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Der Traum in der Vergangenheit: Vom Gilgamesch-Epos bis zu Alfred Maurys Guillotine-Traum 


In den Wissenschaften ist es höchst
verdienstlich, das unzulänglich
Wahre, was die Alten schon besessen,
aufzusuchen und weiterzuführen.

Johann Wolfgang von Goethe


Wohl zu keiner Zeit waren den Menschen ihre Träume gleichgültig. Jedoch gab es zu verschiedenen Zeiten verschiedene Auffassungen über Wesen und Herkunft und damit über die Bedeutung von Träumen. über die Einstellung der Menschen vorgeschichtlicher Zeit zu ihren Träumen wissen wir so gut wie nichts und sind auf Untersuchungen an Primitivkulturen angewiesen von denen wir annehmen, daß sie auf etwa gleicher Entwicklungsstufe stehen, wie unsere Vorfahren vor vielleicht 30000 Jahren. Auf Grund solcher Untersuchungen vermutete Friedrich Engels, daß die Grundfrage der Philosophie, die Frage nach dem Verhältnis von Denken und Sein, ihre Wurzel in der Verwunderung des noch wilden Menschen über seine Traumerscheinungen habe. In seiner Schrift "Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie" schreibt Engels, daß die Menschen eben durch Träume zu der Vorstellung gekommen seien, daß ihr Denken und Empfinden nicht eine Tätigkeit ihres Körpers sei, sondern einer besonderen, in diesem Körper wohnenden und ihn beim

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Tode verlassenden Seele. "Seit dieser Zeit mußten sie über das Verhältnis dieser Seele zur äußern Welt sich Gedanken machen" (Engels 1981, 5.274).

Jahrtausendelang spielten Träume im Denken und Handeln der Menschen eine wichtige Rolle. Erste zuverlässige Zeugnisse über die Rolle des Traums im öffentlichen und privaten Leben der Menschen stammen aus Mesopotamien: "Es ruht Enkidu, Traumbilder schaut er.

Es erhob sich Enkidu, erzählt seine Träume und spricht zu Gilgamesch also: ... " (Burckhardt 1958, S. 35).
 

Tafel 5 des Gilgamesch-Epos

Das ist eine der wohl schönsten Stellen des Gilgamesch-Epos, das die Heldentaten des Stadtkönigs von Uruk, Gilgamesch, erzählt. E s ist einer der ältesten uns bekannten Berichte über eine historische Figur (Gilgamesch lebte vor etwa 4700 Jahren). Gleichzeitig ist es

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die älteste uns bekannte Folge von Träumen, ja der älteste Bericht von Träumen überhaupt. Die ersten sieben der insgesamt zwölf Tafeln des Epos berichten zu einem ' Drittel von Träumen und deren Deutungen. Die im Epos vorkommenden Träume haben die Funktion, die Pläne ' des Gottes den Menschen mitzuteilen, damit sie sich nach ihnen richten können.

Ebenfalls voll von Träumen ist das Heldengedicht von Uruk, das auch auf Ereignisse aus dem Beginn des ` 3. Jahrtausends v. u. Z. zurückgeht. Der sechste Gesang des Gedichts endet mit folgenden Zeilen:

"Die Helden schlafen nachts auf ihren Ruhebetten, im Schlaf hat Ea-ibni einen Traum. Da aber Ea-ibni erwachte, deutete er seinen Traum und sprach ... " (Lenormant 1878, S.124).

Leider ist die siebente Tafel des Heldengedichts verlorengegangen, so daß wir nichts über die Deutung dieses Traums wissen.

Eine sumerische Inschrift aus der gleichen Zeit läßt auch unzweifelhaft erkennen, daß die Träume damals als Auftrag des Gottes verstanden wurden. Die Inschrift berichtet, daß dem Priesterfürsten von Lagas, Gudea, ein Traum dahingehend gedeutet wird, daß er einen Tempel für seinen Hauptgott Ningirsu bauen soll.

