» und gedenke die Wissenschaft auszubeuten«
Sigmund Freuds Weg zur Psychoanalyse [1]
Im Frühjahr 1884 schrieb Sigmund Freud an seine Verlobte Martha Bernays die folgende Sätze:
Als Sigmund Freud die Traumdeutung, sein erstes großes psychoanalytisches Werk, veröffentlichte, war er 44 Jahre alt und hatte die Mitte seines Lebens bereits überschritten. Die Liste seiner Veröffentlichungen umfaßte zu diesem Zeitpunkt immerhin fast 150 Arbeiten, darunter 4 Monographien. Die Psychoanalyse ist also nicht vom Himmel gefallen, sondern das Produkt eines reifen Mannes, der sich schon auf anderen Gebieten der Wissenschaft einen Namen gemacht hatte.
Ich möchte nun versuchen, Ihnen einen Eindruck von den Triebkräften und Einflüssen zu vermitteln, die Freuds fast zwei Jahrzehnte währende wissenschaftliche Suche unterhalten haben. Im Mittelpunkt meines Vortrags wird dabei nicht die innere Logik der wissenschaftlichen Entwicklung stehen, sondern das Wechselspiel von Hoffnungen und Enttäuschungen, das erst mit der Niederschrift der Traumdeutung, d.h. mit der Begründung der psychoanalytischen Theorie ein Ende fand.
Sigmund Freud wurde am 6. Mai 1856 in dem kleinen mährischen Städtchen Freiberg geboren. Sein Vater Jakob, ein Wollhändler, in der dritten Ehe mit der um 20 Jahre jüngeren Amalie verheiratet, verließ 1859 aus bisher nicht eindeutig geklärten Gründen mit seiner Familie Freiberg, um nach einem Zwischenaufenthalt von etwa einem halben Jahr in Leipzig, sich 1860 in Wien niederzulassen. Im Herbst 1865 wird Sigismund so nennt er sich bis Mitte der 70er Jahre in das Leopoldstädter Real- und Obergymnasium aufgenommen. Nach mit »vorzüglich« bestandener Matura entschließt er sich 1873 an der Universität Medizin zu inskribieren.
Spätestens seit dem Beginn seiner Studienzeit träumte Freud davon, in der Rangreihe der Gelehrten seiner Zeit einmal ganz oben zu stehen. Auf welchem Gebiete der Wissenschaft dieser Aufstieg stattfinden sollte, war für ihn viele Jahre offen. Nachdem eindeutig feststand, daß es die Medizin sein würde und Freud auch schon einige Erfahrungen gesammelt hatte, formulierte er seinen machtvollen Drang in einem Brief an seine Verlobte folgendermaßen:
In den Briefen der 80er Jahre erweckt Freud den Eindruck, als habe er nur temporär Ehrgeiz besessen und sei von diesem »Übel« bald geheilt worden. Es finden sich fast klagende Formulierungen wie: »Aber ich bin so wenig ehrgeizig« [5]. oder »Mein Ehrgeiz bescheidet sich, in einem langen Leben etwas von der Welt verstehen zu lernen ...« [6]
Im Gegensatz zu dieser Tendenz steht die Deutung einer Reihe von Freuds eigenen Träumen und Fehlleistungen in der Traumdeutung und der Psychopathologie des Alltagslebens. Da fallen Worte wie »krankhafte[r] Ehrgeiz« [7], »Größensehnsucht« [8] und es findet sich Freuds vorsichtiges Eingeständnis: »Vielleicht habe ich auch wirklich Ehrgeiz besessen.« [9]
Mit diesen wenigen Zitaten sollte nur angedeutet werden, daß Freuds Einstellung zu seinem eigenen Ehrgeiz von Ambivalenz geprägt ist, und es für ihn nicht immer einfach war, diesen Charakterzug anderen oder auch sich selbst gegenüber einzugestehen.
Doch welche Entwicklungen und Umstände haben zu Freuds Ehrgeiz geführt?
