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Traum und Kunst

Der Schriftsteller hat versucht, die
unzusammenhängende, aber scheinbar logische Form
des Traumes nachzuahmen. AIles kann geschehen, alles
ist möglich und wahrscheinlich. Zeit und Raum sind
nicht vorhanden, auf einem unbedeutenden wirklichen
Boden spinnt die Einbildung weiter und webt neue
Muster: eine Mischung von Erinnerungen, Erlebnissen,
freien Einfällen, Unwahrscheinlichkeiten und
Gelegenheitsdichtungen.

August Strindberg

Strindberg hat in diesen Sätzen die Möglichkeiten zusammengefaßt, die der Traum dem Dichter bietet. Diese Möglichkeiten hat in noch größerem Maße der Filmregisseur, in etwas geringerem der Maler. Wir wollen nun sehen, wie sie genutzt werden.

Die Gänse der Penelopeia und andere Geschichten

Am häufigsten findet sich das Traummotiv in der Dichtung. Es erfüllt dort die verschiedensten Aufgaben: So fungiert der Traum als Gegenwelt zur Wirklichkeit und poetische Einkleidung für Utopien und Idealschilderungen, als Ankündigung bevorstehender Ereignisse der Handlung, als Mittel zur Erhellung der seelischen Verfassung von Personen, als handlungsauslösendes Ereignis und nicht zuletzt als formales Mittel.

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Dazu einige Beispiele. Schon in der Odyssee kündigt sich Penelopeia das Kommende im Traum an: Sie träumt von zwanzig Gänsen in ihrem Haus, die sich an ihrem Weizen gütlich tun

Homer

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und dann von einem Adler getötet werden. Der Adler gibt sich ihr als Odysseus zu erkennen, und auf diese Art und Weise deutet der Traum sich selbst. Wenig später, in der Wirklichkeit, tötet Odysseus tatsächlich die ungebetenen Gäste in seinem eigenen Haus.

Dieser Traum wird von Homer selbst als "Gottesgesicht" bezeichnet. Damit ist ganz eindeutig gesagt, daß die von ihm angekündigten Ereignisse auch tatsächlich eintreten werden.

Nicht immer liegen jedoch die Dinge so klar wie bei Penelopeia. In Kriemhilds Traum von den wütenden Ebern aus dem Nibelungenlied klingt vorerst nur eine unbestimmte Angst an. Erst ein zweiter Traum, in dem zwei Berge über Siegfried zusammenstürzen, kündigt ganz deutlich das Schicksal von Kriemhilds Gatten an. Doch wie wir wissen, schlug Siegfried diese Warnungen in den Wind und wurde wenig später von Hagen ermordet.

Noch undurchsichtiger liegen die Dinge in dem 1800-Seiten-Roman des Chinesen Ts'ao Chan aus dem 18. Jahrhundert. Dieser Roman mit dem Titel "Der Traum von der Roten Kammer" schildert das Milieu einer wohlhabenden und mächtigen chinesischen Adelsfamilie. Eine der Hauptpersonen des Romans, ein elfjähriger Junge, träumt eines Nachts, daß ihm eine Göttin Vergänglichkeit und Kurzlebigkeit irdischer Güter vor Augen führt. Anfangs begreift er diesen Traum nicht, doch im Laufe der weiteren Ereignisse wird ihm die Bedeutung des Traums klar: Er symbolisierte den Niedergang der Familie, dessen äußere Anzeichen sich schon eingestellt hatten: Schwindsucht und Selbstmord.

Für die prophetische Funktion des Traums in der Dichtung ließen sich noch viele Beispiele anführen: Von Iphigenies Traum vom zerstörten elterlichen Palast (der übrigens auch in Glucks Iphigenie-Oper vorkommt), über Calphurnias Traum von der bevorstehenden Ermordung ihres Gatten Cäsar (Shakespeare) bis hin zum unheilkündenden Traum Emilia Galottis (Lessing). Die Varianten der dichterischen Verarbeitung weissagender

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Träume sind vielfältig: So kann die Warnung in den Wind geschlagen werden, wie es Siegfried tat; oder sie wird nicht verstanden, und der Traum wiederholt sich mehrmals in gleicher oder abgewandelter Weise. Schließlich gibt es noch eine höchst interessante Variante: Ein Warntraum wird vorgetäuscht. Genau das macht Vittoria in John Websters "Der weiße Teufel". Sie erzählt ihrem Geliebten einen erfundenen Traum, in dem sie von ihrem Mann und der Herzogin von Bracchiano umgebracht wird. Durch diesen erlogenen Traum erreicht sie, daß ihr Geliebter sowohl ihren Gatten als auch die Herzogin ermordet.

