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1. Reisedrang und Reiseangst

Eine "glühende Sehnsucht zu reisen und die Welt zu sehen" (Freud 1936, S. 288) beherrschte Freud seit seiner Gymnasialzeit und noch im Alter von 72 Jahren beginnt er einen Brief an Sándor Ferenczi mit den Worten: "Dem einstigen Reisegefährten, der sich jetzt auf eigene Faust die Erfüllung meiner nicht gesättigten Reisewünsche gestattet, will ich einen herzlichen Gruß aus neidvoller Teilnahme nicht versagen." (Freud 1960, S. 378). Freud hatte diesen seinen Reisedrang selbst analysiert und kommt in dem schon erwähnten Brief an Romain Rolland ("Eine Erinnerungsstörung auf der Akropolis") zu folgender Schlußfolgerung: "Ich habe . . . daran gezweifelt, daß ich Athen je werde sehen können. So weit zu reisen, es so weit zu bringen`, erschien mir außerhalb jeder Möglichkeit. Das hing mit der Enge und der Armseligkeit unserer Lebensverhältnisse in meiner Jugend zusammen. Die Sehnsucht zu reisen war gewiß auch ein Ausdruck des Wunsches, jenem Druck zu entkommen, verwandt dem Drang, der so viele halbwüchsige Kinder dazu antreibt, vom Hause durchzugehen. Es war mir längst klar geworden, daß ein großes Stück der Lust am Reisen in der Erfüllung dieser frühen Wünsche besteht, also in der Unzufriedenheit mit Haus und Familie wurzelt. Wenn man zuerst das Meer sieht, den Ozean überquert, Städte und Länder als Wirklichkeiten erlebt,
 
 

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die so lange ferne, unerreichbare Wunschdinge waren, so fühlt man sich wie ein Held, der unwahrscheinlich große Taten vollbracht hat." (Freud 1936, S. 292).

Reisen als Flucht, Wunscherfüllung und Heldentat; diese Interpretation paßt gut in das Bild, das Freud von sich und wir von ihm haben. Allerdings gibt es aus der Frühzeit der Psychoanalyse stammende Deutungen, die den Reisedrang in die Nähe psychopathologischer Phänomene rücken So sprach Dr. Alfred Freiherr von Winterstein am 6. März 1912 vor der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung "Zur Psychoanalyse des Reisens" (Nunberg/Federn 1981, S. 58ff.). Sein Vortrag wurde noch im gleichen Jahr in der Zeitschrift "Imago" veröffentlicht und zieht folgendes Fazit: "In der Mehrheit der von uns zur Analyse herangezogenen Fälle konnten wir den spontan und in scheinbar unerklärlicher Weise auftretenden Trieb zum Reisen .. auf seine psychosexuelle Wurzel zurückführen, mochte e sich nun um den Wunsch nach wie immer gearteter Befriedigung der Libido (Homosexualität!), um die Verwirklichung infantiler Phantasien und Regungen, um eine reale Darstellung der in den Pubertätsjahren zuerst in vorbildlicher Weise versuchten und mißglückten inneren Ablösung von den Eltern (große Bedeutung des Inzestkomplexes) oder um direkt als sexualsymbolisch aufzufassende Todeswünsche (gemeinsame Reise - gemeinsames Sterben - coitus) handeln. In den restlichen Fällen wurde Kriminalität und Todeswunsch als treibender Faktor nachgewiesen. Freilich, wie innig die Beziehungen zwischen Kriminellem, Sexuellem und dem Tod sind, vermögen wir zwar zu ahnen, doch nicht befriedigend klarzustellen." (Winterstein 1912, S. 505).