Als erster wichtiger Faktor muß hier Freuds jüdische Herkunft erwähnt werden. Die Emanzipationsgesetzgebung in der Habsburger Monarchie hatte die gesellschaftliche Gleichstellung der Juden ermöglicht, allerdings um den Preis der Aufgabe ihrer Religion und Tradition. [10] Den gleichzeitig wieder erstarkende Antisemitismus bekam Freud wohl schon als Kind zu spüren. Und spätestens seit den ersten Semestern an der Wiener Universität ist er auch direkt mit judenfeindlichen Tendenzen konfrontiert worden. Einige Zeit lang hat er versucht, die scheinbaren oder auch wirklichen Nachteile des eigenen Judentums durch deutsch-nationale Aktivitäten innerhalb des Lesevereins der deutschen Studenten in Wien zu kompensieren, doch spürte er bald, daß auf der einen Seite der dauerhafte Erfolg solcher Kompensationsmechanismen recht zweifelhaft ist, und auf der anderen aber die Tatsache der Zugehörigkeit zum Judentum mobilisierend wirkt. Im Jahre 1907 schreibt Freud rückblickend an Karl Abraham:
Den zweiten wichtigen Faktor sehe ich in der finanziellen Lage des jungen Freud. Bis heute ist nicht klar, wovon Freuds Vater Jakob eigentlich lebte, nachdem er Freiberg verlassen hatte und womit er seine Familie ernährte. Die ohnehin nicht besonders rosige finanzielle Situation während der Freiberger Zeit hat sich aber wohl in Leipzig und Wien kaum wesentlich verbessert. Jedenfalls hat Freud lange unter der angespannten wirtschaftlichen Lage seiner Familie gelitten.
Joseph Paneth schreibt im Jahre 1883 im Manuskript seiner Vita Nuova über Freud:
Ich komme nun zu einem dritten wichtigen Faktor für Freuds Entwicklung, den ich Frühe Identifikationen nennen und etwas mehr Aufmerksamkeit widmen möchte.
In Freuds Schriften und Briefen finden sich zahlreiche Äußerungen, in denen von seiner Identifikation mit dieser oder jener Person der Weltgeschichte, Weltliteratur oder der Mythologie die Rede ist. Es fallen u.a. die Namen von Herkules [18], Hannibal [19], Brutus [20], Cromwell [21], Paulus [22], Napoleon [23], Gulliver [24]; indirekte Hinweise gibt es z.B. für Freuds Identifikation mit Moses [25] und Goethe. [26] Für das Verständnis der Entwicklung von Freuds Ehrgeiz sind jedoch besonders die frühen Identifikationen während der Kindheit, der Gymnasialjahre und während der Studienzeit wichtig. Am häufigsten ist da wohl Freuds Identifizierung mit Hannibal behandelt worden. [27] Ich will hier deshalb nur kurz auf Hannibal eingehen, um mich dann weniger gut untersuchten Identifikationen zuzuwenden.
Freud schreibt im Zusammenhang mit der Analyse seiner Romsehnsucht [28] in der Traumdeutung:
Weniger Beachtung unter den Biographen hat Freuds Begeisterung für Oliver Cromwell gefunden. Bekannt ist, daß Freud seinen zweiten Sohn nach dem großen englischen Staatsmann genannt hat, doch welche Beweggründe hinter dieser Entscheidung gestanden haben, ist wenig untersucht.
Oliver Cromwell hatte auf Freud seit dessen Knabenjahren eine starke Anziehungskraft ausgeübt [32], und eine Reise nach England im Jahre 1875 hatte diese Anziehung noch verstärkt. In diesem Zusammenhang schreibt Freud an seine Verlobte:
Die frühen Identifikationen mit Hannibal und Cromwell, aber auch die späteren mit Herkules, Gulliver und Gargantua [36] offenbaren neben Freuds Rachegelüsten auch seine Größensehnsucht. [37] Allerdings ist für den Studenten Freud noch nicht völlig klar, in welcher Form sich diese Tendenzen befriedigen lassen. Die äußeren Formen seines Strebens werden allmählich abgesteckt erst durch die Identifikation mit einer weiteren klassischen Gestalt: Ödipus.
