Traum und Schizophrenie
Herrn OMR Prof. Dr. H. Wendt zum 65. Geburtstag gewidmet.
Christfried Tögel
Ersetzt man jedoch in diesem Satz des D e s c a r t e s das Wort ,,Wachen" durch das Wort ,,Halluzination" oder auch ,,Wahnidee", so trifft dieser Ausspruch für Geisteskranke zu. Es war der italienische Traumforscher Sante d e S a n c t i s, der dies erkannt hatte. Er bemerkte, daß Geisteskranke ihre Halluzinationen häufig nicht von ihren Träumen unterscheiden können [16]. Medard Boss hat im Jahre 1938 diese Beobachtung durch die Auswertung von über 4000 Träumen bestätigen können [4]. Damit war ein ganz konkreter Hinweis auf die seit langem vermutete Verwandtschaft zwischen Traum und Geisteskrankheit gegeben'. Schon Immanuel K a n t hatte im Jahre 1764 in der ,,Königsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitung" in einem Beitrag unter dem Titel ,,Versuch über die Krankheiten des Kopfes" folgende lapidare Schlußfolgerung aus der Ähnlichkeit zwischen Traum und ,,Verrücktheit" gezogen: ,,Der Verrückte ist also ein Träumer im Wachen" ([11] S.265).'
S i g m u n d F r e u d , der dem Verhältnis zwischen Traum und Geisteskrankheiten einen ganzen Abschnitt seiner ,,Traumdeutung" gewidmet hat, sieht drei Typen möglicher Beziehungen zwischen beiden Phänomenen:
Wilhelm G r i e s i n g e r hat wohl als erster Vermutungen über den Traum und Psychose gemeinsamen Mechanismus angestellt. Er sah ihn in der Wunscherfüllung [9]. Damit nahm G r i e s i n g e r Erkenntnisse vorweg, die erst über ein halbes Jahrhundert später durch die Arbeiten von F r e u d und auch Eugen B l e u l e r einem breiteren Kreis bekannt geworden sind.
Neben G r i e s i n g e r hat auch W i l h e l m W u n d t an mehreren Stellen seiner zahlreichen Schriften auf Analoges zwischen Traum und Geisteskrankheit hingewiesen. Er war der Meinung, daß wir fast alle Erscheinungen, die uns in den
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Im Jahre 1886 stellte dann Wilhelm R o b e r t folgende hochinteressante Hypothese auf:
Die biochemische Seite dieses Mechanismus erklärt J o v a n o v i c so:
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adrenalingehalt an den Synapsen wird chemischer Ebene die Verwandtschaft von Traum und Psychose.
F r e u d wies als erster nachdrücklich auf die Wichtigkeit diese Verwandtschaft für die psychiatrische Praxis hin. In der Vorbemrkung zur,,Traumdeutung" schreibt er:
Auch Eugen Bleuler, der im Jahre 1911 den Begriff der Schizophrenie eingeführt hat [2), hat in seinem ,,Lehrbuch der Psychiatrie" an mehreren Stellen auf die Ähnlichkeiten zwischen dem Denken Schizophrener und bestimmten Charakteristika des Traums hingewiesen. Er schrieb, daß der schizophrenen Zerfahrenheit ähnliche Denkformen auch dem Gesunden nicht fremd sind. Im Traum finde man bei Gesunden ähnlichen Überspringen von Erfahrung und Logik wie bei Schizophrenen [3). Sogar die Begriffe,. mit denen B l e u l e r die Störungen des Gedankengangs bei Schizophrenen bezeichnet, decken sich teilweise mit denen; die F r e u d zur Charakterisierung der Leistungen der Traumarbeit verwendet. Beide sprechen z. B. von ,,Verdichtung", ,,Verschiebung"' und ,,Symbolbildung".
Soviel zur fachwissenschaftlichen Seite der Verwandtschaft von Traum und Schizophrenie.