Gudea, Priesterfürst von Lagas

Es war aber keineswegs so, daß Träume immer bloß angenehme Ereignisse ankündigten, wie etwa den Erfolgreichen Ausgang des Kampfes zwischen Gilgamesch und Chumbaba, sondern es war durchaus möglich, daß man auch unheilverkündende Träume hatte. Es ist deshalb verständlich, daß die Menschen damals ausgesprochene Angst vor ihren Träumen hatten, da sie unter Umständen ja Unangenehmes ankündigen konnten. Aus diesem Grunde gab es eigens Gebete um gute Träume, wie etwa das folgende:

"Den Traum, den ich träumen werde, – daß er vernünftig sei. Den Traum, den ich träumen werde, – daß er wahrhaft sei.

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Den Traum, den ich träumen werde, – laß ihn ausfallen zu meinem Guten.
Makhir der Traumgott möge walten über meinem Haupte" (Lenormant 1878, S.131).

Es war in Babylon keineswegs so, daß die Bedeutung der Träume auf Stadtkönige, Priesterfürsten und andere hochgestellte Persönlichkeiten beschränkt war. Im Gegenteil: Wenn jemand eine wichtige Sache plante, ging er zuvor zu seinem Traumdeuter und ließ sich seine Träume auslegen. Erst wenn dieser einen glücklichen Ausgang der Unternehmung verhieß, entschloß man sich, sie in Angriff zu nehmen. Die Frauen z. B. begaben sich in den Tempel der Zirponit mit der Absicht, prophetische Träume zu haben, die sie dann deuten lassen konnten. Außerdem war es weit verbreitet, Träume durch narkotische Getränke und betäubende Dämpfe zu stimulieren.

Einen ähnlich bedeutenden Platz wie in Babylon nahm der Traum im privaten und öffentlichen Leben Ägyptens ein. Die Quellen über Bedeutung und Einfluß des Traums im Nilland reichen allerdings nicht soweit zurück wie in Mesopotamien. Die bekannteste Sammlung von Träumen ist das sogenannte hieratische Traumbuch, das etwa um 1150 v. u. Z. niedergeschrieben wurde, dessen Text aber auf die Zeit aus dem Mittleren Reich

Teil des hieratischen Traumbuchs (Chester Beatty III Papyrus)

(2040-1650 v. u. Z.) zurückgeht. Die ältesten Traumberichte finden sich jedoch in den ägyptischen Königsnovellen aus dem Beginn des 2. Jahrtausends. In dieser Zeit verschmolz der frühere Reichsgott Re allmählich mit dem aus Theben kommenden Amun zu Amun-Re. Seit Amenophis II. (1450-1405 v. u. Z.) gab dieser Gott zuweilen seinen Willen durch einen Traum bekannt. Aber auch andere Götter benutzten den Traum als Informationsträger, so der Sonnengott Harmachis bei Thutmosis IV., dem Sohn von Amenophis II.: Noch als Prinz jagte Thutmosis IV. bei den Pyramiden von Giseh und legte sich von der Jagd ermüdet in den Schatten des Sphinx. Im Traum erschien ihm der Sonnengott, als des-

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sen Verkörperung der Sphinx galt, und forderte ihn auf, sein von Wüstensand umgebenes Bild freizulegen. Als Lohn versprach er ihm die Königsherrschaft. Als Thutmosis erwachte, schwor er, den Wunsch Harmachis' zu erfüllen. Als er König wurde, ließ er den Sphinx freilegen und befahl, das Ereignis auf einer Tafel festzuhalten. Eine spätere Version dieser Geschichte wurde von den Priestern des Palastes auf einem Granitarchitrav eingegraben und zwischen den Vorderpranken des Sphinx aufgestellt.
 

Gesamtbild des Sphinx

Granitarchitrav zwischen den Vorderpranken des Sphinx mit dem Traum von Tutmosis IV.