Aber mit diesen Spielarten des weissagenden Traums ist seine Verwendung in der Dichtung längst nicht erschöpft. Unter psychologischem Gesichtspunkt besonders interessant sind jene Träume, die von Dichtern benutzt werden, um die psychische Verfassung ihres Helden oder anderer handelnder Personen zu charakterisieren. Frühe Beispiele solcher Träume finden sich bei Lukian. In seiner Geschichte "Der Traum oder der Hahn" träumt der arme Schuster Mikyllos von einem üppigen Gastmahl bei Eukrates und von einer großen Erbschaft, die ihm der reiche Gastgeber hinterläßt. Es ist dies ein typischer Wunschtraum, der keiner weiteren Deutung bedarf. Ein weiterer von Lukian überlieferter Traum findet sich in seiner Autobiographie "Über den Traum oder Das Leben Lukians". Dort berichtet der Dichter, daß er bei seinem Onkel, einem Bildhauer, in die Lehre ging und von diesem eines Tages wegen Ungeschicktheit schart zurechtgewiesen wurde. Nachts darauf träumte Lukian folgendes: Zwei Frauen faßten ihn jede an einem Arm und versuchten ihn mit großer Anstrengung jede auf ihre Seite zu ziehen. Dabei schilderte jede die Vorteile ihrer Seite: Die eine mit von Arbeit gezeichneten Händen pries in primitiver Sprache vor allem körperliche Stärke. Die zweite Frau dagegen warb recht vornehm für das Wissen. Lukian entschied sich für letztere. Natürlich ist auch dieser Traum Ausdruck eines Wunsches, nämlich nach schwerem Arbeitstag und Zurechtweisungen

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durch den Meister nicht wieder mit roher Kraft und Arbeit, sondern mit Bildung in Berührung zu kommen.

Meisterhaft wird in Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" der Traum zur Charakterisierung der psychischen Verfassung des Helden eingesetzt. Während der ersten Nacht in Lotharios Haus träumt Wilhelm einen Traum, in dem die ganze Zwiespältigkeit seiner Einstellung zu Lothario zum Ausdruck kommt.

Häufig haben Träume in der Dichtung auch handlungsauslösende Funktion. So stürzt sich Gustchen in Lenz Hofmeister nach einem Traum vom Tod ihres Vaters in den Teich. In Dostojewskis "Der Traum eines lächerlichen Menschen wird ein solcher Traum sogar zum entscheidenden Ereignis der Handlung: Die Hauptfigur der Erzählung gilt als lächerlicher Mensch, wird verspottet und überhaupt nicht für voll genommen. Deshalb beschließt er sich umzubringen. Und noch während der mit den Gedanken an den Selbstmord beschäftigt ist, schläft er in seinem Lehnstuhl ein. Er träumt, wie er sich erschießt und anschließend begraben wird. Aus dem Sarg wird er dann von einem unbekannten Wesen in den Weltraum entführt und findet sich auf einem der Erde völlig gleichen Planeten wieder. Der einzige Unterschied zur Erde ist, daß die Bewohner dieses Planeten völlig frei von Sünde leben, harmonische Beziehungen Untereinander haben und weder Haß noch Eifersucht oder ähnliche schlimme Gefühle kennen. Durch die Schuld des lächerlichen Menschen kommt die Sünde in diese heile Welt, und die Bewohner werden von ihr angesteckt. Ehe man sich versieht, gleicht dieser ehemals so harmonische Planet der Erde. Der lächerliche Mensch bekennt sich schuldig und will auch dafür geradestehen, aber er wird nur belächelt, und man will ihn sogar ins Irrenhaus sperren.

