-7 -

Einführung

Der Traum ist eine Realität, die jeder nächtlich an sich erfährt. Die Möglichkeiten, mit dieser Realität umzugehen, sind vielfältig: Man kann sie z. B. vergessen und behaupten: Ich träume nie. Man kann aber auch das ganze Leben nach seinen Träumen ausrichten. Das war im Alten Orient weitverbreitet.[1] Schließlich kann man Träume auch zum Gegenstand der Wissenschaft machen. Der Weg bis dahin und die wichtigsten Ergebnisse der "Wissenschaft vom Traum" sind Gegenstand dieses Büchleins.

Dabei werden wir immer wieder auf Fragen stoßen, die das Verhältnis von Phantasie und Realität berühren: Sind Träume nur Schäume, wie es ein Sprichwort wissen will, oder besteht zwischen ihrer Einbildungskraft und der Wirklichkeit ein Zusammenhang? Wo nimmt der Traum sein Material her? Kann die Traumphantasie wissenschaftliche Probleme lösen? Wieso ist die Widerspiegelung der Wirklichkeit im Traum manchmal so verzerrt?

Auf diese und viele weitere Fragen hat die Traumforschung zu antworten versucht. Die meisten dieser Antworten sind nur vorläufig und in der Regel heiß umstritten. Und sicher werden wir niemals endgültige Auskünfte über alle uns im Zusammenhang mit unserer Träumen interessierenden Fragen bekommen. Hier können lediglich verschiedene Ergebnisse der Traumforschung und Ansätze zur Erklärung des Wesens der Träume dargestellt werden.

Versuche, das Phänomen "Traum" zu erklären, gibt es spätestens seit der Antike. Schon damals hatten sich die Leute gefragt, was es mit besonders blutrünstigen der mit sexuellen Träumen auf sich habe, ob man für im

- 8 -

Traum begangene Verbrechen verantwortlich sei, ob bestimmte Trauminhalte durch äußere Reize hervorgerufen werden können und vieles andere mehr. Die Vorgeschichte der Traumforschung, d. h. die Entwicklung der Auffassungen vom Traum vom Altertum bis ins 19. Jahrhundert, ist Gegenstand des ersten Kapitels.

Sigmund Freud und seiner psychoanalytischen Traumtheorie ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Er war es, der der gängigen Auffassung der Medizin und Psychologie seiner Zeit, der Traum sei lediglich eine Zuckung des sonst schlafenden Seelenlebens bzw. bestehe aus sinnlosen Impulsen von Nervenzellen, den Kampf angesagt hatte. Sein Buch "Die Traumdeutung" wurde zum Ausgangspunkt der modernen Traumforschung, sei es durch Vertreter der Psychoanalyse, die Freuds Lehre weiterentwickelten, oder durch seine Gegner, die die von ihm aufgestellten Hypothesen zu widerlegen suchten. Auch heute noch kann kein Wissenschaftler, der sich ernsthaft mit dem Traum beschäftigt, an Freuds Buch vorbei.

Neben Freuds Traumtheorie werden wir uns einige der einflußreichsten und interessantesten modernen Traumauffassungen ansehen, u. a. die von Jovanovic, von Koukkou und Lehmann, die die von Freud behaupteten Mechanismen des Traumgeschehens durch neuere Forschungsresultate erklären. Erwähnen werden wir auch die Hypothesen von Nobelpreisträger Francis Crick, der im Traum einen für die Evolution des menschlichen Gehirns entscheidenden Faktor sieht.

Besondere Aufmerksamkeit werden wir natürlich den Fragen widmen, die im Mittelpunkt der experimentellen Traumforschung stehen: Wann träumt man, wie oft träumt man, was träumt man, kann man Träume künstlich hervorrufen, träumt man farbig, warum erinnert man sich häufig nicht an seine Träume, wie steht es mit der Weckbarkeit aus dem Traum, was sind Alpträume, gibt es geschlechtsspezifische Traummuster, was passiert, wenn man das Träumen mit Gewalt verhindert usw.

Doch wird dieses Büchlein auch einige andere Pro-

- 9 -

bleme ansprechen, so z.B. die Frage nach Problemlösungen im Traum. Wir werden einige aus der politischen und der Wissenschaftsgeschichte bekannte Fälle betrachten und sehen, wie z. B. Kekulé‚ zur Entdeckung der Ringstruktur des Benzols kam oder wie dem Ägyptologen Brugsch unklare Textstellen in Hieroglyphen im Traum klar geworden sind. Natürlich interessiert uns hier besonders, wie diese Problemlösungen ohne Zuhilfenahme übernatürlicher Kräfte erklärt werden können. Eben solche übernatürlichen Kräfte macht die Parapsychologie für angeblich prophetische und telepathische Träume verantwortlich. Auf welcher Grundlage solche Behauptungen aufgestellt werden, wollen wir im Kapitel "Traum und Parapsychologie" untersuchen. Und dann kommt auch noch die Praxis zu Wort, speziell das Problem der Verwendung von Träumen in Diagnose und Therapie von neurotischen und psychotischen Erkrankungen.

Im Kapitel "Traum und Kunst" wird der Leser auf Werke der Dichtung, der Malerei und des Films hingewiesen, in denen das Traummotiv eine besondere Rolle spielt. Dabei begegnen wir den Namen von Homer und Goethe, Rembrandt und Raffael, Bunuel, Bergman, Chaplin ...

Am Schluß dieses Büchleins stehen einige Überlegungen zu philosophischen Fragen der Traumforschung, speziell die Frage nach dem Verhältnis von Traum und seinen physiologischen Begleiterscheinungen.

Bleibt noch die Frage: Wozu das alles? Was rechtfertigt den großen Forschungsaufwand, die Einrichtung von ganzen Traumlaboratorien, die Publikation von Tausenden von Büchern über den Traum, Kongresse, Symposien ... ? Ist es lediglich das Interesse der Menschen an einem rätselhaften Phänomen oder steckt mehr dahinter? Wir wollen uns hier mit der Andeutung begnügen, daß das Träumen lebenswichtig zu sein scheint. Viele Forschungsergebnisse deuten daraufhin, daß die künstliche Verhinderung des Träumens zu ernsthaften Störungen der Gesundheit des Menschen führt. Im Kapi-

- 10 -

tel "Was wissen wir heute über den Traum" werden wir auf dieses Problem näher eingehen. Und noch etwas: Mit zunehmendem Eindringen in das Wesen des Traums wachsen auch die Möglichkeiten seiner praktischen Ausnutzung. Das gilt nicht nur für die Psychotherapie, sondern auch für solche Gebiete wie die Raumfahrt: Die Träume der Kandidaten für Raumflüge sind ein wichtiges Auswahlkriterium für sowjetische Kosmonauten (vgl. Prawda vom 18. April 1971).

Und so zeigt sich, daß die Beschäftigung mit dem Traum uns ständig begleitet: von den Anfängen menschlicher Kultur bis zu ihren jüngsten Errungenschaften.