Weitaus bedeutsamere Folgen hatte ein Traum Merenptahs (1224-1204 v.u.Z.), des Nachfolgers von Ramses II. Merenptah träumte, daß der Gott Ptah ihm er-

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schien, ihn aufforderte, keine Furcht mehr zu haben, und ihm ein Schwert in die Hand gab. Für Merenptah war das die Aufforderung, gegen die Libyer zu ziehen, und für dieses Unternehmen rechnete er nun mit dem Beistand des Gottes. Zwei Wochen später besiegte er dann tatsächlich die Libyer in einer sechsstündigen Schlacht. Im 8. und 7. Jahrhundert v. u. Z. erreicht die Entwicklung und Ausbreitung der Traumdeutung dann ihren Höhepunkt. Der Glaube an die prophetische Kraft der Träume beeinflußte die politischen Ereignisse in einer Weise, die man nicht für möglich halten sollte, wäre sie nicht durch amtliche Urkunden der damaligen Zeit festgehalten worden. [2] Diese Urkunden entstanden dadurch, daß die zeitgenössische Geschichtsschreibung nicht nur die geschichtlichen Ereignisse, sondern auch die sie ankündigenden Träume festgehalten hat. Die bedeutendsten durch Träume "beeinflußten" politischen Ereignisse dieses Zeitraums wollen wir hier erwähnen:

etwa 700 v. u. Z.: Der Äthiopier Schabaka, seit 712 ägyptischer Pharao, wird von einem Traum bewegt, Ägypten zu verlassen.

etwa 690 v. u. Z.: Der Nachfolger Schabakas, Schabataka (bei Herodot heißt er Sethon), wird durch einen Traum ermuntert, gegen das Heer des assyrischen Königs Sanherib zu ziehen, das die Ägypter im Jahre 705 geschlagen hatte.
 
 

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etwa 670 v.u.Z. Der Lydierkönig Gyges wird durch einen Traum zur freiwilligen Anerkennung der assyrischen Oberherrschaft bewogen.

etwa 660 v. u. Z.: Der äthiopische Fürst Tanwet-amani wird durch einen Traum angespornt, Ägypten von den Assyrern zurückzuerobern. Er nimmt Memphis ein und löst damit einen Gegenzug Assurbanipals aus, der ihm bis Theben folgt. etwa

645 v. u. Z.: Assurbanipal führt einen Krieg gegen den Elamiterkönig Te-Umman, weil ein Traum ihm einen glänzenden Sieg verhieß, den er dann auch tatsächlich erringt.
 

Niemals mehr in der Geschichte der Menschheit ist dem Traum eine solche Bedeutung zuerkannt worden; niemals mehr haben politisch Handelnde ihren Träumen erlaubt, sich dermaßen in ihre Entscheidungen einzumischen. Letzter Ausdruck der Macht der Träume in der Politik ist der von Herodot berichtete Umstand, daß Xerxes sich durch Träume bestimmen ließ, die Eroberungskriege seines Vaters gegen Griechenland fortzusetzen. Allen hier angeführten Beispielen, die für den Alten Orient typisch sind, ist eines gemeinsam: Im Traum äußert sich die jeweilige Gottheit, d. h., der Traum ist göttlichen Ursprungs. Besonders schön illustriert wird dieser Glaube an die göttliche Herkunft der Träume durch einen Denkstein mit griechischer Inschrift und dem ägyptischen Stier, auf dem zu lesen ist: "Ich deute Träume, da ich einen Auftrag des Gottes habe, mit gutem Glück. Ein Kreter ist es, der dies deutet." Der auch in diesem "Werbeplakat" zum Ausdruck kommende Glaube ist im Denken des Altertums – von Gilgamesch bis Xerxes so