Als der lächerliche Mensch aus diesem Traum erwacht, hat er das Gefühl einer Offenbarung: Er will und kann nicht glauben, daß das Böse der normale Zustand des Menschen sei. Von nun an, so beschließt er, will er den Menschen verkünden, daß sie schon in dieser Welt;

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nicht erst im Jenseits, glücklich sein können. Dafür braucht man nur die anderen wie sich selbst zu lieben und zu versuchen, die Verhältnisse wenigstens in unserer nächsten Umgebung zum besseren zu wandeln. Und der lächerliche Mensch fängt sofort nach dem Traum damit an: Er sucht ein kleines Mädchen, das ihn am Abend vorher um Hilfe für seine Mutter gebeten hatte und die er ihm abgeschlagen hatte; nun wird er hingehen.

Von vielen Dichtern wird der Traum auch als formales Mittel benutzt, d. h., durch Träume von handelnden Personen werden Effekte erzielt, die sonst schwieriger oder gar nicht zu erreichen wären. Zum Beispiel kann in einem Traum die ganze Idee eines Stückes ausgedrückt werden, wie es Heinrich von Kleist im "Zerbrochenen Krug" wunderbar gelungen ist. Dort träumt der Dorfrichter Adam gleich zu Anfang, daß er vor einen Richter gebracht wird, in dem er sich selbst erkennt, und der ihn verurteilt. Schon in diesem Traum ist die ganze Kritik Kleists an der feudalen Justiz enthalten. Im weiteren Verlauf des Lustspiels bekommt sie, dann lediglich realistischen Gehalt.

In dem satirischen Gedicht "Der Traum" des ukrainischen Dichters Taras Sevcenko ist die Kritik am zaristischen Rußland in einen Traum gekleidet: Der Dichter läßt sich von einer Eule (dem Symbol der Weisheit) die Ukraine zeigen. Das Elend, das er sieht, läßt ihn die Flucht ergreifen. Auf einer Wolke gelangt er nach Sibirien. Dort begegnet er den Verbannten des Zarenreiches, und er flieht weiter nach Petersburg. Diese Stadt "' erscheint ihm wie eine riesige Kaserne. Als er ein Bankett im Zarenpalast besucht, schlägt das Gedicht in beißende Satire um: Die Ereignisse auf dem Bankett wer; den exemplarisch für ganz Rußland genommen. Die Gesellschaftskritik Sevcenkos hat hier die Form eines Traums.

Erwähnung verdient noch der fiktive Traum in der dramatischen Dichtung. Bekanntestes Beispiel ist wohl Calderons Stück "Das Leben ein Traum". Der Königssohn Sigismund wird einer als Prüfung inszenierten Traumfik-

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tion unterzogen. Er erweist sich tatsächlich als der erwartete Tyrann. Sigismund hält das Herrschaftserlebnis für einen Traum und wird nach seiner Thronbesteigung, durch das scheinbare Traumerlebnis moralisch gereinigt, zu einem maßvollen Herrscher. Hier wird also sogar ein fiktiver Traum zum handliungsauslösenden Moment.

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Und schließlich die Verwendung von des Dichters eigenen Träumen in seinen Werken. Franz Fühmann z. B. hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, seine Träume sofort nach dem Erwachen aufzuzeichnen. In seinem Ungarntagebuch "Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens" baut er eigene, während der Reise erlebte Träume in den chronologischen Ablauf ein. Sie haben fast ausschließlich die Funktion, die seelische Verfassung des Tagebuchschreibers in bestimmten Situationen durchsichtig zu machen.

Es ließen sich buchstäblich noch Hunderte von Werken anführen, in denen Dichter zu dem einen oder anderen Zwecke Träume verwenden. Wir wollen es jedoch genug sein lassen und dieses Gebiet mit einem Gedicht von Hermann Hesse abschließen, daß das Problem der Verantwortlichkeit für unsere Träume (vgl. S. 27 und 74) behandelt:

Traum

Aus einem argen Traume aufgewacht
Sitz ich im Bett und starre in die Nacht.

Mir graut vor meiner eignen Seele tief, ;
Die solche Bilder aus dem Dunkel rief.

Die Sünden, die ich da im Traum getan,
Sind sie mein eigen Werk? Sind sie nur Wahn?

