Freud und Wundt
Von der Hypnose bis zur Völkerpsychologie
Christfried Tögel
Sigmund Freud ist auf psychologische Fragen wohl erst
durch Franz Brentano aufmerksam gemacht worden (vgl. dazu den Beitrag von
Horst-Peter Brauns und Alfred Schöpf in diesem Band). Der engere Kontakt
zwischen Brentano und Freud fiel in die zweite Hälfte der siebziger
Jahre. In dieser Zeit wurde Wilhelm Wundt nach Leipzig berufen und gründete
dort 1879 das erste psychologische Laboratorium der Welt. Es war u. a.
diese Gründungstat, die Wundt in den Augen der meisten Vertreter der
modernen Psychologiegeschichtsschreibung zum Vater der akademischen Psychologie
werden ließ. Für Freud schien Wundt nicht so eindeutig einzuordnen
gewesen zu sein: einmal sieht er in ihm den Physiologen (Freud 1900, 5.
89), ein anderes Mal den Philosophen (Freud 1909, S.249, Anm. 1; Freud
1916/1917; 5. 83) und ein drittes Mal den Psychologen (Freud 1914, 5. 67;
Freud 1916/1917, s.107). Allerdings sind die Probleme, bei deren Behandlung
er sich auf Wundt beruft oder sich mit ihm auseinandersetzt im wesentlichen
psychologischer Art (Hypnose, Traum, Fehlleistungen, Assoziation, Völkerpsychologie).
Im folgenden soll Freuds Rezeption Wundtscher Auffassungen etwas näher
betrachtet werden.
Hypnose
In seiner Selbstdarstellung aus dem Jahre 1925
hatte Sigmund Freud geschrieben:
,,Noch als Student hatte ich einer öffentlichen
Vorstellung des ,Magnetiseurs' Hansen beigewohnt und bemerkt, daß
eine der Versuchspersonen totenbleich wurde, als sie in kataleptische Starre
geriet und während der ganzen Dauer des Zustandes so verharrte. Damit
war meine Überzeugung von der Echtheit der hypnotischen Phänomene
fest begründet .... In Paris [bei Jean Martin Charcot, C. T.] hatte
ich gesehen, daß man sich der Hypnose unbedenklich als Methode bediente,
um bei den Kranken Symptome zu schaffen und wieder aufzuheben. Dann drang
die Kunde zu uns, daß in Nancy eine Schule entstanden war, welche
die Suggestion mit oder ohne Hypnose im großen Ausmaße und
mit besonderem Erfolg zu therapeutischen Zwecken verwendete" (Freud 1925,
S.40).
Freud übersetzte Bernheims Buch Die Suggestion und
ihre Heilwirkung (1888) und besuchte den Meister im Sommer 1889 in
Nancy. Der Eindruck, den Bernheims Arbeit auf Freud machte, und seine Unzufriedenheit
mit klassischen therapeutischen Methoden wie der Elektrotherapie nach Erb
führten dazu, daß die hypnotische Suggestion Freuds ,,hauptsächlichstes
Arbeitsmittel" wurde (Freud 1925, 8.40). Doch Anfang der neunziger Jahre
gab Freud die Hypnose nach und
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nach wieder auf; ,,erstens weil es ihm, trotz eines Unterrichtskurses
bei Bernheim in Nancy, nicht gelang, eine genügend große Anzahl
der Patienten in Hypnose zu versetzen, und zweitens, weil er mit den therapeutischen
Erfolgen der auf Hypnose gegründeten Katharsis unzufrieden war" (Freud
1924, 8.410).
An die Stelle der Hypnose trat allmählich die Technik
der freien Assoziation. Und in diesem Zusammenhang scheint Wilhelm Wundt
für Freud erstmals bedeutungsvoll geworden zu sein. Im Jahre 1892
erschien nämlich bei Breitkopf & Härtel in Leipzig ein Vorabdruck
von Wundts Artikel Hypnotismus und Suggestion, der dann 1893 auch
in der von Wundt gegründeten Zeitschrift ,,Philosophische Studien"
veröffentlicht wurde. Freud besaß diesen Artikel (vgl. Gundlach
1977; Fichtner 1988), und obwohl er ihn nirgends zitiert, ist die in diesem
Beitrag entwickelte Position wohl nicht ganz ohne Einfluß auf Freuds
Entscheidung geblieben, die Hypnose aufzugeben.
