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Träume in Psychotherapie und Psychiatrie

Wenn die Leute ihre Träume aufrichtig erzählen
wollten, da ließe sich der Charakter eher daraus
erraten als aus dem Gesicht.

Georg Christoph Lichtenberg

Behandlung durch Träume

Freud war der erste, der auf Grund theoretischer Überlegungen Träume bei der Behandlung von Neurosen verwendete (vgl. dazu S. 35ff.). Seitdem hat sich vieles geändert, und nur noch wenige Psychotherapeuten arbeiten mit Träumen streng nach den von Freud angegebenen Regeln. Der Grundgedanke von Freud wird jedoch von vielen Therapeuten geteilt: Daß nämlich der Traum die "via regia", der "königliche Weg" zum Unbewußten ist. (Natürlich auch zum Unbewußten neurotischer Patienten.

Wie sieht nun psychotherapeutische Traumbearbeitung in der Praxis aus? [9]

Dazu müssen wir uns daran erinnern, was eine Neurose ist, d. h., welche Art von Krankheiten Psychotherapie heilt. Ganz allgemein gesagt, handelt es sich bei Neurosen um psychische oder körperliche Erkrankungen, deren Ursache in einer erlebnisbedingten Störung der Person-Umwelt-Beziehung liegt. Ziel der Psychotherapie ist die Beseitigung dieser erlebnisbedingten Störung. Das ist in der Regel ein recht langwieriger Prozeß,

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und in seinem Rahmen werden verschiedene Hilfsmittel verwendet. Eines dieser Hilfsmittel ist die Traumbearbeitung. Dabei muß man zwei Aspekte unterscheiden, die sich aber nicht voneinander trennen lassen: den diagnostischen und den therapeutischen. Unter diagnostischem Gesichtspunkt versucht man, durch die Träume des neurotischen Patienten entweder Hinweise auf das konkrete Erlebnis (oder die Erlebnisse) zu bekommen, das zur Störung der Person-Umwelt-Beziehung, d. h. zur Neurose mit ihren Symptomen geführt hat, oder auch etwas über die Art der Störung der

Person-Umwelt-Beziehung zu erfahren. Der Traum soll also Zugang zu verdrängten Konflikten ermöglichen und unbewußtes Material ans Licht fördern. Wir hatten ja bereits gesehen (vgl. S. 35ff.), daß der Konflikt erst durch seine Verdrängung ins Unbewußte zur Krankheitsursache wird. Dazu ein Beispiel:

Eine 30jährige Angestellte kommt wegen Kopfschmerzen und Einschlafstörungen in die psychotherapeutische Behandlung. Auf Grund der einführenden Gespräche konnte nicht geklärt werden, was die Ursache ihrer Symptome war. In der ersten Behandlungswoche lieferte sie folgende Träume:

1. Traum:

Ich habe noch einmal geheiratet. Mein jetziger Mann war auch bei der Hochzeitsfeier dabei. Mein neuer Mann und ich schliefen in den Ehebetten, und mein jetziger Mann teilte sich mit seiner Mutter die Doppelbettliege.

2. Traum:

Hatte mir einen Pullover gestrickt. Vorne am spitzen Ausschnitt hingen zwei lange Fäden herunter. An diesen Fäden zog ich, und dieser Ausschnitt wurde immer größer bis zum Bauchnabel.

3. Traum:

Wir hatten in unserer Patientengruppe einen älteren Mann. Dieser Mann sagte zu mir: Es steht ein Artikel

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über dich in der Zeitung. Dann fragte er mich, ob er mit mir schlafen könne. Leider wachte ich auf.