Wohl kein Schlagwort der Psychoanalyse ist so bekannt geworden wie der Begriff des Ödipuskomplexes. Freud hatte mit ihm die Beobachtung umschreiben wollen, daß ein Kind dem gleichgeschlechtlichen Elternteil gegenüber Haß, dem gegengeschlechtlichen gegenüber jedoch Inzestwünsche empfindet. Er nannte diesen Gefühlskomplex nach Ödipus, da in der Tragödie König Ödipus von Sophokles diese Eltern-Kind-Konstellation zum ersten Mal literarisch gestaltet wird: Ödipus erschlägt seinen Vater und heiratet sein Mutter.
Es hat bisher niemand daran gezweifelt, daß es eben das Verhältnis zu den Eltern war, daß Freud an der Gestalt des Ödipus interessiert hat. Allerdings gibt es Indizien dafür, daß für Freud noch andere Aspekte des Ödipusmythos wichtig waren, nicht nur Vaterhaß und Inzest mit der Mutter. Folgende Episode ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung:
»Der das berühmte Rätsel löste und ein gar mächtiger Mann war«
Bei der Überreichung der Medaille ereignete sich ein merkwürdiger Zwischenfall. Als Freud die Inschrift las, wurde er blaß, unruhig und fragte mit erstickter Stimme, wer diese Idee gehabt habe ... Nachdem ihm Federn gesagt hatte, er sei es gewesen, enthüllte er ihnen den Grund seines Verhaltens: Als junger Student sei er einmal um die großen Arkaden der Wiener Universität herumgegangen und habe die Büsten früherer berühmter Professoren betrachtet. Damals habe er sich in der Phantasie ausgemalt, daß dort seine künftige Büste stände, was an sich für einen ehrgeizigen Studenten noch nichts Besonderes gewesen wäre aber auch, daß darunter eben gerade diese Worte graviert seien, die er nun auf der Medaille vor sich sehe. [38]
So verbinden sich die frühen Identifikationen Freuds zu einer natürlichen Synthese, die alle seine Wunschvorstellungen umfassen: Freud-Hannibal rächt sich an denen, die ihn und seinen Vater erniedrigt haben, Freud-Cromwell schickt sich an, ein Weltreich aufzubauen und Freud-Ödipus findet den Weg, der zu diesem Ziel führt: Die Lösung wissenschaftlicher Rätsel.
Bisher haben wir nach der Genese von Freuds Ehrgeiz gefragt, nach den Triebkräften für sein seit der Studienzeit manifestes Streben nach Erfolg. Die wichtigsten Faktoren dafür fanden wir erstens in seiner jüdischen Herkunft, die leistungsmotivierend wirkte, zweitens in der schwierigen finanziellen Lage der Familie Freud während Sigmunds Kindheit und Jugend und seinem Wunsch, diese Misere zu überwinden, um eine Familie gründen zu können, und schließlich drittens in der Identifikation mit Personen, die es zu Macht und Ruhm gebracht haben; das Freud am nächsten
stehende Beispiel war wohl der Rätsellöser Ödipus.
Doch nun zu Freuds eigentlicher beruflicher Karriere. Das erste ernsthafte wissenschaftliche Problem, das Freud beschäftigte, war die Frage nach dem Dasein Gottes. Im ersten Sommersemester seines Studiums hatte Freud eine Vorlesung mit dem Titel »Allgemeine Zoologie in Verbindung mit einer kritischen Darstellung des Darwinismus für Hörer aller Fakultäten« [42] belegt. Vortragender war Carl Claus [43], einer der führenden Vertreter der Evolutionstheorie auf dem Kontinent. Freud schreibt sich in den folgenden 2 Jahren noch für weitere 6 Vorlesungen von Claus ein. [44] Leitendes Motiv war die Faszination, die Darwins Lehre auf Freud ausübte. In seiner Selbstdarstellung schreibt er später über seine wissenschaftlichen Interessen in den frühen 70er Jahren:
Schon 2 Wochen später teilt er Silberstein ein erstes Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit Brentanos Philosophie mit, nämlich daß Brentanos Gott lediglich ein »logisches Prinzip« sei und von ihm als solches akzeptiert werde könne. [57] Und am 11. April 1875 beschließt Freud eine neuerliche Erörterung des Problems der Existenz Gottes und der Position Brentanos in einem Brief an Silberstein mit der Bemerkung:
Freud beginnt nun im Institut für vergleichende Anatomie zu arbeiten und dessen Direktor Carl Claus erreichte, daß Freud das beantragte Stipendium von insgesamt 180 Gulden tatsächlich bekommt. Er nutzt es für zwei Forschungsaufenthalte an der im Herbst 1874 in Triest auf Initiative von Claus eröffneten k.k. Zoologischen Station. [63] Dort untersucht er von Ende März bis Ende April und vom 2. September bis zum 1. Oktober 1876 die Geschlechtsorgane des Aals. Er schreibt dazu sehr anschaulich und humorvoll an seinen Freund Eduard Silberstein:
Freud untersuchte ca. 400 Aale und faßte das Ergebnis in seiner ersten wissenschaftliche Veröffentlichung unter dem Titel Beobachtungen über Gestaltung und feineren Bau der als Hoden beschriebenen Lappenorgane des Aals zusammen:
nicht nur auf die Untersuchungen der Aale, sondern ließ sich außerdem noch täglich Haie und Rochen vom Fischmarkt kommen. [70] Da Freud während der Laichzeit der Aale (von Oktober bis Januar) nicht in Triest sein konnte, ließ Claus während dieser Monate Aale aus Triest anliefern, damit Freud seine Studien weiterführen konnte. Diese Hilfe und auch die anderweitige Unterstützung von Freuds Aal-Studien trugen Claus Freuds wärmsten Dank ein. [71]
Um so größer war Freuds Enttäuschung, als Carl Claus seine Arbeit der k.k Akademie der Wissenschaften zur Veröffentlichung vorschlug, ohne sie überhaupt gelesen zu haben. [72] Möglicherweise hatte Claus gehofft, daß Freud als sein Student das Problem der Aal-Fortpflanzung löst; nachdem Freud ihm aber wissenschaftlich sehr korrekt und vorsichtig nur ein Teilergebnis präsentierte, hat Claus wohl seine Enttäuschung nicht ganz verbergen können. Freud hat das sehr gekränkt und noch 60 Jahre später schreibt er über die Einstellung seines damaligen Mentors zu der Arbeit über die Aale:
In den folgenden Jahren konzentrierte sich Freud auf Arbeiten zum Bau des Nervensystems. Er war schon seit Oktober 1876 Famulus im Physiologischen Institut bei Ernst von Brücke. Brücke war nach Freuds eigenen Worten die größte Autorität, die je auf ihn gewirkt hat [74] Dank seiner Fürsprache erhielt Freud mindestens 3 Stipendien: Von der Bernhard Freiherr von Eskeles-Stiftung, von der Fanni Jeitteles-Stiftung und ein Demonstrator-Stipendien vom Professoren-Kollegium. [75] Zwischen 1877 und 1883 publizierte Freud lediglich 4 Arbeiten, alle zum Bau des Nervensystems. [76] Nebenbei beschäftigte er sich mit der Speichelsekretion bei Hunden [77] und mit chemischen Gasanalysen. [78] Seit dem 1. Mai 1881 ist Freud dann Demonstrator in Brückes Physiologischem Institut. Er bleibt dort ein reichliches Jahr und entschließt sich dann, von der Theorie zur Praxis überzuwechseln, d.h. das Brückesche Laboratorium mit dem Wiener Allgemeinen Krankenhaus zu vertauschen. Diese Entscheidung traf Freud auf Rat Brückes kurz nachdem er seine spätere Frau kennengelernt hatte. Für jemanden, der mittellos war und eine Familie gründen wollte, war eine theoretische Laufbahn nicht geeignet. Aussichten, seine materielle Lage entscheidend zu verbessern, hatte Freud nur, wenn er eine eigene Praxis aufmachen konnte. Eben um sich nun auf den Arztberuf vorzubereiten, trat er am 31. Juli 1882 als Secundarius aspirans in das Wiener Allgemeine Krankenhaus ein. Damit schien klar, daß für Freud eine theoretische Laufbahn nicht mehr in Frage kam.