Der vierte Teil von Wundts Artikel trägt die Überschrift
,,Die praktische Bedeutung des Hypnotismus". Der Autor schreibt dort u.
a.:
,,Wer die sorgfältige, durchaus den Charakter besonnener
Objectivität an sich tragende Schilderung des gegenwärtigen Hauptvertreters
der Schule von Nancy, Bernheim, gelesen hat.., der kann sich dem
Eindruck nicht entziehen, daß es sich hier wirklich um die Gewinnung
einer außerordentlich wichtigen therapeutischen Methode handelt"
(Wundt 1893, S.73).
Diese positive Einschätzung, verbunden mit der Tatsache,
daß Wundt bei der Literaturangabe von Bernheims Buch auch den Übersetzer
angibt (,,Deutsch von 5. Freud"), sollte Freud eigentlich eher zum Festhalten
an der Hypnose bewegt haben. Doch Wundt schränkt auf den nächsten
Seiten seiner Arbeit die obige Aussage erheblich ein und schreibt:
,,So gut wie die einzelne Morphiumnarkose ohne nachweisbare
Folgen vorübergehen kann, und doch der oft wiederholte Genuss eine
unzweifelhafte pathologische Veränderung zurücklässt, gerade
so ist dies, wenn auch wahrscheinlich in anderem Grade und in anderer Weise,
bei der Hypnose zu erwarten" (a.a.O., S. 80f.).
Sicher hat diese Warnung auf Freud nicht geringen Eindruck
gemacht, hatte er doch 1891 seinen Freund Ernst Fleischl von Marxow durch
Morphinismus verloren und auch noch dazu beigetragen, dessen Sucht zu verstärken
(vgl. dazu auch Bernfeld 1953). So nimmt es nicht wunder, daß Freud
sich 1917, rückblickend auf die Grunde für die Aufgabe der Hypnose,
an folgendes erinnert:
,,Im Hintergrunde stand die von erfahrener Seite ausgesprochene
Mahnung, den Kranken nicht durch häufige Wiederholung der Hypnose
um seine Selbständigkeit zu bringen und ihn an diese Therapie zu gewöhnen
wie an ein Narkotikum" (Freud 1916/1917, S.467).
So hat Wilhelm Wundts sachliche und gründliche Analyse
der Probleme der Hypnose mit großer Wahrscheinlichkeit zur Entscheidungsfindung
Freuds in bezug auf eine optimale Therapieform beigetragen.
- 99 –
Traum
Als Freud an der Traumdeutung schrieb, bekannte
er seinem Freund Wilhelm Fließ:
,,Ich bin tief im Traumbuch, schreibe es fließend
und freue mich in Gedanken an all das ,Schütteln des Kopfes' über
die Indiskretionen und Vermessenheiten, die es enthält. Wenn man nicht
auch lesen müßte! Das bißchen Literatur ist mir schon
zuwider" (Freud 1986, 8.325).
Trotzdem hat Freud seine Aufgabe mit aller Gründlichkeit
erledigt und unter den Autoren, die sich zum Traum geäußert
haben, auch Wilhelm Wundt mehrfach erwähnt, von dem er u. a. schrieb,
daß seine Lehren ,,für so viele andere Bearbeiter der Traumprobleme
maßgebend geworden sind" (Freud 1900, 8.60). Freud selbst steht dem
Wundtschen Traumverständnis eher skeptisch gegenüber, wenn er
auch in Einzelfragen mit ihm übereinstimmt. So zitiert er Wundt z.