Das Problem kann aber auch erkennnistheoretisch betrachtet werden. Beide Phänomene, der Traum und die Schizophrenie, sind Erscheinungen des menschlichen Bewußtseins. Die marxistisch-leninistische Philosophie begreift ,,das Bewußtsein des Menschen als Abbild der objektiven Realität . . .,, ([12] S. 267). Es spiegelt also das außerhalb von ihm, tatsächlich (real) und unabhängig (objektiv) Existierende wider. Diese Widerspiegelung kann sich auf einer Skala von adäquat bis stark verzerrt bewegen, etwa in dem Sinne, wie es ,,normale" Spiegel gibt, aber auch leicht unebene bis hin zu Zerrspiegeln auf dem Jahrmarkt.
Die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit einer adäquaten Widerspiegelung der Wirklichkeit ist spätestens seit K a n t zu einem Grundproblem der philosophischen Auseinandersetzung geworden. K a n t war der Meinung,
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Es klingt wie eine Erläuterung der E n g e l sschen Bemerkung, wenn Carl-Friedrich v o n W e i z s ä c k e r schreibt:
Für die Betrachtung unseres Problems, des Zusammenhangs von Traum und Schizophrenie ist die folgende, aus den obigen erkenntnistheoretischen Überlegungen abgeleitete Hypothese entscheidend: Wenn der Zwang, sich in der Umwelt zurechtzufinden, eine annähernd adäquate Widerspiegelung oben dieser Umwelt erfordert, dann kann das Fehlen dieses Zwangs eine inadäquate oder verzerrte Widerspiegelung erlauben.
Bin ich nun n i c h t gezwungen, mich in meiner Umwelt zurechtzufinden - und genau das ist im Schlaf der Fall (!) -, so kann sich mein Bewußtsein ,,leisten", verzerrt widerzuspiegeln. Dann träume ich z. B. ich sei Old Shatterhand oder ich könne fliegen. Beides entspricht nicht der Wahrheit, aber da es nur ein Traum ist, hat es keine negativen Konsequenzen, ja es kann sogar positiv als ein ,,Training der Phantasie" aufgefaßt werden [14].
Ganz anders im Wachen, wenn der Mensch mit seiner Umwelt interagiert: Spiegelt mir dann mein Bewußtsein vor, ich könne fliegen, so springe ich womöglich von meinem Balkon. Falls ich das überlebe, werde ich als Geisteskranker behandelt. Oder ich stelle mich anderen Leuten als Old Shatterhand vor. Das hat zwar für meine Gesundheit keine nachteiligen Folgen, zum Psychiater werde ich aber ebenfalls geschickt.
Mit andern Worten: Wenn das Bewußtsein des in Interaktion mit seiner Umwelt befindlichen Menschen diese nicht adäquat widerspiegelt, kommt es zu Kollisionen. Wird die Umwelt in der Nacht, wenn der Mensch passiv im Bett liegt. nicht adäquat widerspiegelt, so hat das keine negativen Konsequenzen. Wir betrachten deshalb Wahnideen u. ä. als pathologisch. Träume dagegen als normal. Erfolgreiche Interaktion mit der Umwelt setzt adäquate Widerspiegelung voraus. Fehlende Interaktion dagegen e r m ö g l i c h t eine inadäquate Widerspiegelung.
Dieser erkenntnistheoretische Ansatz scheint die von philosophischer und fachwissenschaftlicher Seite schon lange gesehene Verwandtschaft zu bestätigen: Schizophrenien sind in das Wachleben verlagerte Träume und Träume sind Schizophrenien ohne Krankheitswert. Praktisch relevant wird diese Auffassung dann, wenn man versucht, über das Verständnis des Traums zum Verständnis der Schizophrenie vorzudringen.
Eine auf diesen erkenntnistheoretischen Überlegungen basierende psychologische Theorie, die den Zusammenhang von Traum und Schizophrenie erfassen will, muß von folgendem Grundgedanken ausgehen: Träume bestehen aus Bewußtseinsprodukten, die während des Wachlebens wegen des Zwangs einer adäquaten Widerspiegelung der Umwelt nicht realisiert werden können; fällt die Kontrollfunktion dieses Zwanges aus, kommt es zur Schizophrenie.
