BAHNSTATION TREBLINKA
Zum Schicksal von Sigmund Freuds Schwester Rosa Graf
Als Sigmund Freud am 4. Juni 1938 Wien für immer verlassen mußte, ließ er vier seiner fünf Schwestern im "angeschlossenen" Österreich zurück1: Regine Debora (Rosa)2, Marie (Mitzi)3, Esther Adolfine (Dolfi)4 und Pauline Regina (Paula).5 Verschiedene Versuche, die Schwestern ins Exil nachzuholen, scheiterten. So gelang es auch Marie Bonaparte nicht, französische oder griechische Visa für sie zu besorgen (Jones 1960-62, Bd.3, S. 273; Gay 1989, S. 731). Alle vier blieben in Wien, wurden dann von den Nazis in Konzentrationslager verschleppt und dort umgebracht.
Es soll hier nun nicht der Frage nachgegangen werden, mit welcher Hartnäckigkeit Freud, seine Verwandten und Freunde von der Emigration aus die Ausreise der vier Schwestern zu organisieren versucht haben (vgl. dazu Leupold-Löwenthal 1988), sondern ich will lediglich einige Umstände hinsichtlich des Schicksals von Regine Debora (Rosa) Graf erörtern. Die biographische Literatur über Sigmund Freud gibt über das tragische Ende von Freuds Schwestern widersprüchliche oder ungenaue Auskünfte.6
Erst Leupold-Löwenthal (1988) gibt genauere Informationen (allerdings ohne Angabe seiner Quellen) zu den Todesdaten und -orten der vier Freud-Schwestern:
- Marie Freud, Adolfine Freud und Paula Winternitz sind
am 29.6.1942 von Wien nach Theresienstadt deportiert worden.7
- Marie und Paula sind von dort aus am 23.9.1942 in das
Vernichtungslager Maly Trostinec8 verschickt und dort umgebracht
worden.
- Adolfine ist am 5.2.1943 in Theresienstadt vermutlich
an Unterernährung gestorben.9
- Rosa Graf ist am 28.8.1942 von Wien nach Theresienstadt
deportiert worden10 und zwischen dem 5. und 10.10.1942 nach
Treblinka weiterverschickt worden.11
Soweit die Angaben Leupold-Löwenthals. Sofern sie Maria, Adolfine und Paula betreffen, müssen sie hingenommen werden. Bei Rosa Graf ergeben sich jedoch Widersprüche zu bisher in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigten Dokumenten.
Doch der Diskussion dieser Dokumente seien einige Bemerkungen zur Biographie von Rosa vorangestellt.
Sie wurde als viertes Kind von Amalie und Jakob Freud
am 21. März 1860 in Wien, Weißgärberstr. 3, geboren.12
Damit war sie das erste von Freuds Geschwistern, das nach der bersiedlung
der Familie Freud von Freiberg in die Hauptstadt der Donaumonarchie zur
Welt gekommen war. Sigmund scheint Rosa den anderen Schwestern und besonders
Anna vorgezogen zu haben13; so machte er mit ihr Ausflüge
über mehrere Tage ins Semmeringgebiet (Freud 1960a, S. 16) und
war sehr darauf bedacht, nicht durch "intimen Verkehr" mit Rosas Verehrer
Brust dessen "zweifelhafte Stellung" zu stärken (Freud 1960a, S. 62).
Er bemühte sich, für Rosa Freunde zu finden, die auch er schätzte.
So schrieb er Anfang 1884 an seine Verlobte Martha Bernays über einen
Besuch bei der Familie seines alten Lehrers
Samuel Hammerschlag:
Herman Graf lebte dann auch tatsächlich ab Sommer 1911 für mindestens ein Jahr in Haeberlins Familie und seine Entwicklung schien positiv zu verlaufen (ebenda, S. 287). Im ersten Weltkrieg wurde Herman dann eingezogen und fiel an der Front Ende Juni 1917. Freud erhielt die Todesnachricht kurz vor seiner Abreise in den Urlaub nach Csorbato. Von dort aus schrieb er an Karl Abraham: "Der Jammer war nicht zu beschreiben" (Freud 1965a, S. 68).