B. als Vertreter der Theorie von der Bedeutung der inneren Sinneserregung
für die Traumätiologie einer Theorie, die auch Freud (mit gewissen
Einschränkungen und Spezifizierungen) für richtig hielt. Außerdem
gesteht Freud zu, daß Wundt in den somatischen Reizen nicht die einzigen
Quellen des Traums sieht, sondern daß nach Wundt ,,ein gewisser Rest
von seelischer Tätigkeit dem Traume verbleibt" (ebd.). Allerdings
versuche Wundt, diesen psychischen Anteil an der Traumerregung zu verkleinern,
,,indem er ausführt, daß man die ,Phantasmen
des Traums wohl mit Unrecht als reine Halluzinationen ansehe. Wahrscheinlich
sind die meisten Traumvorstellungen in Wirklichkeit Illusionen, indem sie
von den leisen Sinneseindrücken ausgehen, die niemals im Schlafe erlöschen"'
(Freud 1900, 8.44).
Und Freud zieht schließlich folgendes Fazit:
,,Die Lehre von... Wundt ist aber unfähig, irgendein
Motiv anzugeben, welches die Beziehung zwischen dem äußeren
Reiz und der zu seiner Deutung gewählten Traumvorstellung regelt,
also die ,sonderbare Auswahl' zu erklären, welche die Reize ,oft genug
bei ihrer produktiven Wirksamkeit treffen"' (Freud 1900, S.228).
Diese Einschätzung hinderte Freud aber nicht, Wundt
als Kronzeugen für die von ihm vertretene Theorie der Verwandtschaft
von Traum und Geisteskrankheiten anzuführen. In der Vorbemerkung zur
1. Auflage der Traumdeutung hatte Freud geschrieben: ~ wer sich
die Entstehung der Traumbilder nicht zu erklären weiß, wird
sich auch um das Verständnis der Phobien, Zwangs- und Wahnideen, eventuell
um deren therapeutische Beeinflussung, vergeblich bemühen" (Freud
1900, 5. VII). Und im Kapitel 1 (Abschnitt H) über die ,,Beziehungen
zwischen Traum und Geisteskrankheiten" wird Wundt zitiert: ,,In der Tat
können wir im Traum fast alle Erscheinungen, die uns in den Irrenhäusern
begegnen, selber durchleben" (Wundt 1874, 8.662; zit. n. Freud 1900, 8.94).
Die Wesensverwandtschaft von Traum und Geisteskrankheit ist übrigens
eine der wenigen Auffassungen, die Freud mit Denkern der verschiedensten
Richtungen (Kant, Griesinger, Fechner, Wundt u.v.a.) teilt (vgl. dazu Tögel
1983; Tögel 1988).
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Fehlleistungen
Aus Anlaß der Diskussion verschiedener Arten des
Versprechens schreibt Freud in Zur Psychopathologie des Alltagslebens:
,,An
dieser Stelle der Erörterung muß man aber der Äußerungen
Wundts gedenken, der in seiner umfassenden Bearbeitung der Entwicklungsgesetze
der Sprache (Völkerpsychologie, 1. Band, 1. Teil, S. 371 u. ff., 1900)
auch die Erscheinungen des Versprechens behandelt. Was bei diesen Erscheinungen
und anderen, ihnen verwandten niemals fehlt, das sind nach Wundt gewisse
psychische Einflüsse" (Freud 1901, S.68). Und Freud zitiert Wundt
dann ausführlich:
,,Dahin gehört zunächst als positive Bedingung
der ungehemmte Fluß der von den gesprochenen Lauten angeregten Laut-
und
Wortassoziationen. Ihm tritt der Wegfall oder der Nachlaß
der diesen Lauf hemmenden Wirkungen des Willens und der auch hier als Willensfunktion
sich betätigenden Aufmerksamkeit als negatives Moment zur Seite. Oh
jenes Spiel der Assoziation darin sich äußert, daß ein
kommender Laut antizipiert oder die vorausgegangenen reproduziert, oder
ein gewohnheitsmäßig eingeübter zwischen andere eingeschaltet
wird, oder endlich darin, daß ganz andere Worte, die mit den gesprochenen
Lauten in assoziativer Beziehung stehen, auf diese herüberwirken -
alles dieses bezeichnet nur Unterschiede in der Richtung und allenfalls
in dem Spielraum der stattfindenden Assoziationen, nicht in der allgemeinen
Natur derselben. Auch kann es in manchen Fällen zweifelhaft sein,
welcher Form man eine bestimmte Störung zuzurechnen, oder ob man sie
nicht mit größerem Rechte nach dem Prinzip der Komplikation
der Ursachen auf ein Zusammentreffen mehrerer Motive zurückzuführen
habe" (Wundt 1900, S.380 f.; zit. n. Freud 1901, S.68 f.).
