption der Wundtschen Auffassungen durch Freud zeigt, daß - sieht man von den Differenzen hinsichtlich völkerpsychologischer Überlegungen ab - zwischen Psychoanalyse und der durch Wilhelm Wundt vertretenen akademischen Psychologie keineswegs von vornherein ein unüberbrückbarer theoretischer Gegensatz bestanden hat. Da später dennoch die Konfrontation zwischen beiden Richtungen zu einem bestimmenden Merkmal der Psychologiegeschichte im 20. Jahrhundert geworden ist, erhebt sich die Frage nach den Gründen für diese Konfrontation. In einer früheren Arbeit (Tögel 1984) habe ich versucht, diese Frage zu beantworten, glaube aber heute, daß meine damalige Argumentation wissenschaftsgeschichtlich nicht haltbar ist. Es stimmt zwar, daß die sozialen Rollen von Wundt und Freud erstaunlich viele Parallelen aufweisen, doch sind diese Parallelen nie realhistorisch wirksam geworden. Deshalb glaube ich heute nicht mehr, daß die Gegenüberstellung von Psychoanalyse und akademischer Psychologie auf die Konkurrenz der beiden Schulengründer Wundt und Freud zurückgeführt werden kann, sondern neige eher zu der traditionellen Auf-
 
 

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fassung, daß es zu einem nicht geringen Teil die große Bedeutung war, die Freud der Sexualität einräumte (vgl. Nitzschke 1976), die die meisten Vertreter der akademischen Psychologie (und auch namhafte Psychiater) eine Abwehrhaltung der Psychoanalyse gegenüber hat einnehmen lassen (vgl. dazu den Beitrag von Geuter & Nitzschke in diesem Band). Die akademische Psychologie war die ,,Psychologie eines Menschen, der sich nicht fortpflanzt" (Schmidt 1988). Es ist verständlich, daß es für Wundt und Ebbinghaus oder Stumpf und Külpe schwer war, eine neue Richtung anzuerkennen, die sich nicht auf die etablierten Gegenstände der Psychologie beschränkte, sondern neue einführte und diesen dann auch noch einen zentralen Platz in der Psychologie zuwies. Sicher gibt es auch noch andere Gründe für die Konfrontation von Psychoanalyse und akademischer Psychologie wie z. B. der esoterische Charakter, den die psychoanalytische Bewegung etwa seit 1912 (Gründung des ,,Geheimen Komitees", vgl. dazu Wittenberger 1988) angenommen hatte. Die Tatsache, daß alle diese Gründe eher nichtsystematischer Art sind, sollte uns davon überzeugen, daß folgende Worte Karl Bühlers heute aktueller denn je sind: ,,Was die Psychoanalyse angeht, so bin ich der Meinung, daß gewisse Trennungsmauern zwischen ihr und der übrigen Psychologie fallen müssen" (Bühler 1927, 5. IX). Ich glaube, dieser Meinung können sich alle Psychologen und Psychoanalytiker anschließen, die ein echtes Interesse am Fortschritt humanpsychologischer Wissenschaft haben.
 

Literatur

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    Hoorn (Eds.), Studies in the history of psychology and the social sciences (pp. 398-408). Leiden: Psychologisch Institut van de Rijksuniversiteit
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