Den dritten schweren persönlichen Schlag erlitt Rosa im August 1922, als ihre Tochter Cäcilie sich mit einer Überdosis Veronal das Leben nahm: Sie war unverheiratet schwanger geworden (Gay 1989, S. 470). Seit dem Tod ihres Mannes hatte sich Rosa ziemlich verändert. "Sie war in jüngeren Jahren etwas sehr Feines, wir haben jetzt viel an ihr verloren" schrieb Freud Ende Mai 1912 an Haeberlin (ebenda, S. 287). Offensichtlich litten unter dieser Veränderung auch die Kontakte zu Sigmund Freud. In seinen Briefen wird Rosa kaum noch erwähnt und auch die Biographen schweigen sich aus. Erst im Zusammenhang mit Freuds Emigration am 4. Juni 1938 erfahren wir erneut etwas über Rosa. Und an dieser Stelle wollen wir den Faden wieder aufnehmen. Ich hatte behauptet, daß sich aus Leupold-Löwenthals Angaben zu Deportation und Ermordung von Rosa Graf Widersprüche zu anderen Quellen ergeben.
Zuerst wäre da das Vernehmungsprotokoll des Internationalen Militärgerichtshofs in Nürnberg vom Nachmittag des 27. Februar 1946 zu nennen. Diese Sitzung behandelte die Verbrechen im Vernichtungslager Treblinka. Als erster wurde Samuel Rajzman als Zeuge vernommen. Er war im August 1942 im Warschauer Ghetto verhaftet und nach Treblinka verbracht worden. Überlebt hat er dank eines Freundes aus Warschau, der im Lager Aufseher über die jüdischen Arbeiter war und ihm einen Posten als Dolmetscher aus dem Hebräischen verschaffte (Rajzman 1979). Im Zuge der Vernehmung fragte ihn Oberjustizrat Smirnow:
Von der westlich am Lager vorbeiführenden Eisenbahnlinie Siedlce-Malkinia führte ein etwa 300m langes Nebengleis durch ein Tor und endete an einer langen Rampe. Erst Ende 1942 wurde diese Rampe zu einem richtigen Bahnsteig ausgebaut und die danebenstehende Sortierbaracke zu einem scheinbaren Bahnhofsgebäude umfunktioniert:
Wann also kam Rosa Graf dann in Treblinka an, und von
wo war sie deportiert worden? Theresienstadt kommt nun nicht mehr in Frage,
denn der letzte Transport von dort nach Treblinka ging am 22.10.1942 (Lederer
1953, S. 250). Nimmt man an, daß Rajzman sich nicht geirrt hat und
Rosa Graf mit einem Transport aus Wien kam, so bleiben nur zwei Daten:
Der 23.3. oder der 1.4.1943. Das scheinen die einzigen Transporte gewesen
zu sein, die von Wien aus direkt nach Treblinka gingen (vgl. GCP 1946,
S. 104). Freuds Schwester Rosa ist also spätestens am 1.4.1943 in
Treblinka eingetroffen und da sie in einem Alter von 83 Jahren sicher nicht
mehr als Arbeitskraft eingesetzt wurde, hat sie wohl den Frühling
dieses Jahres nicht mehr überlebt.
Anmerkungen
1 Anna, die älteste war schon 1892 mit
ihrer Familie nach Amerika ausgewandert (Freud-Bernays o. J., S. 49ff.).
2 Geb. am 21.3.1860, verh. seit 1896 mit Heinrich
Graf.
3 Geb. am 22.3.1861, seit 1886 verh. mit Moritz
Freud.
4 Geb. am 23.7.1862, unverh.
5 Geb. am 3.5.1864, verh. mit Valentin Winternitz.
6 So gibt Gay (1989, S. 731) für Adolfine
Theresienstadt, für die anderen 3 Schwestern Auschwitz als Todesort
an; Kruell (1979, S. 254) dagegen nennt
für Maria und Paula Treblinka
als Lager, in dem sie umgekommen seien. Auch hinsichtlich des Todesjahres
weichen die Angaben ab: Jones
(1960-62, Bd.3, S. 273) nennt 1943,
Gay (1989, S. 731) schreibt 1942 als Todesdatum der Schwestern.
7 Offensichtlich handelt es sich um den Transport
von 1000 Personen, der am 29.6.1942 in Theresienstadt eintraf (Lederer
1953, S. 261).
8 Vernichtungslager in der Nähe von Minsk,
in das aus Theresienstadt zwischen dem 4.8. und 29.9.1942 neun Transporte
mit insgesamt 15000
Personen gingen (Lederer 1953, S.
250).
9 Das entnahm Harry Freud, der Sohn von Freuds
Bruder Alexander nach dem Krieg dem Theresienstadter Totenbuch.