Gleich nach diesem langen Zitat schreibt Freud:
,,Ich halte diese Bemerkungen Wundts für vollberechtigt
und sehr instruktiv. Vielleicht könnte man mit größerer
Entschiedenheit als Wundt betonen, daß das positiv begünstigende
Moment der Sprechfehler - der ungehemmte Fluß der Assoziationen -
und das negative - der Nachlaß der hemmenden Aufmerksamkeit - regelmäßig
miteinander zur Wirkung gelangen, so daß beide Momente nur zu verschiedenen
Bestimmungen des nämlichen Vorgangs werden. Mit dem Nachlaß
der hemmenden Aufmerksamkeit tritt eben der ungehemmte Fluß der Assoziationen
in Tätigkeit; noch unzweifelhafter ausgedrückt: durch diesen
Nachlaß" (Freud 1901, S.69).
Im Laufe der weiteren Diskussion dieser Frage stellt Freud
dann die These auf, daß für das Versprechen Gedanken außerhalb
der Redeintention entscheidend sind und daß von Lautgesetzen völlig
abgesehen wird. Er schreibt weiter: ,,Ich befinde mich hierbei in voller
Übereinstimmung mit Wundt' der gleichfalls die Bedingungen des Versprechens
als zusammengesetzte und weit über die Kontaktwirkungen der Laute
hinausgehende vermutet" (Freud 1901, S.90 f.). Freud schließt sich
dann endlich auch Wundts ,,bemerkenswerte(r) Begründung für die
leicht zu bestätigende Tatsache, daß wir uns leichter verschreiben
als versprechen" (Freud 1901, S.145) an und zitiert:
,,Im Verlaufe der normalen Rede ist fortwährend
die Hemmungsfunktion des Willens dahin gerichtet, Vorstellungsverlauf und
Artikulationsbewegung miteinander in Einklang zu bringen. Wird die den
Vorstellungen folgende Ausdrucksbewegung durch mechanische Ursachen verlangsamt
wie beim Schreiben..., so treten daher solche Antizipationen besonders
leicht ein" (Wundt 1900, S.374; zitiert bei Freud 1901, S.145).
- 101-
Assoziation
In den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
finden
wir eine der wenigen Stellen, an denen Freud eine Beziehung zwischen Psychoanalyse
und experimenteller Psychologie herstellt. Diese Beziehung wird über
assoziationspsychologische Überlegungen und Versuche realisiert. Freud
schreibt in diesem Zusammenhang:
,,Die Wundtsche Schule hatte das sogenannte Assoziationsexperiment
angegeben, bei welchem der Versuchsperson der Auftrag erteilt wird, auf
ein ihr zugerufenes Reizwort möglichst rasch mit einer beliebigen
Reaktion
zu antworten. Man kann dann das Intervall studieren, das zwischen Reiz
und Reaktion verläuft, die Natur der als Reaktion gegebenen Antwort,
den etwaigen Irrtum bei einer späteren Wiederholung desselben Versuches
und ähnliches. Die Züricher Schule unter Führung von Bleuler
und Jung hat die Erklärung der beim Assoziationsexperiment erfolgenden
Reaktionen gegeben, indem sie die Versuchsperson aufforderte, die von ihr
erhaltenen Reaktionen durch nachträgliche Assoziationen zu erläutern,
wenn sie etwas Auffälliges an sich trugen. Es stellte sich dann heraus,
daß diese auffälligen Reaktionen in der schärfsten Weise
durch die Komplexe der Versuchspersonen determiniert waren. Bleuler und
Jung hatten damit die erste Brücke von der Experimentalpsychologie
zur Psychoanalyse geschlagen" (Freud 1916/1917, S.107).