Während der folgenden drei Jahre arbeitet Freud außer an der chirurgischen Abteilung von Leopold Dittels, an der I. medizinischen Klinik von Hermann Nothnagel, an der Psychiatrischen Klinik von Theodor Meynert, an der Abteilung für Syphilis von Hermann Zeissl, an der IV. medizinischen Abteilung von Franz Scholz, an der Abteilung für Augenkrankheiten von Ernst Fuchs und der Abteilung für Hautkrankheiten von Moriz Kaposi. Trotz des Rates von Brücke und eines Gespräches mit Hermann Nothnagel, der ihm sogar vom Publizieren abriet [79], wollte Freud die Wissenschaft jedoch keineswegs aufgeben, sondern, wie er an Martha schrieb, ausbeuten. Vielleicht eben deshalb begann er gleichzeitig mit der Aufnahme seiner Arbeit an Nothnagels Klinik, auch im hirnanatomischen Laboratorium Theodor Meynerts zu arbeiten. Und ein knappes Jahr später, im August 1883 entstand vor Freud eine neue Hoffnung, doch noch dank der Wissenschaft zu genügend Geld zu gelangen, um bald heiraten zu können. An seine Verlobte schrieb er:
Anfang Februar 1884 beendet Freud einen Artikel, in dem er seine Methode der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorstellt. [83] Ernst von Fleischl organisierte deren Veröffentlichung auch in der englischen Zeitschrift Brain [84] und der Russe Liweri Darkschewitsch versprach ihm, eine russische Version anzufertigen und für ihre Veröffentlichung zu sorgen. Der deutsche Artikel erregte besonders in Leipzig bei Paul Flechsig Aufsehen, der schon 1876 eine ähnliche Methode angegeben hatte [85], sie aber laut Freud nicht zu verwerten verstand. [86]
Auf dem Hintergrund von Freuds Enthusiasmus und der eben erwähnten Anerkennung von berufener Seite, gibt es bisher keine überzeugende Erklärung dafür, wieso Freuds Interesse an der Ausbeutung seiner Goldfärbemethode im Frühjahr 1884 abrupt abbricht. Möglicherweise spielte
ein Spaziergang mit Hermann Nothnagel eine entscheidende Rolle, auf dem der Hofrat dem Sekundararzt rundweg erklärte, daß ihm alle seine bisherigen Arbeiten überhaupt nichts nützen würden. [87] Obwohl Freud Martha einige Tage später bekannte, daß er das längst selbst wisse, ging er gleich nach dem Gespräch mit Nothnagel zu Josef Breuer, um »[s]ich von [s]einer Enttäuschung zu erholen.« [88] Nothnagel hatte Freud außerdem folgenden Ratschlag mit auf den Weg gegeben:
Freud ließ sich von der Firma Merck in Darmstadt Kokainproben schicken und begann sogleich mit Selbstversuchen. Die Ergebnisse schilderte er in einer Veröffentlichung im Zentralblatt für die gesamte Therapie und kommt zu folgenden Schlußfolgerungen:
Und tatsächlich: Der Einsatz von Kokain wurde bald zur Methode der Wahl bei Augenoperationen. Allerdings hatte die Sache für Freud einen Haken. Ein Freund Freuds, der Augenarzt Karl Koller hatte auch an den Versuchen teilgenommen, und da er schon lange davon träumte, schmerzfrei am Auge operieren zu können, ließ er seine Entdeckung auf der XVI. Versammlung der Ophtalmologen am 15. September in Heidelberg durch den Triester Arzt Josef Brettauer verlesen [95] und am 17. Oktober stellte er sie selbst der Gesellschaft der Ärzte in Wien vor. [96] Eine Woche später berichtet dann auch Edmund Jelinek vor dem gleichen Gremium über seine Kokain-Versuche. [97] Zu diesem Zeitpunkt, also Ende 1884, mochte Freud schon ahnen, daß in bezug auf das Kokain nicht er die Wissenschaft ausgebeutet, sondern sie ihn doppelt betrogen hatte: Einmal um die Entdeckung des Kokains als Lokalanästhetikum und zum anderen um dessen Einsatz zur Bekämpfung des Morphinismus. In einem privaten Gespräch mit dem italienischen Schriftsteller Giovanni Papini äußerte F. noch 50 Jahre später seinen aggressiven Ärger über die verpaßte Gelegenheit; er hätte zugelassen, daß andere ihm die mit der Entdeckung des Kokains als Anästhetikum verbundene Ehre und den erwarteten Gewinn gestohlen haben.» [98]
Ich könnte hier meine Bemerkungen abbrechen, denn Freuds weiterer wissenschaftlicher Weg ist recht gut untersucht. Ich möchte trotzdem noch auf einige wichtige Ereignisse eingehen, die für Freud entscheidend waren und ihm letztendlich das sichere Gefühl gaben, etwas entdeckt zu haben, das epochemachend war.