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tief verwurzelt, daß er wissenschaftliche Erklärungsansätze überhaupt nicht zuläßt. Versuche, das Wesen des Traums ohne Zuhilfenahme von Göttern zu erklären, treten erstmals gehäuft in der griechischen Antike auf. Allerdings ist der Übergang von den Auffassungen der Babylonier, Ägypter oder Perser zu denen der Griechen nicht sprunghaft. Noch bei Homer sind Träume "Boten der Götter"; ähnliche Ansichten finden sich auch bei den anderen großen Dichtern Griechenlands, und Hesiod bezeichnet Träume als in der II Unterwelt hausende Kinder der Nacht". Noch zu Zeiten Alexanders des Großen werden in schwierigen Fällen Träume zu Rate gezogen, und Alexander selbst hatte einen Wahrsager, dem er z. B. während der Belagerung von Tyros seine Träume mitteilte. Ein Mitstreiter Alexanders, Smataw-Tefnacht, ließ in Herakleopolis eine Stele aufstellen, auf der der Traum eingegraben ist, der ihn bewog, nicht mehr an den Kämpfen Alexanders teilzunehmen, sondern in seine Heimatstadt zurückzukehren.

Inschrift der Traumstele Smataw-Tefnacht

Besonders deutlich wird der fließende Übergang von der religiösen zur wissenschaftlichen Auffassung in der Medizin. Bis ins 5. Jahrhundert v. u. Z. spielte sich die Krankenbehandlung in Griechenland vorwiegend in den Tempeln des Asklepios (griechischer Gott der Heilkunst) ab. Die Hauptbehandlungsmethode war der Tempelschlaf Der Kranke schlief mehrere Nächte zu Füßen des Götterbildes. Während dieser Nächte sollte ihm Asklepios im Traum erscheinen und die für die Behandlung geeigneten Mittel angeben. Der Traum wurde dann von den Priestern gedeutet. Das geschah folgendermaßen: Sie brachten die angeblichen Anweisungen des Asklepios mit dem in Übereinstimmung, was ihrer Meinung nach für den Patienten von Vorteil schien. Sie benutzten also das religiöse Ritual und steuerten ihre medizinischen Kenntnisse bei.

Das Heiligtum des Asklepios auf der griechischen Insel Kos

Mit der Herausbildung der Philosophie in Griechenland finden sich dann auch erste wissenschaftliche und psychologische Erklärungsansätze zu Herkunft und Wesen des Traums. Die ersten Philosophen, die gleichzeitig
 
 

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auch Wissenschaftler waren, befreiten sich allmählich auch Wissenschaftler waren, befreiten sich allmählich aus der Abhängigkeit vom Mythos und verwarfen alle Traditionen, die der Erkenntnis im Wege standen. Die Tradition war aber Homer und Hesiod! Es muß deshalb als revolutionär bezeichnet werden, wenn Xenophanes die beiden großen Dichter kritisiert und Heraklit von Hesiod behauptet, daß er weder Tag noch Nacht kenne.

Genau in dieser Zeit der einsetzenden Kritik an der Tradition lebte Pythagoras (580-497 v. u. Z.). Er war einer der ersten Philosophen, die sich zum Thema Traum geäußert haben. In seiner Auffassung spiegelt sich der Übergang vom Mythos zur Wissenschaft sehr schön wider: Einerseits war Pythagoras der Meinung, daß schwere Träume durch schlechte Speisen verursacht werden können, andererseits hielt er aber an der Möglichkeit des göttlichen Ursprungs s der Träume fest.

Heraklit (550-480 v. u. Z.) war der erste, der den Zusammenhang zwischen individuellem Gedächtnis und Traum erkannte. Nach seinen Worten haben die Wachenden eine einzige und gemeinsame Welt, doch während des Schlafs wendet sich jeder von dieser ab und seiner eigenen zu.

Interessant sind auch die Überlegungen von Empedokles (492-432 v. u. Z.), der der Meinung war, daß sich der Mensch in seinen Träumen nicht anders verhalte als im Wachzustand; ein und derselbe Mensch könne sich nicht auf zwei verschiedene Weisen verhalten.