Ähnlich hatte Freud sich schon zwei Jahre vorher in
seiner Schrift Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung geäußert
(Freud 1914).
Wir haben bereits gesehen, daß assoziationspsychologische
Überlegungen bei Freud schon immer eine Rolle gespielt haben; so hatte
er die Hypnose durch die Technik der freien Assoziation ersetzt und seine
Theorie der Fehlleistungen basiert selbstverständlich ebenfalls auf
der Annahme, daß die Assoziationen eher determiniert als frei sind.
Im Zusammenhang mit assoziationspsychologischen Auffassungen
Freuds ist interessant, daß von seiten der Wundtschen Schule hier
Berührungspunkte zur Psychoanalyse gesehen wurden. So findet sich
in dem Artikel Psychologie und Nervenheilkunde von Willy Hellpach,
erschienen in den ,,Philosophischen Studien", folgende Bemerkung: ,,Gerade
die von Breuer und Freud empfohlene Behandlung... knüpft an die allbekannte,
auch von Wundt anläßlich der Erinnerungsvorgänge geschilderte
Tatsache an, daß unliebsame und in ihrem Fortwirken ganz unberechenbare
Stimmungen schwinden, sowie es gelingt, die sie tragende Vorstellungsgruppe
zu apperzipieren" (Hellpach 1902, S.211; Hervorh. v. C. T.).
Willy Hellpach, der bei Wundt im Jahre 1900 über
Farbenwahrnehmung bei indirektem Sehen promoviert hatte (Hellpach 1899),
bezieht sich mit diesem Satz auf die Studien über Hysterie (Breuer
& Freud 1895). Er übt zwar starke Kritik an der Methode Breuers
und Freuds' hält aber deren Hypothesen zur Ätiologie der Hysterie
für ,,denkmöglich", da ,,die ersten geschlechtlichen Ereignisse"
am allermeisten geeignet seien, im späteren Leben sich ,,unvermutet
über unser Inneres zu breiten" (Hellpach 1902, S.210). Besonders wichtig
in dieser Arbeit Hellpachs ist der Hinweis auf die gemeinsame theoretische
Grundlage Wundtscher und Freudscher Auffassungen: die Assoziationspsychologie.
Wundt widmete einen nicht geringen Teil seiner Arbeiten dem Problem der
Assoziation; unter seiner Leitung
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wurde dieses Phänomen auch experimentell untersucht
(vgl. z.B. Trautscholdt 1883). Ein wichtiges Resultat dieser Experimente
beschreibt Wundt so:
,,Höre ich z.B. das Wort ,Vater' ohne jeden bestimmten
Zusammenhang mit anderen Vorstellungen, so kann mit ihm je nach Umständen
das Wort ,Mutter' oder ,Haus' oder ,Land' usw. in assimilative Verbindung
treten. In solchen Fällen kann es sich daher ereignen, daß ein
ähnlicher Wettstreit zwischen diesen verschiedenen Reproduktionen
erfolgt, wie wir ihn etwa bei der Betrachtung eines unähnlichen Porträts
beobachten, und es pflegt sich dies zumeist ebenfalls in Unlust- und Erregungsgefühlen,
sowie
in einer Verzögerung des ganzen Prozesses auszusprechen."
(Wundt
1911, S.75 f.; Hervorhebung C. T.).
In diesem Zitat ist, im Hinblick auf Freud, die Hervorhebung
der Verzögerung des assoziativen Prozesses, in den Fällen, in
denen er mit unangenehmen Gefühlen verbunden ist, am wichtigsten.
Genau diese Erkenntnis wurde zu einem Grundpfeiler der psychoanalytischen
Behandlungstechnik. Wenn sich z.B. die Einfälle des Patienten zu seinen
Träumen verzögern, verstärkt der Psychoanalytiker seine
Aufmerksamkeit in der Annahme, daß eben diese Verzögerung mit
etwas Unangenehmem und Verdrängtem verbunden ist. Wir können
Freud also mit einem gewissen Recht als Assoziationspsychologen bezeichnen
(wenn auch ein anderer Teil seiner Auffassungen Erkenntnissen der Wahrnehmungspsychologie
recht nahe steht; man denke z. B. an ,,Verdichtung" und ,,Verschiebung"
bei Freud und an die Gesetze der Ähnlichkeit, des Kontrastes und der
räumlichen und zeitlichen Nachbarschaft in der Gestaltpsychologie).