Es scheint also durchaus möglich, Traum und Schizophrenie
unter ein und demselben Gesichtspunkt zu betrachten. Oder therapeutisch
gewendet: "Wenn der Traum Schlüssel zur Psychogenese neurotischer
Störungen sein kann, wieso soll
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der Inhalt einer Wahnidee nicht Gleiches in bezug auf die Psychose leisten können? Dem inneren Zusammenhang zwischen Traum und Schizophrenie kommt somit eine Psychotherapie und Psychiatrie übergreifende Funktion zu.
Es ist genau diese innere Verwandtschaft die das therapeutische
Engagement Professor W e n d ts in b e i d e n Bereichen,
in Psychotherapie und Psychiatrie, so selbstverständlich erscheinen
läßt.
Literatur
1. B e r g e r, R. J. I. O s w a 1 d: Effects of sleep
deprivation on behavior, subsquent sleep and dreaming. EEC
Clinical Neuorophysiology 14 (1962)
294-297.
2. B l e u l e r, E.: Dementia praecox oder die Gruppe
der Schizophrenien. Leipzig. Franz Deuticke Verlag 1911.
3. B l e u l e r, E.: Lehrbuch der Psychiatrie. Berlin:
Springer-Verlag 1916 (13. Auflage 1975.
4. B o s s , M.: Psychopathologie des Traumes bei schizophrenen
und organischen Psychosen. Zeitschrift für die
gesamte Neurologie und Psychiatrie
162 (1938) 459-494.
5. D e m e n t, W.: The effect of dream deprivation.
Science 131 (1960) 1705-1706.
6. D e s c a r t c s, R.: Meditationen über die
Grundlagen der Philosophie. in: R. D e s c a r t e s , Ausgewählte
Schriften, Leipzig Verlag Phillip
Reclam jun. 1980, S. 157-228.
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7. E n g e l s, F. : Ludwig Feuerbach und der Ausgang
der klassischen deutschen Philosophie, in: K. M a r x,
F. E n g e l s: Ausgewählte
Schriften in 2 Bänden, Bd. 2 Berlin Dietz Verlag, S.328-369.
8. F r e u d, S.: Die Traumdeutung. Leipzig und Wien:
Franz Deuticke Verlag 1900 (zitiert nach der Ausgabe von 1980,
Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuchverlag).
9. G r i e s i n g e r, W.: Pathologie und Therapie der
psychischen Krankheiten. Stuttgart: A. Krabbe Verlag 1845.
10. J o v a n o v i c, U. J.: Traumforschung, in: Handbuch
der Psychologie, Bd. 8, Klinische Psychologie, 2. Halbband,
Göttingen: Verlag für Psychologie
Dr. J. C. Hogrefe 1978, S.1257-1318.
11. K a n t, I.: Versuch über die Krankheiten des
Kopfes, in: Kant's gesammelten Schriften. Herausgegeben von der
Königlich Preußischen Akademie
der Wissenschaften, Bd. 2, Berlin: Georg Reimer 1905, S.257-271.12. K a
n t, I.: Kritik
der reinen Vernunft, in: Kant's gesammelte
Schriften. Herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie
der
Wissenschaften,. Bd. 4 (Ausgabe von
1781) Berlin: Georg Reimer 1903.
13. L e n i n , W. I.: Materialismus und Empiriokritzismus.
Berlin: Dietz Verlag 1975.
14. P o Ii k a r o v, A.; C. T ö g e 1: Über
den adaptiven Charakter des Traums. Comptes rendus de l'Acade'mie bulgare
des
Science 35 (1982) 407-10.
15. R o b e r t, W.: Der Traum als Naturnotwendigkeit
erklärt. Hamburg 1886.
16. S i e b e n t h a 1, W. v.: Die Wissenschaft
vom Traum. Berlin: Springer-Verlag 1953.
17. W e i z s ä c k e r, C. F. v.: Der Garten des
Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Antliropologie. München:
Carl
Hanser Verlag 1977.
18. W u n d t, W.: Gründzüge der physiologischen
Psychologie 2. Auflage, Bd. 2, Leipzig: Wilhelm Engelmann 1880.
19. W u n d t, W.: Vorlesungen über die Menschen-
und Tierseele. 4. Auflage. Hamburg und Leipzig: Verlag Leopold Voss
1904.