Das erste größere Traumbuch hinterließ Antiphon (480-411 v. u. 2.). Darin lehnte er das Zustandekommen der Träume durch übernatürliche Kräfte prinzipiell ab. Herodot (484-424 v. u. Z.), der Vater der Geschichtsschreibung, berichtet in seinem Geschichtswerk viele ' Träume, u. a. die oben erwähnten Träume des Xerxes. An einer anderen Stelle legt er Atabenes, Xerxes' Onkel . folgende Worte in den Mund: "Gewöhnlich sind es Dinge, die man am Tage gedacht hat, die einem im Schlafe wieder vorkommen" (Herodot VII, 16). Die Ausarbeitung dieser Hypothese nimmt in der gegenwärtigen Traumforschung einen breiten Raum ein.

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Die Abhängigkeit der Träume von der Wahrnehmung und ihrer Reproduktion erkannte als erster Demokrit (460-370 v. u. Z.). Er glaubte, daß der Traum durch das Herandringen von Abbildern entsteht, die sich von den Gegenständen lösen.

Hippokrates (460-377 v. u. Z.), der große Arzt, nimmt dann bereits einige Gedanken vorweg, die erst in der neueren Zeit wieder auftauchen. So nahm er z. B. an, daß sich im Traum nur Instinkte kundtun können, die im betreffenden Menschen selbst "drinstecken". Diese Hypothese wurde Ende des 19. Jahrhunderts durch den italienischen Traumforscher Sante de Sanctis bekräftigt. Hippokrates wichtigster Beitrag zur "Wissenschaft vom Traum" ist jedoch die Differenzierung der bereits durch Pythagoras angedeuteten Reiztheorie: Er nahm an, daß feinste, im Wachen unbemerkte Körperreize im Traum verstärkt auftreten und sich in entsprechenden Bildern kundtun; träumt man z. B. häufig von Wasser, so deute das auf eine Blasenstörung hin. Zu einem anderen interessanten Aspekt des Träumens äußerte sich Plato. Er schrieb, daß einem jeden von uns eine gefährliche, wilde und ordnungswidrige Art von Begierden innewohne, die sich häufig in Träumen äußern. Plato betrachtete also unsere Träume als Schauplatz derjenigen Triebe, die im Wachen nicht zum Durchbruch kommen. Das Problem der Verantwortlichkeit für solche Träume hat später besonders Augustinus, Nietzsche und Freud beschäftigt.

Aristoteles

Die umfassendste und bis heute in mancher Hinsicht unübertroffene "Traumtheorie" stammt von Aristoteles (384-322 v. u. Z.). Er versteht den Traum als das Seelenleben während des Schlafs und erklärt damit den Traum als psychologisches Phänomen. Für die häufige Beobachtung, daß der Träumende sich treffsicherer als krank erlebt als der Wachende, gibt Aristoteles eine Erklärung, die zwar schwer beweisbar, aber bis heute von keiner stichhaltigeren abgelöst werden konnte: Er nahm an, daß schwache Reize, die von einem kranken Organ ausgehen, im Traum in voller Wirkung erscheinen, weil sie

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Die Träume des Königs Suddhodana (aus der chinesischen Holzschnittfolge "Das leben Buddhas"). Hier ist der Traum als "Seelenleben während des Schlafs" besonders anschaulich dargestellt.

sich im Wachen wegen der stärkeren Tageseindrücke nicht bemerkbar machen können. Außerdem legte sich Aristoteles als erster die Frage vor, ob die Schlafenden immer träumen und sich nur nicht immer erinnern, eine Frage, die erst in den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts eine endgültige Antwort fand. Der große und vielseitige Wissenschaftler beobachtete auch, daß einem im Schlaf oft etwas sagt, daß das Erscheinende nur ein Traum ist. Damit ist zum ersten Mal das Problem des

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Traumbewußtseins angesprochen, das bis heute von starkem Interesse ist und besonders im Zusammenhang mit den sogenannten "Klarträumen" vielfältigen Experimenten unterzogen wird. Und schließlich war es auch Aristoteles, der zuerst Beobachtungen über rasche Augenbewegungen während des Schlafs niederschrieb. Ihm war aufgefallen, daß schlafende Jagdhunde solche schnellen Augenbewegungen aufweisen. Daraufhin nahm Aristoteles an, daß Tiere höherer Arten träumen. Heute werden diese Augenbewegungen als "Rapid Eye Movements" (REM) bezeichnet und sind zur Grundlage der physiologisch orientierten Schlaf- und Traumforschung geworden.