Völkerpsychologie
Freud beginnt sein Vorwort zu Totem und Tabu mit
folgenden Sätzen:
,,Die nachstehenden vier Aufsätze... entsprechen
einem ersten Versuch von meiner Seite, Gesichtspunkte und Ergebnisse der
Psychoanalyse auf ungeklärte Probleme der Völkerpsychologie anzuwenden.
Sie enthalten also einen methodischen Gegensatz einerseits zu dem groß
angelegten Werke von W. Wundt' welches die Annahmen und Arbeitsweisen der
nicht analytischen Psychologie derselben Absicht dienstbar macht, und andererseits
zu den Arbeiten der Züricher psychoanalytischen Schule, die umgekehrt
Probleme der Individualpsychologie durch Heranziehung von völkerpsychologischem
Material zu erledigen streben. Es sei gern zugestanden, daß von diesen
beiden Seiten die nächste Anregung zu meinen eigenen Arbeiten ausgegangen
ist" (Freud 1912/1913, S.3).
Allerdings wird Jung von Freud nur zweimal, en passant, erwähnt,
während Wundt extensiv, auf fast zwanzig Seiten, behandelt wird. Freud
ist der Auffassung, daß es von aktuellem Interesse sei, das Rätsel
des Tabus zu lösen, weil die ,,Sitten- und Moralverbote", denen wir
selbst unterworfen sind, mit dem primitiven Tabu wesensverwandt sind. Nachdem
er diese Ansicht begründet hat, fährt Freud fort: ,,Wir werden
also in besonders erwartungsvoller Spannung aufhorchen, wenn ein Forscher
wie W. Wundt uns seine Auffassung des Tabu mitteilt, zumal da er verspricht,
,zu den letzten Wurzeln der Tabuvorstellungen zurückzugehen"' (Freud
1912/1913, S.32). Freud stellt dann ausführlich Wundts Tabutheorie
vor und kommt zu folgenden Schlußfolgerungen:
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,,Wundt lehrt also, das Tabu sei ein Ausdruck und Ausfluß
des Glaubens der primitiven Völker an dämonische Mächte.
Später habe sich das Tabu von dieser Wurzel losgelöst und sei
eine Macht geblieben, einfach weil es eine solche war, infolge einer Art
von psychischer Beharrung; so sei es selbst die Wurzel unserer Sittengebote
und unserer Gesetze geworden. So wenig nun der erste dieser Sätze
zum Widerspruch reizen kann, so glaube ich doch dem Eindruck vieler Leser
Worte zu leihen, wenn ich die Aufklärung Wundts als eine Enttäuschung
anspreche. Das heißt wohl nicht, zu den Quellen der Tabuvorstellungen
heruntergehen oder ihre letzten Wurzeln aufzeigen. Weder die Angst noch
die Dämonen können in der Psychologie als letzte Dinge gewertet
werden, die jeder weiteren Zurückführung trotzen. Es wäre
anders, wenn die Dämonen wirklich existierten; aber wir wissen ja,
sie sind selbst wie die Götter Schöpfüngen der Seelenkräfte
des Menschen; sie sind von etwas und aus etwas geschaffen worden" (Freud
1912/1913, S.34).
Es folgen noch eine Erörterung von Wundts Auffassung
über die Doppelbedeutung des Tabus, die Freud als ,,bedeutsame, aber
nicht ganz klar zu fassende Ansichten" (Freud 1912/1913, S.34> bezeichnet
und ein Zitat aus Elemente der Völkerpsychologie von Wundt,
das belegen soll, daß die Wissenschaft die Bedeutung des Totemismus
anerkennt: ,,Nehmen wir all dies zusammen, so ergibt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit
der Schluß, daß die totemistische Kultur überall einmal
eine Vorstufe der späteren Entwicklungen und eine Übergangsstufe
zwischen dem Zustand des primitiven Menschen und dem Helden- und Götterzeitalter
gebildet hat" (Wundt 1912, S~ 139; zitiert bei Freud 1912/1913, S.123).