Von Paris nach kurzen Aufenthalten in Hamburg und Berlin nach Wien zurückgekehrt schreibt Freud einen Bericht über seinen Paris-Aufenhalt, in dem der weitaus größte Teil Fragen der Hysterie und des Hypnotismus gewidmet ist [106], am 11. und 27. Mai hält er Vorträge über Hypnotismus [107] und Anfang Juni spricht er vor der Gesellschaft der Ärzte über seine »Pariser Erlebnisse«. [108] Am Ostersonntag des Jahres 1886 eröffnet Freud dann eine Privatpraxis in der Wiener Rathausstraße und im September heiratete er in Hamburg Martha Bernays. In diesen Tagen in Hamburg kauft sich Freud ein Buch mit dem Titel Der Traum als Naturnotwendigkeit erklärt. [109] Es ist die erste Manifestation von Freuds wissenschaftlichem Interesse an Träumen. Anderthalb Jahre später geht er in seinem Artikel über »Hysterie« für Albert Villarets Handwörterbuch der gesamten Medizin erstmals in einer Publikation kurz auf den Traum ein. [110] Etwa zur gleichen Zeit übersetzt er Bernheims Die Suggestion und ihre Heilwirkung [111], in der sehr häufig von Träumen die Rede ist. In seinem Artikel über Psychische Behandlung von 1890 [112] erwähnt Freud das Phänomen des Träumens erneut. Doch die entscheidende Wende brachte der Herbst 1892. Ein Kollege hatte Freud eine Dame namens Ilona Weiß überwiesen. Freud stellte recht bald fest, daß ihre Symptome hysterischen Ursprungs waren und wollte nach einer Anfangsphase wie üblich die Hypnose einsetzen. Die Patientin erklärte jedoch triumphierend, daß sie nicht zu hypnotisieren sei, und Freud war gezwungen, auf die Hypnose zu verzichten. Als Ersatz führte er folgende Prozedur ein: Er drückte der Patientin seine Hand leicht auf Stirn und befahl ihr, alles zu sagen, was ihr einfiele. Freud nannte diese neue Technik »freie Assoziation« und ihr Ergebnis war dem der Hypnose mindestens gleichwertig, da sie ihn auf die zentrale Bedeutung der Träume für das Verständnis der menschlichen Psyche hinwies. Später schrieb Freud darüber lapidar in seiner Geschichte der psychoanalytischen Bewegung:
Hier enthüllte sich am 24. Juli 1895 dem Dr. Sigm. Freud das Geheimnis des Traumes.
Ein knappes Jahr später war sich Freud seiner Traumtheorie schon so sicher, daß er sie in einem Vortrag vor der Jugend der jüdisch-akademischen Lesehalle vorstellte [114], und am 16. Mai 1897 ist er endgültig davon überzeugt, daß er mit seiner Theorie des Traums seine endgültige wissenschaftliche Bestimmung gefunden hat. An Fließ schreibt er euphorisch:
Mit dieser Entscheidung tritt ein grundsätzlicher Wandel in Freuds Leben ein. Er ist nicht mehr der nach ungelösten wissenschaftlichen Problemen Suchende, sondern er hat sein Rätsel gefunden und es gelöst. Von nun an wird er nie mehr sein Grundthema wechseln, sondern nur noch Steine zu dem Gebäude zusammentragen, das wir heute als psychoanalytisches Theoriensystem kennen.
Freuds Gymnasial- und Studententräume, sein Ehrgeiz und seine Größensehnsucht haben sich erfüllt und im Jahre 1911 formuliert er in einer Denkschrift des »Vereins zur Unterstützung mittelloser israelitischer Studierender in Wien« einen Satz, der als Motto über seinem Leben stehen könnte:
Einst galt Askese ... als Mittel zur Macht; heute das Wissen.
Anmerkungen
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