Alle drei Träume weisen eindeutige Beziehungen zur Sexualität auf. Die therapeutischen Gespräche über die Träume und die Einfälle, die die Patientin dazu lieferte, führten zum zentralen Problem: Die Patientin hatte mit 18 Jahren geheiratet, seit einigen Jahren aber das Gefühl, durch diese frühe Heirat etwas verpaßt zu haben. Hinzu kommt, daß ihr Ehemann in sexueller Hinsicht nicht ihren Vorstellungen entsprach. In weiteren Gesprächen wurde deutlich, daß die Patientin mit dem Gedanken spielt, sich scheiden zu lassen bzw. sexuelle Beziehungen zu einem Bekannten aufzunehmen. Nach einigen Gesprächen über die ersten drei Träume änderte sich der direkte sexuelle Charakter ihrer weiteren Träume:

4. Traum:

Ich ging mit unserer Gruppe in eine Schwimmhalle. Als ich im Wasser war, fiel mir auf, daß ich noch die Uhr umhatte. Als wir aus dem Wasser kamen, standen an den Rändern des Schwimmbeckens lauter Araber, die alle durchließen, aber mich nicht. Ein paar von ihnen hatten Messer in der Hand. Einer stach mir in den Oberarm ' der andere ins Bein.

5. Traum:

Jedesmal, wenn ich den Mund aufmachte, fiel mir ein Zahn raus.

Es läßt sich natürlich nicht beweisen, doch fällt bei diesen beiden Träumen auf, daß sie zumindest im Sinne Freuds sexuellen Inhalts sind: Messer sind Symbole des männlichen Glieds, und Zahnreizträume bei Frauen symbolisieren den Geburtsvorgang.

Wenn wir also für einen Moment annehmen, daß auch der 4. und 5. Traum sexuellen Charakters sind, bleibt die Frage zu klären, wieso die Patientin nach drei direkt sexuellen Träumen zu versteckt sexuellen "übergeht". Dieses Phänomen läßt sich recht zwanglos als Ausdruck des Widerstands gegen die Aufdeckung ihrer unbewuß-

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ten Wünsche durch den Therapeuten interpretieren. Aber wir haben uns dabei schon recht weit in das Gebiet des schwer Beweisbaren vorgewagt und wollen nun zu Gesicherterem zurückkehren.

Bei neurotischen Kindern ist es oft noch schwieriger als bei Erwachsenen, etwas über den Ursachenkomplex ihrer Symptome zu erfahren. Deshalb leisten hier Träume neben anderen Verfahren wie Spiel und Zeichnen besonders gute Dienste:

Ein 8jähriges Mädchen ist wegen Bettnässen in psychotherapeutischer Behandlung. Es ist recht aggressiv und im Gespräch ziemlich einsilbig. Trotz dieser Schwierigkeiten gelingt es dem Therapeuten, von dem Mädchen einen Traumbericht zu erhalten.

Traum:

Ich habe geträumt, daß ich mit meinem kleinen Schwesterchen auf dem Balkon bin. Die Mutti hat mir gesagt, ich soll aufpassen. Plötzlich ich weiß gar nicht wie war Simone weg. Als ich vom Balkon runtergucke, sehe ich sie ganz unten auf dem Pflaster liegen.

Das Mädchen beseitigt also im Traum ihre kleine Schwester. Die Tatsache, daß sie sie nicht eigenhändig vom Balkon geworfen hat, sondern das "hinter ihrem Rücken" passiert ist, könnte man der Traumzensur zuschreiben. Auf jeden Fall sah der Therapeut in diesem Traum den Ausdruck eines Geschwisterkonflikts und konzentrierte sich in der weiteren Therapie auf die Bearbeitung dieser Problematik. Dabei wurde das Einnässen als Versuch interpretiert, die Stelle des kleinen Geschwisterchens einzunehmen und dadurch von den Eltern mehr Zuwendung zu erlangen. Und tatsächlich: Nach Einbeziehung der Eltern in die Behandlung und ausführlicher Besprechung der Problematik konnte das Mädchen symptomfrei entlassen werden. Offensichtlich war es gelungen, die Eifersucht auf die kleine Schwester abzubauen, bzw. die Eltern, die ihre Tochter einmal wöchentlich besuchten, wandten ihr mehr Aufmerksamkeit zu als früher. Selbstverständlich ist es wichtig, daß nach

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der Entlassung nicht alles wieder in die alten Gleise zurückkehrt.