Neben den bisher genannten Männern gibt es natürlich noch viele andere, die sich zum Traum geäußert haben, so Anaxagoras, Epikur, Polystratos, Lukrez, Seneca, Galen, Artemidor, Tertullian; uns kam es jedoch lediglich darauf an, den wesentlichen Unterschied zu den Auffassungen des Alten Orients herauszuarbeiten, der eben durch das wissenschaftliche Erklärungsbemühen der Antike charakterisiert ist. Die im Vergleich zu Babylon und Ägypten differenzierte Auseinandersetzung mit dem Traum ist nicht zuletzt die Folge des hohen Entwicklungsstandes einer Philosophie, in der das Leib-Seele-Problem einen breiten Raum einnimmt.

Zum Abschluß des Überblicks über die Traumauffassungen der Antike seien gleichsam als Kuriosum noch zwei Römer erwähnt: Cicero stand dem Sinn der Träume überhaupt skeptisch gegenüber. Seiner Meinung nach würden die Götter sich eher an einen Wachen und Hellhörigen wenden als an einen Schnarchenden. Augustus dagegen nahm Träume so ernst, daß er ein Gesetz erließ, jeder, der etwas über den Staat träume, habe dies auf dem Marktplatz öffentlich bekanntzumachen.

Nach dem Zusammenbruch des weströmischen Reiches sanken die von Germanen und Slawen eroberten Gebiete fast wieder auf das Niveau des Analphabetismus zurück, so daß die intellektuellen Leistungen der Antike so gut wie in Vergessenheit gerieten. Ausnahmen

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waren die Klöster und die Spitzen der geistlichen Hierarchie. Die Kirche wurde dann auch Ausgangspunkt der sich langsam wieder entwickelnden Philosophie und Wissenschaft, nun aber unter neuem Vorzeichen: Sowohl Philosophie als auch Wissenschaft wurden als Vorbereitung auf die Theologie betrieben. Das Erkenntnisstreben ging nicht von der Natur aus und versuchte die Wirklichkeit theoretisch zu bewältigen, sondern suchte die Wahrheit in der Bibel und der Interpretation antiker Schriften.

Unter diesen Umständen ging es der Wissenschaft vom Traum wie den meisten anderen Wissenschaften: Ihre Entwicklung stagnierte. Die Beschäftigung mit dem Traum reduzierte sich auf symbolische Traumdeutungen in der Regel auf Analogieebene: "Wenn einer träumt, daß er mit einem Mohren redet, dann wird er am folgenden Tag Kohlen bekommen." Es entstanden lexikonartig angelegte Traumbücher, deren Bedeutung heute darin besteht, daß man aus ihnen erkennen kann, daß die Menschen damals im Prinzip das gleiche träumten, wie wir heute auch.

Trotzdem kann das Mittelalter nicht übergangen werden, ohne wenigstens einige Denker zu erwähnen, die sich zum Traum geäußert haben.

Eine sehr interessante, aber eher ethisch-theologische als psychologische Auseinandersetzung mit dem Traum verdanken wir dem Kirchenvater Augustinus (354-430). Ihn beschäftigte das Problem der persönlichen Verantwortlichkeit für die im Traum begangenen Sünden. Er hat sich die Lösung dieses Problems nicht leicht gemacht, rang sich aber schließlich zu der Erkenntnis durch, daß der Mensch letztendlich nicht für den Inhalt seiner Träume verantwortlich ist.