Abgesehen von einigen wenigen Übereinstimmungen in Einzelfragen scheint
Freud den Wundtschen völkerpsychologischen Ansichten ausgesprochen
kritisch gegenübergestanden zu haben. Als er am dritten Aufsatz von
Totem
und Tabu über ,,Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken" arbeitet
und sich gleichzeitig über Wundts Auffassung zu diesen Problemen informiert,
muß er sich schon sehr über dessen Völkerpsychologie geärgert
haben, denn am 17.10. 1~2 schreibt er an Sándor Ferenczi: ,,[Ich]
bin wütend über Wundt. Nach 11stündiger Arbeit abends diesen
Quatsch lesen zu müssen, ist eine harte Strafe" (zit. n. Jones 1955,
dt. 1984, Bd. 2'S.416).
Der Überblick über die Rezeption der Wundtschen
Auffassungen durch Freud zeigt, daß - sieht man von den Differenzen
hinsichtlich völkerpsychologischer Überlegungen ab - zwischen
Psychoanalyse und der durch Wilhelm Wundt vertretenen akademischen Psychologie
keineswegs von vornherein ein unüberbrückbarer theoretischer
Gegensatz bestanden hat. Da später dennoch die Konfrontation zwischen
beiden Richtungen zu einem bestimmenden Merkmal der Psychologiegeschichte
im 20. Jahrhundert geworden ist, erhebt sich die Frage nach den Gründen
für diese Konfrontation. In einer früheren Arbeit (Tögel
1984) habe ich versucht, diese Frage zu beantworten, glaube aber heute,
daß meine damalige Argumentation wissenschaftsgeschichtlich nicht
haltbar ist. Es stimmt zwar, daß die sozialen Rollen von Wundt und
Freud erstaunlich viele Parallelen aufweisen, doch sind diese Parallelen
nie realhistorisch wirksam geworden. Deshalb glaube ich heute nicht mehr,
daß die Gegenüberstellung von Psychoanalyse und akademischer
Psychologie auf die Konkurrenz der beiden Schulengründer Wundt und
Freud zurückgeführt werden kann, sondern neige eher zu der traditionellen
Auf-
- 104 -
fassung, daß es zu einem nicht geringen Teil die
große Bedeutung war, die Freud der Sexualität einräumte
(vgl. Nitzschke 1976), die die meisten Vertreter der akademischen Psychologie
(und auch namhafte Psychiater) eine Abwehrhaltung der Psychoanalyse gegenüber
hat einnehmen lassen (vgl. dazu den Beitrag von Geuter & Nitzschke
in diesem Band). Die akademische Psychologie war die ,,Psychologie eines
Menschen, der sich nicht fortpflanzt" (Schmidt 1988). Es ist verständlich,
daß es für Wundt und Ebbinghaus oder Stumpf und Külpe schwer
war, eine neue Richtung anzuerkennen, die sich nicht auf die etablierten
Gegenstände der Psychologie beschränkte, sondern neue einführte
und diesen dann auch noch einen zentralen Platz in der Psychologie zuwies.
Sicher gibt es auch noch andere Gründe für die Konfrontation
von Psychoanalyse und akademischer Psychologie wie z. B. der esoterische
Charakter, den die psychoanalytische Bewegung etwa seit 1912 (Gründung
des ,,Geheimen Komitees", vgl. dazu Wittenberger 1988) angenommen hatte.
Die Tatsache, daß alle diese Gründe eher nichtsystematischer
Art sind, sollte uns davon überzeugen, daß folgende Worte Karl
Bühlers heute aktueller denn je sind: ,,Was die Psychoanalyse angeht,
so bin ich der Meinung, daß gewisse Trennungsmauern zwischen ihr
und der übrigen Psychologie fallen müssen" (Bühler 1927,
5. IX). Ich glaube, dieser Meinung können sich alle Psychologen und
Psychoanalytiker anschließen, die ein echtes Interesse am Fortschritt
humanpsychologischer Wissenschaft haben.
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