In den beiden eben erwähnten Beispielen wurden die Träume der Patientin eher zu diagnostischen Zwecken herangezogen. Allerdings kann der Traum auch zu therapeutischen Zwecken verwendet werden. Die therapeutische Funktion der Traumarbeit liegt in folgendem: Durch Besprechung oder unter Umständen auch durch die Interpretation von Träumen läßt sich der therapeutische Prozeß oftmals eher in Gang setzen als durch das Gespräch über reale Erlebnisse, Gefühle oder Stimmungen des Wachlebens. Wieso? Weil erstens die Patienten eher geneigt sind, über Gefühle, Wünsche, Ängste usw. . zu sprechen, wenn diese "nur" im Traum erlebt worden sind; zweitens, weil der Traum Ausdrucksmittel verwendet, die im Wachleben nur in sehr beschränktem Maße Anwendung finden, und drittens, weil es so zu sein scheint, daß verdrängte Inhalte im Traum eher zum Ausdruck kommen als im Wachzustand.

Das bisher Gesagte gilt für eine Psychotherapie, die im Anschluß an Freud hinter den neurotischen Symptomen einen unbewußten Konflikt sieht. Es gibt aber noch andere Arten der Neurosebehandlung, deren theoretische Grundlagen in scharfem Gegensatz zur psychoanalytischen Neurosenlehre stehen. Eine davon ist die Daseinsanalyse des Schweizers Medard Boss. In seiner daseinsanalytischen Psychotherapie nehmen Träume einen bedeutenden, ja vielleicht den wichtigsten Platz ein. Allerdings benutzt er sie ganz anders als Freud und seine Nachfolger.

Für Boss bedürfen Träume keiner Deutung. Es gibt nichts, was hinter ihnen steht: keine unbewußten Wünsche, keine latenten Traumgedanken. Träume sind eine Daseinsweise des gleichen Menschen, den wir im Wachen kennen. "Ob er wach ist oder ob er träumt, immer trägt sich in den Ereignissen beider Verfassungen ein und dasselbe Dasein aus, stets ist es die Selbigkeit einer menschlichen Existenz, die sich als Identität durch das Wachen und Träumen durchhält" (Boss 1953,

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S.234). Diese Konzeption verlangt natürlich auch eine andere Art des Umgangs mit Träumen bei der Behandlung. Häufig verwendet sie Boss, um den therapeutischen Prozeß voranzutreiben und die positiven Gefühle des Patienten zu bekräftigen. Dazu ein von ihm selbst geliefertes Beispiel:

Ein junges Mädchen mit Kontaktstörungen, besonders im Verhältnis zu ihrer Mutter, kommt zu Boss in die Behandlung. Sie berichtet im Laufe der Therapie von einer Reihe von Träumen, in denen auch ihre Mutter vorkommt. Allerdings nicht als lebendiges Wesen, sondern als Gipsbüste. Schließlich hat das Mädchen einen Traum, in dem die Gipsbüste ihr die Hand gibt, eine menschliche Hand. Boss benutzt diesen Traum sofort, um den bisher eingetretenen Behandlungserfolg zu bekräftigen, und sagt: "Ist es nicht schön, daß Sie im Traum schon Ihrer Mutter die Hand geben können?" Später erscheint die Mutter dann als Mensch von Fleisch und Blut im Traum, und Boss benutzt diese Tatsache zur weiteren Bekräftigung der positiven Gefühle des Mädchens, die sich im Laufe der Therapie entwickelt haben. Behandlungserfolge haben sich in diesem Falle immer zuerst in den Träumen angekündigt: Bevor das Mädchen tatsächlich in der Lage war, ihrer Mutter die Hand zu geben, tat sie es im Traum.