In der an Wintersteins Vortrag anschließenden Diskussion standen sexuelle Deutung der Reiselust und Flucht
 
 

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vor den Eltern bzw. dem eigenen Ich im Vordergrund. So wies Theodor Reik z.B. darauf hin, daß die Paternianer (eine Sekte des 11. Jahrhunderts) den Unterleib sowohl als Sitz der Sexual-, als auch der Reiselust betrachteten. Sabina Spielrein nannte "zwei Wurzeln des Reisens: 1. die Sucht der Ablösung, 2. die Sucht, etwas Neues zu finden,, worunter sich immer der Inzest verbirgt" (Nunberg/Federn 1981, S. 60). Rosenstein wies darauf hin, daß der Wandertrieb beim Tier den Zweck hat, die Befruchtungsmöglichkeiten zu erweitern. Freud ging in seinem Diskussionsbeitrag an diesem  Abend nur nebenbei auf die sexuellen Aspekte des Reisens ein; interessant ist seine Interpretation, daß bestimmte Personen "ihre Komplexe auf andere Gebiete überschreiben und ihre Affekte z.B. auf Orte übertragen, wie das Kurpublikum. Die Übertragung auf die Lokomotion spielt dann in der Agoraphobie die Hauptrolle, wo die sexuelle Einschränkung durch räumliche Gebundenheit dargestellt wird. " (ebenda, S. 61 f.) Erwähnt sei noch, daß Victor Tausk eine Interpretation des Reisedrangs gab, die Freud dann 1936 in seinem Brief an Romain Rolland für sich . in Anspruch nahm. Tausk teilte "zwei Reisetypen aus Analysen mit, von denen dem einen Fall ein Fliehen vor der entscheidenden Auseinandersetzung mit dem Vater, dem andern die Sucht, die armseligen Verhältnisse des Elternhauses zu überwinden, zugrunde lag." (ebenda, S. 60).

Bemerkenswert ist, daß Freuds Abwehr gegen eine sexuelle Deutung des Reisedrangs so stark ist, daß er auch eigene Erlebnisse nicht in diesen Kontext einordnen kann. So schildert er in seiner Schrift "Das Unheimliche", wie er in einer italienischen Kleinstadt immer wieder in das Prostituiertenviertel geriet: "Es waren nur geschminkte Frauen an den Fenstern der kleinen Häuser zu sehen, und ich
 
 

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beeilte mich, die enge Straße durch die nächste Einbiegung zu verlassen. Aber nachdem ich eine Weile führerlos herumgewandert war fand ich mich plötzlich in. derselben Straße wieder, in der ich nun Aufsehen zu erregen begann, und meine eilige Entfernung hatte nur die Folge, daß ich auf einem neuen Umwege zum drittenmal dahingeriet." ` Freud 1919, S. 260). Man kann das mit Freud natürlich unter unheimlich" und "unbeabsichtigte Wiederkehr" abbuchen, doch sind auch tiefergehende Deutungen vorstellbar; so darf man sich fragen, ob Freuds Abwehrmechanismen gegen sexuelle Wünsche auf Reisen vielleicht schlechter funktionierten als in Wien. Das von Freud geschilderte Erlebnis in der italienischen Kleinstadt ist die Umkehrung seiner Agoraphobietheorie: Die Aufhebung der räumlichen Gebundenheit führt auch zur Aufhebung der sexuellen Einschränkung. Bei Freud bezog sich die räumliche Gebundenheit auf Wien. Deshalb ist sein Verhältnis zu dieser Stadt nicht ganz ohne Bedeutung für das Verständnis seines Reisedrangs.

Freud lebte fast 80 Jahre (von 1860 bis 1938) in Wien, davon 47 Jahre in der Berggasse 19 im IX. Stadtbezirk. Seine Äußerungen über die Hauptstadt der Donaumonarchie scheinen eindeutig. Als sechzehnjähriger schrieb Freud an Emil Fluß: "Ich .. will Sie mit der Erwähnung des Eindrucks verschonen, den Wien auf mich machte. Es war mir ekelhaft." (Freud 1925, S. 109). Und 26 Jahre später bekommt Wilhelm Fließ ähnliche Klagen zu hören: "... Du weißt doch nicht, wie ekelhaft mir die Stadt Wien ist." (Freud 1986, S. 344) Oder von der Adria zurückgekehrt schreibt er: "... ich bin aber kaum drei Tage hier, und schon hat mich der ganze Mißmut des Wienertums ergriffen. Es ist ein Elend, hier zu leben ... " (ebenda, S. 357). Und eine Woche später liest man: "... diese Stadt macht
 