Augustinus

Fast tausend Jahre nach Augustinus berichtet Albert der Große [3] von einem "telepathischen Traum, den er selbst geträumt hat. Er beobachtete im Traum von einer

Albert der Große

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Brücke aus, wie ein Junge ins Wasser fiel und in ein Mühlrad geriet. Nach dem Erwachen erzählte er den Traum sofort seinen Freunden, und noch während des Erzählens soll die klagende Mutter gekommen sein und von einem realen Vorfall, identisch mit Alberts Traum, berichtet haben. Nach seinen eigenen Angaben hat er weder Mutter noch Kind gekannt. Unabhängig von der Tatsache, daß dieser Bericht heute nicht mehr überprüft werden kann, wirft Albert damit ein Problem auf, dessen Diskussion noch heute einen breiten Raum einnimmt (vgl. S. 94ff. und S.107ff.).

Ein anderes Problem, das der Träume von Blinden, wird erstmals im 14. Jahrhundert von dem arabischen Traumforscher Safadi behandelt. Er hatte folgendes beobachtet: Blindgeborene träumen nur, was sie berühren oder fühlen. Blinde, die erst im Laufe ihres Lebens blind geworden sind, haben Träume, die sich nicht von denen Sehender unterscheiden. Diese Beobachtung Safadis fand im Jahre 1962 durch die Experimente von Berger und seinen Mitarbeitern eine überzeugende Bestätigung.

Obwohl Albert der Große und Safadi nicht die einzigen waren, die sich im Mittelalter zum Traum geäußert haben, blieb alles andere weit hinter den Auffassungen der Griechen zurück. Und so interessant die Beobachtungen Alberts Und Speziell die Safadis auch sind, einen solchen Qualitätssprung, wie er sich bei den Griechen vollzogen hatte, stellen sie nicht dar.

Man kann also nicht umhin, festzustellen, daß das Mittelalter im Vergleich zur Antike für die Weiterentwicklung der Auffassungen vom Traum unfruchtbar war. [4]

Während die Menschen des Mittelalters die Wahrheit

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in autoritativen Quellen suchten, richtete sich das Erkenntnisstreben der Renaissance auf die unmittelbare Wirklichkeit der Dinge. Dieser Wandel begann im 14. Jahrhundert und führte mit dem Auftreten von solchen Männern wie Kopernikus, Luther, Müntzer, der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus, der ersten Weltumsegelung durch Magelhaes, den Werken Michelangelos zu einer neuen Epoche. Diese Epoche ist gekennzeichnet durch radikales In-Frage-Stellen traditioneller Auffassungen und das Beschreiten völlig neuer Wege – am augenfälligsten dokumentiert durch die Entdeckung eines neuen Erdteils.

Die von Roger Bacon, Leonardo da Vinci und Galileo Galilei erhobene Forderung nach Einführung des Experiments in die Naturerkenntnis konnte sich jedoch für die Psychologie und damit auch für die Erforschung des Traums nicht durchsetzen. Der Gegenstand war zu komplex, und immer noch wirkten sich alltagspsychologische Vorstellungen und Begriffe hinderlich aus. Im Gegensatz zur Physik, die durch den Geist der Renaissance einen enormen Aufschwung erfuhr, bewegte sich die Psychologie in den alten Gleisen: Hier und da äußerten sich Philosophen zu psychologischen Problemen und ließen dabei auch die eine oder andere Bemerkung über den Traum fallen. In diesem Zusammenhang seien die Namen von Hobbes, Descartes, Berkeley, Locke, Spinoza, Leibniz und später Kant erwähnt.

Bis die Forderungen der Renaissance (und auch der Aufklärung) für die Traumforschung nutzbar gemacht wurden, verging viel Zeit. Im Gegensatz zur Physik und Chemie setzte die experimentelle Traumforschung erst im 19. Jahrhundert ein.