An dieser Stelle müssen wir ein paar Bemerkungen zu der Frage machen, ob Träume Krankheiten ankündigen können oder nicht. Aristoteles hat behauptet, sie könnten es (vgl. S. 24f.), und auch in neuester Zeit wird diesem Problem einige Aufmerksamkeit geschenkt. Der sowjetische Traumforscher Kassatkin hat Tausende von Fällen untersucht, in denen ein Zusammenhang zwischen Traumgeschehen und Krankheitsausbruch zu bestehen schien (Kassatkin 1983). Hier seine Ergebnisse:

Viele Krankheiten kündigen sich in Träumen vorher an, und zwar so, daß der entsprechende Schmerz oder das Symptom geträumt wird. Der Zeitraum zwischen Traum und Krankheitsausbruch ist für verschiedene Krankhei-

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ten unterschiedlich, wie die Tabelle zeigt (nach Kassatkin 1983, S.181 ) :
 

Zeitraum zwischen Traum und Krankheitsausbruch
 
Krankheit Zeitraum zwischen ankündigendem Traumund Krankheitsausbruch Traum 
Hautkrankheiten  einige Stunden
Angina  einige Stunden
Zahnschmerzen  einige Stunden
Gastritis  ungefähr 1 Monat
Blinddarmentzündung  einige Stunden
Bronchitis  einige Stunden
Schizophrenie  Wochen bis Jahre
Hirntumor  Monate bis reichlich 1 Jahr
Tuberkulose  2 Monate
Bluthochdruck (Hypertonie)  2 bis 3 Monate
Aus den vielen Beispielen Kassatkins sei hier folgendes ausgewählt: Ein Offizier träumt, er sei im Krieg und werde am rechten Unterbauch verwundet. Am nächsten Tag wird er mit akuter Blinddarmentzündung ins Krankenhaus eingeliefert.

Allerdings scheint der Traum für das Ende einer Krankheit sicherere Hinweise zu liefern als für deren Anfang. So stellte Trapp schon 1937 fest, daß ein Teil seiner schizophrenen Patienten ihre Gehörhalluzinationen direkt in ihre Träume übertrugen. Je mehr sich der krankhafte Prozeß besserte, desto weniger trat diese Übertragung auf. Das gilt aber offensichtlich nicht nur für psychische Krankheiten, sondern ganz allgemein. Später wurde von Gödon (1963) beobachtet, daß eine Patientin mit Ödemen (Wassersucht) ständig vom Ertrinken träumte. Als die Ödeme dann zurückgegangen waren, traten auch keine Träume von Wasser und Ertrinken mehr auf.

Die genaue Beobachtung von ähnlichen Beispielen hat gezeigt, daß sich im Traum die Besserung immer

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schon zeitlich vor der tatsächlich bemerkbaren Besserung im Gesundheitszustand des Kranken ankündigt. Zum Schluß dieses Kapitels wollen wir von der Psychotherapie zur Psychiatrie überwechseln, und zwar zu der Frage nach der Verwandtschaft zwischen Traum und Geisteskrankheit.

Traum und Wahnideen

Wilhelm Griesinger, der große Berliner Psychiater, war wohl der erste, der 1845 Vermutungen über einen dem Traum und der Psychose gemeinsamen Mechanismus angestellt hat. Für ihn war es die Wunscherfüllung. Damit nahm er Überlegungen vorweg, die erst ein halbes Jahrhundert später durch Freud wieder aufgenommen wurden.