 

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die Seele wund und legt wieder alles bloß, was sich in zwei Monaten zu überhäuten begann." (ebenda, S. 359). Die Schwierigkeiten und Probleme, die Freud bei der Durchsetzung der Psychoanalyse in Wien hatte, trugen dann auch nicht gerade dazu bei, seine Einstellung zu ändern. In der "Geschichte der psychoanalytischen Bewegung" " schreibt er dann dementsprechend: "Die Stadt Wien hat aber auch alles dazugetan, um ihren Anteil an der Entstehung der Psychoanalyse zu verleugnen. An keinem anderen Orte ist die feindselige Indifferenz der gelehrten und gebildeten Kreise dem Analytiker so deutlich verspürbar wie gerade in Wien." (Freud 1914, S. 175f.)

Doch trotz alledem scheint Freud auch positive Bindungen an Wien gehabt zu haben. So schreibt er am Tage seiner Ankunft in der Londoner Emigration, nachdem er also Wien für immer verlassen hatte, folgende Zeilen: "Das Triumphgefühl der Befreiung vermengt sich zu stark mit der Trauer, denn man hat das Gefängnis, aus dem man entlassen wurde, immer noch sehr geliebt. (Freud 1960, S. 439). Es ist die hier zum Ausdruck kommende Ambivalenz, die Freud auf der einen Seite fast jeden Sommer dazu trieb, Wien für ein paar Monate zu verlassen, auf der anderen Seite aber jede Entscheidung zwischen Wien und einer anderen Stadt als ständigen Wohnsitz zugunsten Wiens ausgehen ließ. Freud spielte ja schon seit seiner Jugend mit dem Gedanken, Österreich-Ungarn für immer zu verlassen und sich im Ausland niederzulassen. Besonders England übte eine starke Anziehungskraft auf ihn aus. Schon 1882 schrieb er an seine Verlobte Martha Bernays: "Ich lechze nach etwas Unabhängigkeit, meinen Neigungen zu leben. England taucht immer wieder vor mir auf, . . alle die unvertilgbaren Eindrücke, die in der für mein ganzes Leben maßgebenden Reise vor 7 Jahren auf mich
 
 

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gewirkt haben, sind zu voller Lebhaftigkeit erwacht Müssen wir hier bleiben, Marthchen? Wenn wir irgend können, suchen wir uns ein Heim, wo Menschenwürde höher geachtet wird. Ein Grab auf dem Centralfriedhof ist mir das Bängste, an das ich denken kann. " (zitiert nach Jones 1984, Bd. l, S. 215).5

Freuds ambivalente Einstellung zu seinem "geliebten Gefängnis" Wien findet eine Parallele in seiner ambivalenten Einstellung zum Reisen. Lange Zeit war sein Reisedrang begleitet von einer Reiseangst. Hinsichtlich der Ursachen dieser Reiseangst gibt es verschiedene Interpretationen. Freud selbst schreibt im November 1897 aus Anlaß eines bevorstehenden "Kongresses" mit Fließ in Breslau: "Breslau spielt auch eine Rolle in meinen Kindheitserinnerungen. Im Alter von drei Jahren habe ich dort den Bahnhof passiert auf der Übersiedlung von Freiberg nach Leipzig, und die Gasflammen, die ich
zum ersten Mal sah, haben mich an brennende Geister in der Hölle gemahnt. Ich weiß ein wenig den Zusammenhang. Meine überwundene Reiseangst hängt auch daran." (Freud 1986, S. 310). Zwei Jahre später erwähnt Freud einen Patienten, der ihm nachträglich bei der Aufklärung seiner Reiseangst geholfen hatte: "Er hat mir die Realität meiner Lehren am eigenen Leibe gezeigt, indem er mir mit einer überraschenden Wendung die von mir übersehene Lösung meiner einstigen Eisenbahnphobie gegeben . . Meine Phobie also war eine Verarmungsphantasie, oder, besser eine Hungerphobie, von meiner
infantilen Gefräßigkeit abhängig und durch die Mitgiftlosigkeit meiner Frau (auf die ich so stolz bin) hervorgerufen." (ebenda, S. 430). Ernest Jones ist der Meinung, daß Freuds Reiseangst seit 1887 bestand und er sich durch seine Selbstanalyse von ihr befreite. Das Ergebnis der Selbstanalyse in bezug auf die Reiseangst faßt Jones so
 
