Sigmund Freud, Felix Salten und Karl Lueger. Ein neuentdeckter Brief Sigmund Freuds
Hochgeehrter Herr
Nachdem ich Sie im Cottage-Sanatorium kennengelernt habe, nehme ich mir die Freiheit, ein persönliches Bedürfnis von mir durch diese Zeilen zu befriedigen. Es drängt mich, Ihnen meine Bewunderung für Ihren Luegerartikel in der N.Presse auszudrücken. (Sie sehen ich fühle mich als "Bürger von Wien") [2] Die heikle Aufgabe konnte kaum taktvoller, würdiger und - wahrheitsgemäßer gelöst werden.
Ihr Freud
Freud hatte Mitte Februar 1926 mehrere Anfälle von Angina pectoris auf der Straße und konsultierte deswegen seinen Freund, den Kardiologen Ludwig Braun. [3] Braun und der auch hinzugezogenen Lajos Levy bestanden auf einem längeren Sanatoriumsaufenthalt Freuds. [4] Vom 5. März bis 2. April unterzog Freud sich dann im Cottage-Sanatorium in der Sternwartenstraße 74 (Döbling, XIX. Bezirk) einer "Herztherapie". Während dieser Wochen besuchte ihn dort u.a. auch Arthur Schnitzler. [5] Wir wissen bisher nicht, ob Felix Salten auch nur gekommen war, um Freud zu besuchen oder ob er sich vielleicht selbst einer Behandlung im Sanatorium unterzog.
Felix Salten hatte im Jahre 1910 ein Essay über Lueger veröffentlicht. [6] Sechzehn Jahre später und ein halbes Jahr nach der ersten Begegnung mit Freud [7] veröffentlichte Salten in der Neuen Freien Presse einen weiteren Artikel über den Wiener Bürgermeister [8]; die Identifizierung des Artikels verdanken wir Helmut Pouh, dem wir an dieser Stelle herzlich danken möchten.} aus Anlaß der Enthüllung eines Lueger-Denkmals am 19. September 1926. [9]
Schon einen Tag später schrieb Freud ihm daraufhin den oben abgedruckten Brief. Was mag Freud bewogen haben, so schnell zu reagieren und Saltens Artikel die Attribute "taktvoll", "würdig" und "wahrheitsgemäß" zu verleihen?
Zuerst ein paar Bemerkungen zur Vorgeschichte: Freud war - wie fast alle Wiener Juden - seit Beginn von Luegers politischer Karriere ein dezidierter Kritiker von dessen gesamtpolitischer Ausrichtung. Das illustriert z.B. folgende Episode:
Obwohl Karl Lueger am 29. Oktober 1895
vom Wiener Gemeinderat zum Bürgermeister gewählt worden war lehnte
Kaiser Franz Joseph I. dessen Ernennung ab, weil er eine zu stark antisemitisch
orientierte Politik vertrat. [10] Aus Anlaß dieser Ablehnung durch
den Kaiser erwähnt Freud zum ersten Mal Luegers Namen. An Wilhelm
Fließ schreibt er über die Einhaltung des von dem Freund verhängten
Rauchverbot:
Diese Zeilen sind ein Jahr nach Lueger Amtsantritt geschrieben worden. In den folgenden 12 Jahren bis zu seinem Tod im Jahre 1910 haben viele Wiener, darunter auch viele Juden, ihre Kritik an Lueger abgeschwächt. Seine Verdienste um Wien konnte niemand übersehen. Und aus dem Abstand von mehr als anderthalb Jahrzehnten - Freuds Brief ist aus dem Jahre 1926 - begann Lueger langsam zu einer Person der Geschichte zu werden.
An Saltens Artikel hat Freud wohl in erster Linie die Größe beeindruckt, mit der der Schriftsteller und Jude den Antisemiten Lueger beurteilte:
In den letzten Dezennien des alten Österreichs die repräsentativste Gestalt. Das kann man wohl sagen, selbst wenn man gar keine Ursache hatte, sich seinen Freund oder seinen Verehrer zu nennen. [15]
Hierauf mag sich Freuds Urteil "würdig" beziehen; damit anerkennt Freud die objektive Einschätzung Luegers durch den politisch andersdenkenden Salten. Eher "`taktvoll"' ist die folgende Passage:
Anmerkungen
[1] Freud verbrachte die Zeit vom 17. Juni bis 27. September in der Villa Schüler am Semmering.
[2] Diese Klammerbemerkung kann sich sowohl darauf beziehen, daß er seit 1908 das "`Heimat- und Bürgerrecht der Stadt Wien"' besaß, als auch auf die Verleihung des Ehrentitels "`Bürger der Stadt Wien"' am 15. April 1924; vgl. Arbeiter-Zeitung vom 7.5.1924.
[3] Freud/Ferenczi Briefwechsel ÖNB, Autogr. 1053/45-4.
[4] Freud/Ferenczi Briefwechsel ÖNB, Autogr. 1053/45-6; Freud (1993e), S. 596.
[5] Freud (1955b), S. 99f.; Freud/Ferenczi Briefwechsel ÖNB, Autogr. 1053/45-6, 1053/45-7.}
[6] Salten (1910).
[7] Vermutlich trafen sich Freud und Salten noch ein weiteres Mal am 16. August 1930; vgl. Molnar (1992), S. 79.
[8] Salten (1926)
[9] Das Denkmal stammte von Josef Müllner und war bereits seit zehn Jahren fertig. Aber erst 1926 konnte ein geeigneter Standort gefunden werden: Der heutige Dr.-Karl-Lueger-Platz am Stubenring.
[10] Lueger wurde erst nach der vierten Wahl zum Bürgermeister am 20. April 1897 vom Kaiser offiziell ernannt; vgl. Stadtchronik Wien. Wien/München: Brandtsätter 1986, S. 356.
[11] Freud (1985c), S. 153.
[12] Vgl. dazu Tögel (1989), S. 115-119.
[13] Freud (1985c), S. 338.
[14] Freud (1985c), S. 385.
[15] Salten (1926), S. 1.
[16] Salten (1926), S. 1.
[17] Salten (1926), S. 2.