Ach, was der schlimme Traum mir offenbart ,
Ist bitter wahr, ist meine eigne Art.

Aus eines unbestochenen Richters Mund
Ward mir ein Flecken meines Wesens kund.

Zum Fenster atmet kühl die Nacht herein
Und schimmert nebelhaft in grauem Schein.

O süßer, lichter Tag, komm du heran
Und heile, was die Nacht mir angetan!

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Durchleuchte mich mit deiner Sonne, Tag,
Daß wieder ich vor dir bestehen mag!

Und mache mich, ob's auch in Schmerzen sei,
Vom Grauen dieser bösen Stunde frei!
 
 

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Gemalte Träume

In der Regel handelt es sich bei der Traumdarstellung in der Malerei um Träume, die auf die Dichtung bzw. auf andere literarische Quellen zurückgehen.
 

Jakobs Traum von der Himmelsleiter. Illustration der Lutherbibel von 1534

Besonders beliebt waren biblische Themen wie Jakobs Traum von der Himmelsleiter, gemalt von Ferdinand Bol, Rembrandt und Eugène Delacroix, und die Träume Josephs. Die berühmtesten Darstellungen der Joseph-Träume stammen von Rembrandt und Raffael. Sie sind übrigens einer der nicht wenigen Fälle, in denen ein und dieselben Träume sowohl in Malerei als auch in die Literatur Eingang gefunden haben: In Thomas Manns Joseph-Trilogie ist das vierte Hauptstück des zweiten Teils mit "Der Träumer" überschrieben, und in ihm werden Josephs Träume und die damit verbundenen Ereignisse meisterhaft gestaltet. Durch das Bild von Peter von Cornelius "Joseph deutet die Träume des Pharao" ist Joseph nicht nur als Träumer, sondern auch als Traumdeuter in die Bildende Kunst eingegangen.

Raffael, Pharaos Traum
 

 Rembrandt, Joseph seine Träume erzählend
 

Joseph deutet den Traum des Pharao (Glasfenster im Erfurter Dom)


 

Francisco de Goya, Träumender. Die Übersetzung der Inschrift bedeutet etwa: Der Schlaf der Vernunft produziert Monstren. Die Zeichnung ist Teil einer Serie von Bildern, die Goya ursprünglich mit "Träume" betitelt hatte.
 

Henri Rousseau, Der Traum

Moritz von Schwind, Der Traum des Gefangenen
 
 
 

Marc Chagall, Der Traum (Das Bild kann aus urheberrechtlichen Gründen nicht gezeigt werden)
 

Neben der grafischen Wiedergabe von in der Dichtung auftauchenden konkreten Träumen finden sich in der Malerei besonders häufig Darstellungen von Alpträumen, z. B. das Bild von Johann Heinrich Füssli "Nachtmahr". In der expressionistischen und surrealistischen Malerei zeigen Traumdarstellungen in der Regel das der Kontrolle der Vernunft entzogene seelische Geschehen. Beispiele dafür sind Bilder von Max Beckmann, de Chirico und Max Ernst.
 

Johann Heinrich Fuessli, Nachtmahr
 

Giorgo de Chirico, Der Traum des Achilles

Paul Klee, Traum-schweifend
 
 
 

Salvador Dali, Traum, verursacht durch den Flug einer Biene um einen Granatapfel, eine Sekunde vor dem Aufwachen
(Das Bild kann aus urheberrechtlichen Gründen nicht gezeigt werden)
 
 

Von Charlie Chaplin bis Ingmar Bergman

Besonders interessant ist die Verwendung von Träumen im Film. Der Film ist ein Medium, das als Synthese von Dichtung und Malerei betrachtet werden kann. Das zeigt sich besonders in der praktischen Zusammenarbeit zwischen Dichtern, Malern und Filmschaffenden: Häufig

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sind Filmszenarien von Dichtern, ja Luis Bunuel hat sogar zwei Filme nach Drehbüchern von Salvador Dali gemacht, und von letzterem sind auch die Dekors für Hitchcocks Film "Ich kämpfe um Dich" (1945) entworfen worden. Der Dichtung fehlt das Bild, um einen Traum lebens-

