Christfried Tögel und Liselotte Pouh

Sigmund Freud, Felix Salten und Karl Lueger. Ein neuentdeckter Brief Sigmund Freuds



 
 
 

Semmering 20.9.26 [1]
PROF. DR. FREUD                                                                                                                         WIEN IX., BERGGASSE 19
 
 

Hochgeehrter Herr

Nachdem ich Sie im Cottage-Sanatorium kennengelernt habe, nehme ich mir die Freiheit, ein persönliches Bedürfnis von mir durch diese Zeilen zu befriedigen. Es drängt mich, Ihnen meine Bewunderung für Ihren Luegerartikel in der N.Presse auszudrücken. (Sie sehen ich fühle mich als "Bürger von Wien") [2] Die heikle Aufgabe konnte kaum taktvoller, würdiger und - wahrheitsgemäßer gelöst werden.

In vorzügl. Hochachtung

Ihr Freud

Aus diesem Brief erfahren wir erst einmal, daß Freud und Felix Salten sich persönlich kannten. Sie hatten sich zuerst im Cottage-Sanatorium getroffen.

Freud hatte Mitte Februar 1926 mehrere Anfälle von Angina pectoris auf der Straße und konsultierte deswegen seinen Freund, den Kardiologen Ludwig Braun. [3] Braun und der auch hinzugezogenen Lajos Levy bestanden auf einem längeren Sanatoriumsaufenthalt Freuds. [4] Vom 5. März bis 2. April unterzog Freud sich dann im Cottage-Sanatorium in der Sternwartenstraße 74 (Döbling, XIX. Bezirk) einer "Herztherapie". Während dieser Wochen besuchte ihn dort u.a. auch Arthur Schnitzler. [5] Wir wissen bisher nicht, ob Felix Salten auch nur gekommen war, um Freud zu besuchen oder ob er sich vielleicht selbst einer Behandlung im Sanatorium unterzog.

Felix Salten hatte im Jahre 1910 ein Essay über Lueger veröffentlicht. [6] Sechzehn Jahre später und ein halbes Jahr nach der ersten Begegnung mit Freud [7] veröffentlichte Salten in der Neuen Freien Presse einen weiteren Artikel über den Wiener Bürgermeister [8]; die Identifizierung des Artikels verdanken wir Helmut Pouh, dem wir an dieser Stelle herzlich danken möchten.} aus Anlaß der Enthüllung eines Lueger-Denkmals am 19. September 1926. [9]

Schon einen Tag später schrieb Freud ihm daraufhin den oben abgedruckten Brief. Was mag Freud bewogen haben, so schnell zu reagieren und Saltens Artikel die Attribute "taktvoll", "würdig" und "wahrheitsgemäß" zu verleihen?

Zuerst ein paar Bemerkungen zur Vorgeschichte: Freud war - wie fast alle Wiener Juden - seit Beginn von Luegers politischer Karriere ein dezidierter Kritiker von dessen gesamtpolitischer Ausrichtung. Das illustriert z.B. folgende Episode:

Obwohl Karl Lueger am 29. Oktober 1895 vom Wiener Gemeinderat zum Bürgermeister gewählt worden war lehnte Kaiser Franz Joseph I. dessen Ernennung ab, weil er eine zu stark antisemitisch orientierte Politik vertrat. [10] Aus Anlaß dieser Ablehnung durch den Kaiser erwähnt Freud zum ersten Mal Luegers Namen. An Wilhelm Fließ schreibt er über die Einhaltung des von dem Freund verhängten Rauchverbot:
 

Ich halte mich sonst an die Vorschrift, nur am Tage von Luegers Nichtbestätigung habe ich aus Freude exzediert. [11] Die nächste Erwähnung Luegers erfolgt zweieinhalb Jahre später. Freud macht über Ostern 1898 (8. bis 11. April) mit seinem Bruder Alexander einen Ausflug nach Aquileja und Grado und besichtigt auf dem Rückweg die Höhlen von St. Canzian. [12] Die Beschreibung der Höhlen beendet Freud mit dem Satz: Der Herr von Wien, Herr Dr. Carl Lueger, war mit uns gleichzeitig in der Höhle, die uns alle nach 3~1/2 Stunden wieder ans Licht spie. [13] Freud enthält sich hier jeder Kritik, doch aus einem anderen Brief wird deutlich, daß seine Meinung über Lueger immer noch alles andere als günstig war. Bei einem Besuch bei Oskar Rie lernte Freud einen Bekannten von Wilhelm Fließ kennen; der Mann gefiel ihm sehr, forderte aber "durch sein tolerantes Urteil über unseren Lueger unseren Zorn heraus." [14]

Diese Zeilen sind ein Jahr nach Lueger Amtsantritt geschrieben worden. In den folgenden 12 Jahren bis zu seinem Tod im Jahre 1910 haben viele Wiener, darunter auch viele Juden, ihre Kritik an Lueger abgeschwächt. Seine Verdienste um Wien konnte niemand übersehen. Und aus dem Abstand von mehr als anderthalb Jahrzehnten - Freuds Brief ist aus dem Jahre 1926 - begann Lueger langsam zu einer Person der Geschichte zu werden.