10 Transport von 1000 Personen, der am 28.8.1942
in Theresienstadt eintraf (Lederer 1953, S. 261).
11 In diesem Zeitraum gab es zwei Transporte
von Theresienstadt nach Treblinka: einen am 5.10. und einem am 8.10. mit
jeweils 1000 Personen
(Lederer 1953, S. 250).
12 Erstes Kind: Sigmund, geb. am 6.5.1856
in Freiberg; zweites Kind: Julius, geb. im Oktober 1857 in
Freiberg; drittes Kind: Anna, geb. am
31.12.1858 in Freiberg.
13 Im März 1900 schreibt er anläßlich
eines Besuches von Anna aus New York an Wilhelm Fließ: "Ich habe
nie ein besonderes Verhältnis zu ihr gehabt
wie etwa zu Rosa ..." (Freud 1985c,
S. 445); Jones schreibt sogar, Rosa sei Freuds "Lieblingsschwester" gewesen
(Jones 1960-62, Bd.1, S. 28,
391; Bd. 2, S. 231).
14 Ein Traum, den dieser Neffe Freuds mit
knapp 2 Jahren hatte, ging als Illustration von Kinderwunschträumen
in die "Traumdeutung" ein (Freud
1900a, S. 148f.).
15 (1878-1960); Schweizer Philosoph, der sich
seit Anfang des Jahrhunderts der Erziehung schwieriger Kinder widmete (vgl.
Ellenberger 1985, S.
916f.).
16 Ich zitiere hier nach dem deutschen Originaltext
des Briefes aus dem Paul-Haeberlin-Archiv in Basel, dessen Transkription
Prof. Gerhard Fichtner
(Tübingen) mir freundlicherweise
zur Verfügung stellte.
17 Stellvertretender Lagerkommandant von Treblinka;
am 3. September 1965 vom Schwurgericht Düsseldorf wegen Mordes an
mindestens 300 000
Menschen zu lebenslanger Haft verurteilt
(Rückerl 1977, S. 82).
18 Vermutlich hatte Rajzman schon in der Vorvernehmung
die Aufmerksamkeit Smirnows auf den Mord an einer Schwester Freuds in Treblinka
gelenkt.
Literatur
Donat, Alexander (Ed.) 1979. The Death Camp Treblinka.
A Documentary. New York: Holocaust Library 1979.
Ellenberger, Henry. 1985 Die Entdeckung des Unbewußten.
Zürich: Diogenes 1985.
Freud, Sigmund. 1900a. Die Traumdeutung, SA, Bd.
2. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 1972.
Freud, Sigmund. 1960a. Briefe 1873 - 1939. Frankfurt
a. M.: S. Fischer Verlag 1960.
Freud, Sigmund. 1987h. Vier Briefe an Paul Häberlin.
Les
bloc-notes de la psychanalyse}, Nr. 7(1987), 283-288.
Freud, Sigmund & Abraham, Karl. 1965a. Briefe
1907 - 1926. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 1965.
Freud-Bernays, Anna. o.J. Erlebtes. Wien: Heller
o.J.
Gay, Peter. 1989. Freud. Eine Biographie für
unsere Zeit. Frankfurt/M.: S. Fischer 1989.
GCP. 1946. German Crimes in Poland, vol. 1. Warschau
1946.
IMG. 1947. Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher
vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg 14.
November 1945 - 1. Oktober 1946},
Bd. 8. Nürnberg 1947.
Jones, Ernest. 1960-62. Das Leben und Werk von Sigmund
Freud. 3 Bd. Bern/Stuttgart: Hans Huber 1960-62.
Krüll, Marianne. 1979. Freud und sein Vater.
München: Beck 1979.
Lederer, Zdenek. 1953. Ghetto Theresienstadt.
London: Golston ¦ Son 1953.
Leupold-Löwenthal, Harald. 1988. Die Vertreibung
der Familie Freud 1938. Sigmund Freud House Bull., 12(1988), 1-11.
Rajzman, Samuel. 1979. The End of Treblinka. In: Donat,
Alexander (Ed.), The Death Camp Treblinka. A Documentary. New York:
Holocaust Library
1979.
Rückerl, Adalbert (Hg.) 1977. Nationalsozialistische
Vernichtungslager im Spiegel deutscher Strafprozesse. Belzec, Sobibor,
Treblinka, Chelmno.
München: Deutscher Taschenbuch
Verlag 1977.