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Was sind Klarträume?

Es ist scheußlich, nie kann man seine
Träume so träumen, wie man möchte.

Helga Königsdorf

Sicher werden die meisten diesem Satz aus dem Band "Meine ungehörigen Träume" von Helga Königsdorf zustimmen. Trotzdem scheinen sich Möglichkeiten zu eröffnen, daß der Träumer tatsächlich bestimmen kann, was er träumt. Die Versuche stecken noch in den Anfängen, doch wollen wir sehen, was es mit den sogenannten "Klarträumen" (lucid dreams) auf sich hat.

Es gibt einen geringen Prozentsatz von Menschen, die regelmäßig Träume haben, von denen sie genau wissen, daß es Träume sind. Außerdem sind sie in der Lage, weitgehend zu bestimmen, wie ihre Träume verlaufen; sie können also das träumen, was sie möchten. Sie können z. B. die Personen im Traum auftreten Lassen. die sie wünschen. Typisch für diese Art von Träumen, die der amerikanische Traumforscher Keith Hearne "lucid dreams", d. h. Klarträume nannte, ist ein so gut wie unbegrenzter Einfluß auf die Traumaktivitäten.

Wie kommt es dazu, daß sich bestimmte Leute bewußt werden, daß sie träumen? In der Regel sind es Ungereimtheiten des normalen Traums, die plötzlich zu der Einsicht führen, das alles nur ein Traum ist. Gewöhnlich lassen sich die meisten Menschen durch solche Ungereimtheiten nicht stören, sondern setzen ihren Traum fort, ohne an dessen Realitätscharakter irre zu werden. Aber es gibt eben auch Personen, bei denen Unstimmigkeiten im Traum diesen zu einem Klartraum werden las-

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sen. Ernst Mach berichtet z. B., daß ihm im Traum plötzlich klar wurde, daß es ein Traum ist, als er einige Zweige sich ungewöhnlich bewegen sah.

Keith Hearne (1981) begann nun solche "Klarträumer" in seinem Labor zu untersuchen. Das erwies sich aber als recht kompliziert, da er anderthalb Monate ständig seine erste Versuchsperson beobachten mußte, um nur 8 Klarträume berichtet zu bekommen. Hearne fragte sich nun, ob man nicht Klarträume künstlich hervorrufen könne. Bei seinen weiteren Überlegungen ging er davon aus, daß spontane Klarträume durch Unstimmigkeiten in der Szenerie des gewöhnlichen Traums ausgelöst werden, und fragte sich, ob dieser innere Reiz nicht durch einen äußeren ersetzt werden könne. Hearne versuchte das und machte folgendes Experiment:

Den Versuchspersonen wurde vor dem Einschlafen die Instruktion gegeben, während der Nacht auf einen elektrischen Stromstoß am Handgelenk zu achten. Sobald sie ihn bemerkten, sollten sie dem Versuchsleiter durch mehrmaliges schnelles Hin- und Herbewegen der Augen zu verstehen geben, ob sie träumen oder nicht.

Was erreichte Hearne mit diesem Experiment?

Da der elektrische Stromschlag während der Emphase, d. h. während des Aktiven Schlafs gegeben wurde, also während die Versuchspersonen mit Sicherheit träumten, konnte der Auftrag, zu überprüfen, ob sie träumten, nur zu dem Ergebnis führen, daß sie sich ihrer Träume bewußt wurden. Und tatsächlich gelang es Hearne auf diese Art und Weise bei 75¥ seiner Versuchspersonen Klarträume hervorzurufen.

Das Aufregende an diesem Experiment sind die Möglichkeiten, die es eröffnet. Erstens erlaubt die Kontrolle des Traumgeschehens durch den Träumer selbst einen Vergleich und sogar eine Kombination mit hypnotisch induzierten Träumen. Es könnte also z. B. durch posthypnotischen Auftrag ein bestimmtes Thema hervorgerufen werden, das der Träumer im "Klartraum" dann weiterspinnt. Dadurch eröffnen sich nicht nur ungeahnte Möglichkeiten zur Untersuchung der Mechanismen des

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Traumgeschehens, sondern es deuten sich auch neue , Perspektiven für die Rolle des Traums im künstlerischen , Schaffensprozeß und beim Lösen wissenschaftlicher Probleme an. Und damit sind wir bei der zweiten wichtigen Schlußfolgerung aus diesem Experiment: In Klarträumen kann der Träumer Situationen konstruieren, die in der Wirklichkeit nicht vorkommen und in der Wachphantasie nur schwer vorstellbar sind. In Klarträumen ist es leichter, den Problemraum zu erweitern und "verrückte" Dinge anzustellen. Man kann eher Dinge miteinander kombinieren, die das Wachbewußtsein unter keinen Umständen unter einen Hut bringt.

Wohlgemerkt: soweit ist es noch nicht. Und niemand kann mit Sicherheit sagen, ob Klarträume tatsächlich einmal in breitem Maße zur Stimulierung schöpferischer Prozesse in Wissenschaft und Kunst angewendet werden können. Bis jetzt sind es lediglich Hoffnungen. Wie Seifenblasen werden sie jedoch nicht zerplatzen, denn daß der Traum solche Möglichkeiten in sich birgt, haben I" wir schon auf S. 94ff. gesehen. Und schon lange bevor die Anwendung der Klarträume für Wissenschaft und Kunst diskutiert wurde, hat der große Regisseur Luis Bunuel auf die Frage, was er machen würde, wenn ihm noch 20 Jahre Leben blieben, geantwortet: "Gebt mir zwei Stunden täglich aktives Leben und 22 Stunden Traum!" (Bunuel 1982). Bunuel hat gewußt, was er sagt: In fast jedem seiner Filme hat er Anregungen aus seinen Träumen benutzt. Gelingt das nicht nur Künstlern, sondern auch Wissenschaftlern, dann werden wir vielleicht eines Tages in den Träumen nicht mehr nur in der "Unterwelt hausende Kinder der Nacht" sehen, sondern sie auch wegen ihrer Erkenntnisfunktion zu schätzen wissen.