Luis Bunuel

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echt vor uns wiedererstehen zu lassen, und der Malerei gelingt es wohl, bestimmte Elemente des Traums zu erfassen, sie kann jedoch kaum seinen Prozeßcharakter wiedergeben. Der Film dagegen hat diese Probleme nicht. Vielleicht hat Bunuel ihn deshalb eine "unbeabsichtigte Imitation des Traums" genannt. Die Ähnlichkeiten zwischen Film und Traum beschränken sich aber nicht nur auf die Darstellungsmöglichkeiten: Sogar der Kinobesucher gerät, während es im Saal dunkel wird und er den Beginn des Films erwartet, in die Rolle des Einschlafenden, dem alsbald die ersten Träume über die geistige Leinwand flimmern werden

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Wie in der Dichtung, so hat der Traum im Film auch bestimmte Funktionen. In Ingmar Bergmans "Wilde Erdbeeren" ist der Traum des alten Professors Anstoß für ihn, sein Leben und seine Einstellung zu ihm neu zu überdenken. Gleichzeitig zeigt dieser Traum natürlich auch an, daß schon gewisse Änderungen in der Lebenshaltung des Professors eingetreten sind.

Aber der Traum hat schon lange vor Bergman Eingang in den Film gefunden. Schon in Max Reinhardts Film "Die Insel der Seligen" aus dem Jahre 1913 ist ein
 
 

Traum Hauptmotiv der Handlung. Und der große Charlie Chaplin hat schon in seinen ersten Filmen viel mit Träumen gearbeitet. Am bekanntesten sind wohl die Szenen aus "The Kid" ( 1921 ) und aus "Goldrausch" (1925). In "The Kid" träumt der Glaser, der von Chaplin selber dargestellt wird, er sei im Himmel. Dann wird er von ei-

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nem Polizisten unsanft wachgerüttelt. Im "Goldrausch" wartet Charlie auf eine von ihm angebetete Tänzerin, die ihn zu Silvester zu besuchen versprochen hatte. Sie kommt aber nicht, und der Kavalier schläft ein. Im Traum gibt er dem Mädchen eine Vorstellung mit auf Gabeln aufgespießten Brötchen. Dieser Brötchentanz in Charlies Traum ist eine der gelungensten Szenen in Chaplins gesamtem Filmschaffen. Hier ist völlig unpathetisch auf; eindringlichste Art der Kontrast zwischen harter Wirklichkeit und süßem Wunschtraum filmisch umgesetzt.

Der Brötchentanz Charlie Chaplins

In der weiteren Filmgeschichte wurden Träume dann häufig als Vorwand für Experimente mit Avantgardefilm-Techniken benutzt. Außerdem gewann durch André Breton, der 1921' Freud in Wien besucht hatte, der Surrealismus Einfluß auf das Kino. Das waren natürlich goldene Zeiten für den Traum: Doppelt- und Dreifachbelichtungen wurden zu Symboldarstellungen verwendet (Geheimnisse einer Seele, Georg Pabst, 1926), Träume im Negativ gezeigt (Brennende Glut, Iwan Mosshuchin, 1923), komische Effekte wurden erzielt durch Vermischung von Traum und Realität (Sherlock Junior, von Roscoe Arbuckle mit Bustor Keaton in der Hauptrolle, 1924), und schließlich zeigte sich auch der Einfluß der Psychoanalyse auf den Film: Der Österreicher Georg Wilhelm Pabst drehte mit dem Film "Geheimnisse einer Seele" (1926) die Quasidokumentation eines klinischen Falls. Zwei Schüler Sigmund Freuds, Karl Abraham und Hanns Sachs, berieten Pabst bei der "filmischen psychoanalytischen Heilung des Patienten" (Toeplitz 1975 , S. 434). Auf der Leinwand erschienen Kindheitserinnerungen, und es wurden Träume analysiert. Durch Überlagerung von Aufnahmen erreichte Pabst das, was Freud ) als Verdichtung in Träumen bezeichnet hatte.

In die Reihe der psychologischen Filme, die Träume verwenden und die mit "Geheimnisse einer Seele" angefangen haben, gehört auch Peter Weiss' "Studie IV". Sie ist mit einigen anderen Studien zwischen 1952 und 1955 entstanden und schildert in Traumsequenzen den psychischen Wandlungsprozeß eines Mannes.