Etwa 60 Jahre nach der Französischen Revolution räumte ein Mann namens Louis Alfred Maury von dieser ereignisreichen Zeit. Er machte greuliche Mordszenen mit und wurde dann schließlich selbst vor den Gerichtshof zitiert. Dort sah er Robespierre, Marat, Fouquier-Tinville, stand ihnen Rede und Antwort und wurde nach allerlei Zwischenfällen verurteilt und dann auf den Richt-

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platz geführt. Er steigt aufs Schafott, der Scharfrichter bindet ihn aufs Brett; es kippt um: das Messer der Guillotine fällt herab; er fühlt, wie sein Haupt vom Rumpf getrennt wird, wacht in der entsetzlichsten Angst auf – und findet, daß der Bettaufsatz herabgefallen war und seine Halswirbel, wirklich ähnlich wie das Messer der Guillotine, getroffen hatte" (Maury 1878, zitiert nach Freud, Studienausgabe, Bd. II, S. 52f.).

Guillotine

Maury nahm nun an, daß der herabgefallene Bettaufsatz den "Guillotinetraum" ausgelöst und dieser nur Sekundenbruchteile gedauert habe. Diese Annahme war für ihn Anlaß, zu versuchen, Träume absichtlich auszulösen. Während er schlief, ließ er von einem Freund verschiedene Sinnesgebiete reizen und stellte fest, daß diese Reize – häufig drastisch verstärkt – im Traum wiedererscheinen: Goß man ihm z. B. einen Tropfen Wasser auf die Stirn, träumte er, er sei in Italien, schwitze heftig und tränke Weißwein.

Unbeschadet der methodischen Unzulänglichkeiten und der nicht immer richtigen Schlußfolgerungen, die Maury aus seinem "Guillotinetraum" und diesen Versuchen zog, ist sein Vorgehen noch heute Vorbild für die experimentelle Traumforschung: Vor oder während des Traums werden Reize gesetzt und deren Auswirkungen auf den Traum überprüft.

Neben den Versuchen von Maury wollen wir noch die von de Sanctis (1901) erwähnen. Unter seinen vielen Experimenten ist die Provokation bestimmter Trauminhalte durch Verbalsuggestion während des Schlafs das wohl Interessanteste. Diese Methode gilt heute als einer der wichtigsten Zugänge zum Traum. Nebenbei stellte de Sanctis fest, daß, wenn schwere Verbrechen suggeriert werden, die Versuchspersonen aufwachen, bevor es zur Ausführung dieser Verbrechen im Traum kommt. Diese Beobachtung stützt die Hypothese des Hippokrates, daß sich im Traum nur das äußern kann, was im betreffenden Menschen selbst drinsteckt". Gleichzeitig spricht es gegen das Bild vom Menschen als latentem Mörder, wie es z.B. der schweizerische Schriftsteller

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Max Frisch in seinen Tagebüchern anklingen läßt (Frisch 1972, Fragebogen von 1966).

Trotz einer im Vergleich zu den davorliegenden Perioden umfangreichen Literatur über den Traum waren experimentelle Untersuchungen such im 19. Jahrhundert noch rar. Das lag im wesentlichen daran, daß der Traum bzw. die Beschäftigung mit ihm nur Nebenprodukt der Psychologie bzw. Psychopathologie war. Praktische Relevanz hatte er weder für die Psychologie noch für die Medizin. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts änderte sich die Situation allerdings grundlegend. Im Jahre 1899 erschien Sigmund Freuds Buch "Die Traumdeutung" (1900). Folge dieses Buches war, daß der Traum in den Mittelpunkt psychotherapeutischen Interesses rückte. Damit wurde die Beschäftigung mit dem Traum auch praktisch bedeutsam.

Aber noch aus einem anderen Grund wird von nun an mehr und mehr experimentell gearbeitet: Freuds Traumtheorie fand nicht nur Zustimmung, sondern auch scharfe Kritik. Neben den theoretischen Auseinandersetzungen griffen nun sowohl die Gegner als auch die Anhänger der Freudschen Theorie immer häufiger zum Experiment, um ihre jeweiligen Behauptungen zu beweisen. Bevor wir näher auf diese experimentellen Untersuchungen eingehen, wollen wir uns kurz Freuds Traumauffassung ansehen.