An Saltens Artikel hat Freud wohl in erster Linie die Größe beeindruckt, mit der der Schriftsteller und Jude den Antisemiten Lueger beurteilte:

In den letzten Dezennien des alten Österreichs die repräsentativste Gestalt. Das kann man wohl sagen, selbst wenn man gar keine Ursache hatte, sich seinen Freund oder seinen Verehrer zu nennen. [15]

Hierauf mag sich Freuds Urteil "würdig" beziehen; damit anerkennt Freud die objektive Einschätzung Luegers durch den politisch andersdenkenden Salten. Eher "`taktvoll"' ist die folgende Passage:

Er hat die Ärzte und die Professoren und die Bildung und die Juden wohl kaum in Wahrheit gehaßt. Er war ein echter Wiener Kleinbürger, das heißt also, er war kein richtiger Hasser, nur ein rechter Schimpfer. [16] Und schließlich ist der ganze Essay "wahrheitsgemäß", d.h. Salten entwirft ein Bild von Lueger, das facettenreich ist, nicht durch bestimmte Vorurteile beeinflußt wird und den Menschen Lueger in seiner Ganzheit charakterisiert. Einige Kernsätze aus Saltens Essay seien hier zitiert:
  Er war sicherlich kein großer Mensch, doch ebenso gewiß bleibt es, daß er ein voller und echter Mensch war wie sehr wenige. Auch seiner Politik ermangelte die Größe, ihr fehlte der weite Horizont: sie blieb niederösterreichisch, wienerisch, blieb an Stadt und Gelände rund um den Stephansturm gebunden ...
Er war ein fabelhaftes Temperament, ein Menschenfänger ohnegleichen, ein genialischer Schauspieler und eine prachtvolle Natur. Auch die Gegner vermochten es kaum, sich dem Reiz seiner Persönlichkeit zu entziehen. Das war die Kraft des Liebenswürdigen, des Sinnlichen, des Lebensfreudigen, des Musikalischen, kurz des Wienerischen an Lueger. [17]
Freuds Brief an Salten und sein Lob des Essays zeugt von einem - trotz aller Ambivalenz Wien und Lueger gegenüber - Interesse an der Geschichte der Stadt, in der der Begründer der Psychoanalyse fast 80 Jahre lang gelebt hat. Und Lueger war immerhin 15 Jahre deren Bürgermeister.
 
 

Anmerkungen

[1] Freud verbrachte die Zeit vom 17. Juni bis 27. September in der Villa Schüler am Semmering.

[2] Diese Klammerbemerkung kann sich sowohl darauf beziehen, daß er seit 1908 das "`Heimat- und Bürgerrecht der Stadt Wien"' besaß, als auch auf die Verleihung des Ehrentitels "`Bürger der Stadt Wien"' am 15. April 1924; vgl. Arbeiter-Zeitung vom 7.5.1924.

[3] Freud/Ferenczi Briefwechsel ÖNB, Autogr. 1053/45-4.

[4] Freud/Ferenczi Briefwechsel ÖNB, Autogr. 1053/45-6; Freud (1993e), S. 596.

[5] Freud (1955b), S. 99f.; Freud/Ferenczi Briefwechsel ÖNB, Autogr. 1053/45-6, 1053/45-7.}

[6] Salten (1910).

[7] Vermutlich trafen sich Freud und Salten noch ein weiteres Mal am 16. August 1930; vgl. Molnar (1992), S. 79.

[8] Salten (1926)

[9] Das Denkmal stammte von Josef Müllner und war bereits seit zehn Jahren fertig. Aber erst 1926 konnte ein geeigneter Standort gefunden werden: Der heutige Dr.-Karl-Lueger-Platz am Stubenring.

[10] Lueger wurde erst nach der vierten Wahl zum Bürgermeister am 20. April 1897 vom Kaiser offiziell ernannt; vgl. Stadtchronik Wien. Wien/München: Brandtsätter 1986, S. 356.

[11] Freud (1985c), S. 153.

[12] Vgl. dazu Tögel (1989), S. 115-119.

[13] Freud (1985c), S. 338.

[14] Freud (1985c), S. 385.

[15] Salten (1926), S. 1.

[16] Salten (1926), S. 1.

[17] Salten (1926), S. 2.