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Auch beim Film lassen sich noch unzählige Beispiele der Verwendung des Traums anführen; sie folgen jedoch alle den gleichen Mustern: Der Traum ist Wunscherfüllung, Angsttraum, handlungsauslösend, oder er

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beschreibt die seelische Verfassung eines Menschen. Übrigens gilt vieles, was hier über den Film gesagt wurde, auch für das Theater. Auch dort können Träume szenisch dargestellt werden (erinnert sei hier nur an den "Fiedler auf dem Dach"). In diesem Zusammenhang sei noch auf eine weitere Synthese verwiesen: auf die zwischen Film und Theater. In der "Rasputin"-Inszenierung von Erwin Piscator aus dem Jahre 1927 wurden Träume als Film projiziert.

Zum Schluß dieses Ausflugs in die Welt der Kunst wollen wir uns noch einem interessanten Problem zuwenden, das Sigmund Freud aufgeworfen hat. Er war der Meinung, daß von Dichtern gestaltete Träume genauso wie "richtige" Träume gedeutet werden könnten. Der Dichter richte seine Aufmerksamkeit auf das Unbewußte seiner eigenen Seele, lausche den Entwicklungsmöglichkeiten desselben und gestatte ihnen den künstlerischen Ausdruck, anstatt sie mit bewußter Kritik zu unterdrücken. Aus diesem Grunde unterliege die "Erfindung" von Träumen durch Dichter den gleichen Gesetzmäßigkeiten wie die Entstehung des manifesten Trauminhalts.

Freud versuchte diese These an Hand der kleinen Novelle "Gradiva" (1903) des norddeutschen Dichters Wilhelm Jensen zu belegen. Die Argumentation in der umfangreichen und brillant geschriebenen Abhandlung " Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva" (Freud, Studienausgabe, Bd. X) ist nicht immer ganz überzeugend, doch scheinen auch Psychologen, die der Psychoanalyse durchaus kritisch gegenüberstehen, ähnliche Positionen zu vertreten. So schreibt Rudolf Arnheim, der ein Leben lang die Psychologie des künstlerischen Schaffens (besonders der Malerei und des Films) untersucht hat, folgendes:

"Das menschliche Bewußtsein scheint im Schlaf in tiefere Schichten hinunterzusteigen, in denen das Leben nicht durch abstrakte Begriffe, sondern durch bedeutsame Bilder beschrieben wird. Wir müssen diese schöpferische Vorstellungskraft bewundern, die der Schlaf in

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uns erweckt. Aus dieser Kraft der Bildersprache erhält auch der Künstler seine Gedanken (Arnheim 1965, S. 344) .

Wir denken hier natürlich sofort an die Hypothese von der rechten Gehirnhälfte als Träumer (vgl. S. 57ff.) und an die Lösung wissenschaftlicher Probleme im Traum (vgl. S. 94ff.). Tatsächlich scheinen viele Künstler durch Träume zu ihren Werken angeregt worden zu sein. Von Albrecht Dürer ist z. B. folgender Ausspruch überliefert: "Ach, wie oft seh ich große Kunst und gut Ding im Schlaf desgleichen mir wachend nit fürkommt." Der amerikanische Filmregisseur lan Hugo benutzte eigene Träume als Material für seine Filme, um die "unbewußten Gefühle" der Zuschauer besser zu erreichen. An diesem Beispiel zeigt sich aber auch, daß der Übergang vom Traum des Künstlers als schöpferische Anregung zum Traum als Motiv im Kunstwerk selbst fließend ist. Wieland Herzfelde hat die in seinen "Tragigrotesken der Nacht" zusammengetragenen Träume einigen Psychoanalytikern zugeschickt, mit der Bemerkung, einer der Träume sei erfunden, und sie sollten doch herausbekommen, welcher. Die Antwort: Das ließe sich nicht feststellen, denn auch die Phantasie folge den Gesetzen des Traums. Und Herzfelds Reaktion: "Träfe das zu, wäre jeder, wenn er schläft ein Dichter" (Herzfelde 1920).

Ja wieso eigentlich nicht?