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Hypnos und Morpheus oder die Dialektik von Schlaf und Traum 


Und es ist immer ein und dasselbe, was in uns wohnt:
Lebendes und Totes, und Wachendes und Schlafendes
und Junges und Altes. Denn dieses ist umschlagend
jenes und jenes zurück umschlagend dieses.

Heraklit

Hypnos ist der griechische Gott des Schlafs. Er wohnt im Hades, der Unterwelt; seine Mutter ist die Nacht und sein Sohn ist Morpheus, der Gott des Traums.

In der griechischen Mythologie sind also die tatsächlichen Verhältnisse ganz richtig abgebildet: Die Nacht gebiert den Schlaf, und dieser ist der Vater des Traums. Nur sind die Dinge in Wirklichkeit noch etwas verwickelter, als es die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den griechischen Göttern ahnen lassen.

Es gibt nämlich mehrere Arten von Schlaf, und der Traum ist lediglich mit einer dieser Arten verbunden. Erinnern wir uns: Während des gesamten Nachtschlafs gibt es Perioden, die durch bestimmte physiologische Aktivitäten ausgezeichnet sind. Wir hatten diese Perioden "Aktiver Schlaf" (AS) genannt. Genau während des Aktiven Schlafs träumen wir nun. Es gibt also im Laufe des Nachtschlafs Phasen, in denen physiologische (AS) und psychologische (Traum) Prozesse parallel laufen. Wir wollen die Phasen Traumschlaf (TS) nennen. Die Verhältnisse zwischen Aktivem Schlaf, Traum und Traumschlaf lassen sich etwa folgendermaßen veranschaulichen:

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Aktiver Schlaf ^ Traum = Traumschlaf.

An dieser Stelle ist es wichtig, darauf hinzuweisen, daß man den Aktiven Schlaf vom Traum wohl unterscheiden, aber nicht scheiden kann.
 

Morpheus, griechischer Gott des Traums

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Um diesen Gedanken zu erläutern, wollen wir zu dem Traumunterdrückungsexperiment von Dement (vgl. S. 71 ff.) zurückkehren. Dement hatte nach Traumunterdrückung festgestellt, daß es bei den Versuchspersonen zu Entzugserscheinungen kommt. Bei der Interpretation dieser Ergebnisse entsteht nun die für uns entscheidende Frage: Treten diese Entzugserscheinungen ein, weil die Versuchspersonen nicht träumen konnten oder weil ihnen der Aktive Schlaf entzogen wurde?

Diese Frage ließe sich nur klären, wenn man den Traum verhindern könnte, ohne den Aktiven Schlaf zu beeinträchtigen, oder wenn man den Aktiven Schlaf unterbinden könnte und die Versuchspersonen trotzdem träumten. Genau das ist aber prinzipiell unmöglich. Warum?

Die prinzipielle Unmöglichkeit einer isolierten Unterdrückung entweder des Traums oder des Aktiven Schlafs ergibt sich aus der Tatsache, daß es keine Phase unseres Lebens gibt, in der Aktiver Schlaf ohne Traum bzw. Traum ohne Aktiven Schlaf auftritt. Jovanovic hat gezeigt, daß 80% des Schlafs von Frühgeborenen Aktiver Schlaf ist. Er begleitet uns also von der ersten Stunde unseres Lebens bis zum Tod. Bleibt also noch zu zeigen, daß der Mensch auch von Beginn seines Lebens an träumt. Auch hiefür scheint es gute Gründe zu geben. Jovanovic schreibt: "Es gibt noch andere als nur visuelle Träume, für die der Tast- und Drucksinn, Geschmack, Geruch sowie andere Sinne dem Frühgeborenen genügend Möglichkeiten bieten. Auf seiner niederen Stufe der ontogenetischen Entwicklung im Mutterleib könnte das Kind auch eine Art Drucksinn-Träume haben" (Jovanovic 1978, S.1297). Diese Hypothese steht durchaus im Einklang mit den Befunden der Entwicklungspsychologie: Danach entwickelt sich der Tastsinn im 1. bis 3. Monat nach der Konzeption, der Geschmacksinn im 4. bis 6. Monat, Gehör, Gesichts- und Temperatursinn im 7. bis 9. Monat und Geruch und Schmerz gleich nach der Geburt (Schmidt 1970, 5.94).

Traum und Aktiver Schlaf lassen sich also nicht von-

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einander trennen. Beide Komponenten können aber wohl unterschieden werden. Auf Grund dieser Möglichkeit haben sich zwei Forschungsrichtungen entwickelt: die physiologisch orientierte Schlafforschung und die psychologisch orientierte Traumforschung. Beide Richtungen haben ihren Sinn und ihre Berechtigung. Probleme ergeben sich erst dann, wenn man sich nicht über die Zusammenhänge von Aktivem Schlaf, Traum und Traumschlaf im klaren ist. Wozu Unklarheiten führen können, wollen wir an einem Beispiel zeigen.

Unter der Überschrift "Träume und Riesenzellen" haben wir im 3. Kapitel die Traumauffassung von MacCarley und Hobson vorgestellt. Zu dem von ihnen angenommenen Mechanismus muß zuerst festgestellt werden, daß keinerlei Art physiologischer Aktivitäten des Zustandekommens psychischer Inhalte erklären kann. Auch die elektrische Aktivität des Gehirns kann nicht für den spezifischen Trauminhalt verantwortlich gemacht werden. Aber MacCarley und Hobson machen genau das. Ihr Erklärungsmechanismus ähnelt einem Versuch, die menschliche Sprache allein durch die Arbeitsweise des Kehlkopfes zu erklären.