Im Jahre 1886 stellte dann Wilhelm Robert seine hochinteressante Hypothese über Psychosen als Folge von Traumentzug auf (vgl. S. 61 ). Die moderne Traumforschung hat diese Hypothese in glänzender Weise bestätigt. Das entscheidende, von Dement im Jahre 1959 durchgeführte Experiment haben wir bereits beschrieben (vgl. S. 71 ). Auch andere Experimente zur Traumunterdrückung zeigten immer das gleiche Ergebnis: Traumentzug über längere Zeit führt zu psychotischen Symptomen. Man kann also mit Recht von Traumentzugspsychosen sprechen. Die psychotischen Erscheinungen fassen wir dann als
Kompensation des verhinderten Traums auf.

Die biochemische Seite dieses Mechanismus erklärt Jovanovic so: "Noradrenalin, das sich zur Traumsteuerung im subsynaptischen Spalt befindet, kann nicht genug enzymatisch und rechtzeitig abgebaut werden, weil kein Traum stattfindet. Es sammelt sich mehr und mehr im subsynaptischen Spalt und erwirkt eine motorische Unruhe im körperlichen Bereich sowie Halluzinationen im psychischen Bereich. Beide Phänomene demonstrie-

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ren zusammen einen psychotischen Zustand" (Jovanovic 1978, S.1309).

Mit anderen Worten: Das traumsteuernde Hormon Noradrenalin häuft sich an den neuronalen Schaltstellen, wenn nicht geträumt wird. Durch diese gehäufte Noradrenalinkonzentration kommt es zu den psychotischen Symptomen.

Interessant ist nun folgendes: Die Wirkung von den die psychische Erregung hemmenden Psychopharmaka (z. B. Reserpin und Phenothiazine) beruht genau auf dem umgekehrten Mechanismus: Der Noradrenalingehalt an den Synapsen wird vermindert. Damit scheint auf biochemischer Ebene die Verwandtschaft von Traum und Psychose gesichert.

Freud wies als erster nachdrücklich auf die Wichtigkeit der Erkenntnis dieser Verwandtschaft für die psychiatrische Praxis hin. In der Vorbemerkung zur "Traumdeutung" schreibt er: "Wer sich die Entstehung der Traumbilder nicht zu erklären weiß, wird sich auch um das Verständnis der Wahnideen, eventuell um deren therapeutische Beeinflussung, vergeblich bemühen" (Freud, Studienausgabe, Bd. II, S. 21 ). Im Anschluß an Griesinger sah Freud in der Wunscherfüllung den Traum und Psychose gemeinsamen psychischen Mechanismus, und wir weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, daß Eugen Bleuler, der im Jahre 1911 den Begriff der Schizophrenie in die Psychiatrie eingeführt hat, in seinem "Lehrbuch der Psychiatrie" an mehreren Stellen auf die Ähnlichkeiten zwischen dem Denken Schizophrener und bestimmten Charakteristika des Traums hingewiesen hat. Er schrieb, daß der schizophrenen Zerfahrenheit ähnliche Denkformen auch dem Gesunden nicht fremd sind. Im Traum finde man bei Gesunden ähnliches Überspringen von Erfahrung und Logik wie bei Schizophrenen. Sogar die Begriffe, mit denen Bleuler die Störungen des Gedankengangs bei Schizophrenen bezeichnet, decken sich teilweise mit denen, die Freud zur Charakterisierung der Leistungen der Traumarbeit

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verwendet hat. Beide sprechen z. B. von "Verdichtung", "Verschiebung" und "Symbolbildung".

Soviel zur psychologischen und psychiatrischen Seite der Verwandtschaft von Traum und Schizophrenie.

Das Problem kann aber auch erkenntnistheoretisch betrachtet werden. Beide Phänomene, der Traum und die Schizophrenie, sind Erscheinungen des menschlichen Bewußtseins. Die marxistisch-leninistische Philosophie begreift "das Bewußtsein des Menschen als Abbild der objektiven Realität" (Lenin 1962, S. 267). Es spiegelt also das außerhalb von ihm, tatsächlich (real) und unabhängig (objektiv) Existierende wider. Diese Widerspiegelung kann sich auf einer Skala von "übereinstimmend" bis "stark verzerrt" bewegen, etwa in dem Sinne, wie es "normale" Spiegel gibt, aber auch leicht unebene bis hin zu Zerrspiegeln auf dem Jahrmarkt.

Die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit einer adäquaten (übereinstimmenden) Widerspiegelung der Wirklichkeit ist spätestens seit Immanuel Kant zu einem Grundproblem der philosophischen Auseinandersetzung geworden. Kant war der Meinung daß wir die Dinge an sich , so wie sie tatsächlich sind, nicht erkennen können. Friedrich Engels hat sich mehrfach mit dem Standpunkt Kants auseinandergesetzt. Für ihn ist die schlagendste Widerlegung dieser Auffassung die Praxis: "Wenn wir die Richtigkeit unserer Auffassung eines Naturvorgangs beweisen können, indem wir ihn selbst machen, ... so ist es mit dem Kantschen unfaßbaren ,Ding an sich` zu Ende" (Engels 1981, 5.276). Die Betonung liegt hier auf "unfaßbar", denn die Existenz "eines Dings an sich" erkennt auch die marxistisch-leninistische Philosophie an.

Der Grundgedanke von Engels ist der: Es ist nicht denkbar, daß der Mensch sich in einer Umwelt zurechtfindet, die er nicht annähernd richtig widerspiegelt. Für die Betrachtung unseres Problems, des Zusammenhangs von Traum und Schizophrenie, ist die folgende, aus den obigen erkenntnistheoretischen Überlegungen abgeleitete Hypothese entscheidend: Wenn der Zwang, sich in der Umgebung zurechtzufinden, eine annähernd ad-

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äquate Widerspiegelung eben dieser Umwelt erfordert, dann kann das Fehlen dieses Zwangs eine verzerrte (inadäquate) Widerspiegelung ermöglichen.

Bin ich nun nicht gezwungen, mich in meiner Umwelt zurechtzufinden – und genau das ist im Schlaf der Fall! –, so kann sich mein Bewußtsein "leisten", verzerrt widerzuspiegeln. Dann träume ich z. B., ich sei Old Shatterhand oder ich könne fliegen. Beides entspricht nicht der Wirklichkeit, aber da es nur ein Traum ist, hat es keine negativen Konsequenzen, ja es kann sogar positiv als ein "Training der Phantasie" aufgefaßt werden (vgl. S. 94ff.).

Ganz anders im Wachen, wenn der Mensch sich in seiner Umwelt bewegt: Spiegelt mir dann mein Bewußtsein vor, ich könne fliegen, so springe ich womöglich von meinem Balkon. Falls ich das überlebe, werde ich als Geisteskranker behandelt. Oder ich stelle mich anderen Leuten als Old Shatterhand vor. Doch dann werde ich zum Psychiater geschickt.

Mit anderen Worten: Wenn das Bewußtsein des sich in seiner Umwelt bewegenden Menschen diese nicht Wird die Umwelt in der Nacht, wenn der Mensch passiv im Bett liegt, nicht adäquat widergespiegelt, so hat das keine negativen Konsequenzen. Wir betrachten deshalb Wahnideen als pathologisch, d. h. als krankhaft, Träume dagegen als normal. Erfolgreiche Wechselwirkung mit der Umwelt setzt adäquate Widerspiegelung voraus. Fehlende Wechselwirkung dagegen ermöglicht eine verzerrte Widerspiegelung.

Diese erkenntnistheoretischen Überlegungen scheinen die von philosophischer und psychiatrischer Seite schon lange gesehene Verwandtschaft zu bestätigen: Schizophrenien ähneln den in das Wachleben verlagerten Träumen, und Träume sind "Schizophrenien" ohne Krankheitswert. Praktisch relevant wird diese Auffassung dann, wenn man versucht, über das Verständnis des Traums zum Verständnis der Wahnideen überzugehen.