Aber es gibt noch eine Schwäche in ihrer Theorie. Die Tatsache, daß sie den Trauminhalt als "Rechtfertigung" für die während des Aktiven Schlafs ablaufenden Aktivitäten auffassen, ist eine eindeutige Absage an den einheitlichen Charakter des Traumschlafs, denn der Aktive Schlaf wird als Ursache für den Traum begriffen und der Traum als Rechtfertigung des Aktiven Schlafs. Damit werden Aktiver Schlaf und Traum als in der Realität getrennt behandelt.

Außerdem vermuten MacCarley und Hobson, daß die physiologischen Aktivitäten während des Traums durch Riesenzellen im Bereich der Brücke ausgelöst werden, daß also ein bestimmter Gehirnbereich Ursache des Aktiven Schlafs ist. Die Theorie der beiden Wissenschaftler läßt sich also so zusammenfassen: Ein Gehirnbereich löst den Aktiven Schlaf aus und dieser wiederum den Traum.

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Unter Berücksichtigung der Dialektik dieser Prozesse können die Beziehungen zwischen einem bestimmten Gehirnbereich, dem Aktiven Schlaf und dem Traum nur so beschrieben werden: Wenn aus der Vielzahl der möglichen Schaltungen innerhalb des Gehirns diejenige realisiert wird, die die Riesenzellen im Bereich der Brücke in Aktion treten läßt, dann hat diese Schaltung (wenigstens) zwei Eigenschaften: den Aktiven Schlaf und den Traum.

Die neuesten Ergebnisse der Schlaf- und Traumforschung bestätigen die dialektische Einheit von Aktivem ' Schlaf und Traum im Traumschlaf: Danach kann als gesichert gelten, daß Azetylcholin (die von Otto Loewi entdeckte chemische Überträgersubstanz von Nervenimpulsen, vgl. S.104f.) für den Gesamtschlaf verantwortlich ist. In Kombination mit einem anderen Überträgerstoff (Transmitter), dem Serotonin, führt Azetylcholin zum traumlosen Schlaf. Wird es dagegen mit Noradrenalin kombiniert, führt es zum Traumschlaf mit seinen beiden Komponenten: dem Aktiven Schlaf und dem Traum. Die entsprechende Form des Schlafs wird immer dann ausgelöst, wenn der dafür verantwortliche Transmitter eine bestimmte Konzentration übersteigt. So führt eine bestimmte Noradrenalinkonzentration zum Traumschlaf; während des Traumschlafs wird Noradrenalin abgebaut. In den traumlosen Phasen steigt die Konzentration wieder an, es kommt zum Traumschlaf usw. usf.

Wenn wir also eine Ursache für den Traumschlaf suchen, dann ist es die Konzentration des Noradrenalins am subsynaptischen Spalt. Dieser biochemische Steuerungsmechanismus hat aber nichts mit dem Trauminhalt zu tun. Weder kann man diesen Mechanismus noch irgendwelche andere Aktivitäten biochemischer oder neurophysiologischer Art für ihn verantwortlich machen.

Aber es gibt noch eine andere Überlegung, die gegen die Hypothese von MacCarley und Hobson und überhaupt gegen Ansätze dieser Art spricht: Das Verhältnis eines bestimmten Gehirnbereichs (z. B. der Brücke) zum Traum ist ja lediglich ein Spezialfall des Leib-Seele-Pro-

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blems oder, wie wir heute sagen könnten, des Gehirn-Bewußtsein-Problems. Das Bewußtsein ist aber eine Funktion jenes besonders komplizierten Stückes Materie, das als Gehirn des Manschen bezeichnet wird" (Lenin 1962,  S. 226). Damit ist einerseits klar, daß Psychisches an das Gehirn gebunden ist, und andererseits, daß die graue Masse in unseren Köpfen nur dadurch zum Gehirn wird, daß sie "funktioniert" . Ein totes Gehirn ist in diesem Sinne kein Gehirn mehr, sondern etwas qualitativ anderes.

Übertragen wir diesen Gedanken auf Traum und Riesenzellen, so kommen wir zur nämlichen Schlußfolgerung: Gehirnbereiche können nur Funktionen haben, sind aber nicht "Auslöser" von psychischen Aktivitäten, d. h., die Riesenzellen der Brücke könnten allenfalls Träger des psychischen Prozesses "Traum" sein.

Aus diesen Überlegungen sollte eines klar werden: Solange uns der Trauminhalt interessiert, bzw. die Art und Weise seines Zustandekommens, führen uns physiologische Untersuchungen nicht weiter. Und sogar wenn wir die neurophysiologischen und biochemischen Mechanismen, die in unserem Gehirn ablaufen, bis ins Detail kennen, so sind wir dem Geheimnis des Traums damit keinen Schritt näher gekommen.

Es bleibt uns nur, eine Möglichkeit: die Suche nach den Mechanismen der Umsetzung des individuellen Gedächtnisbesitzes in den Trauminhalt. Daß diese Mechanismen neurophysiologische und biochemische Grundlagen haben, wird hier natürlich keineswegs bestritten, sondern lediglich bezweifelt, daß die neurobiologischen Parameter Auskunft über psychische Inhalte geben kön-