 

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zusammen: Es stellte sich heraus, daß sie mit der Furcht vor dem Verlust der Heimat (letztlich der Mutterbrust) und mit einer panischen Angst vor dem Verhungern, die ` eine Reaktion auf irgendeine Gier gewesen sein muß, zusammenhing." (Jones 1984, Bd. 1, S. 31). Max Schur, seit 1928 persönlicher Arzt und einer der Freud am nächsten :: stehenden Personen glaubt, daß dieser seine Reiseangst im ' Zusammenhang mit der Reise von Leipzig nach Wien im : Jahre 1860 sah, "auf welcher ein gemeinsames Übernachten und Gelegenheit sie (Freuds Mutter, G. T.) nudam zu sehen, vorgefallen sein muß ..." (Freud 1986, S. 288; vgl. Schur 1982, S. 149). Tatsächlich erwähnt Freud im gleichen Brief auch seine Reiseangst, doch welche Verbindung er zwischen ihr und dem Vorfall, bei dem er seine Mutter nackt sah, herstellen wollte, bleibt unklar.

An allen diesen Interpretationen mag etwas dran sein. Sie vernachlässigen aber weitgehend die Tatsache, daß Freuds Reiseangst sich vornehmlich in einer Angst vor Eisenbahnfahrten äußerte. Und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Gefährlichkeit des Eisenbahnreisens ausführlich diskutiert. Publikationen mit Titeln wie genannten "railway spine" und auch zu traumatischen Neurosen führe und nicht zuletzt die Nachrichten über Eisenbahnunfälle führten bei vielen Leuten zu skeptischen Vorbehalten (vgl. dazu z.B. Schivelbusch 1979). Offensichtlich war auch Freud von einer gewissen Angst nicht ' verschont geblieben. Vor seinem Sommerurlaub 1897 schrieb er z.B. an Wilhelm Fließ: "Martha freut sich sehr auf die Reise, obwohl die täglich berichteten Eisenbahnunfälle einem Familienvater- und -mutterpaar nicht gerade
 
 

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viel Lust dazu machen können. Aus der Furcht vor dem nächsten Eisenbahnunfall hat mich vor einer halben Stunde die Erwägung gerissen: Wilhelm und Ida (Frau von Fließ, C. T.) sind ja auch unterwegs." (Freud 1986, S. 282). Dreieinhalb Monate nach diesen Zeilen teilt Freud Fließ mit, daß er seine Reiseangst überwunden habe (ebenda, S. 310). Dieser Zeitpunkt fällt in etwa mit dem Beginn der Selbstanalyse zusammen und spricht also für Jones' These und Freuds eigene Andeutungen, daß er sich eben durch die Selbstanalyse von der Reiseangst habe befreien können. Allerdings gibt es zusätzliche Umstände, die zur Überwindung von Freuds Angst vor Eisenbahnfahrten möglicherweise beigetragen haben, auch ohne daß sich Freud dessen bewußt gewesen wäre. In das Jahr 1897 fällt nämlich die intensive Beschäftigung von Freuds Bruder und ständigem Reisegefährten Alexander mit dem Eisenbahnwesen in Österreich-Ungarn. Er erstellte ein "Eisenbahn-Stationsverzeichnis zu Artaria's Eisenbahn- und Post-Gommunications-Karte von Österreich-Ungarn" (A. Freud 1897), das sämtliche für den Personen- und Güterverkehr eröffneten Stationen in der Donaumonarchie enthielt und Angaben zu ihrer politischen Lage und der übergeordneten Eisenbahnverwaltung machte. Nur ein "Insider" war in der Lage, ein solches erschöpfendes Verzeichnis zusammenzustellen und es darf angenommen werden, daß Alexander in der Auseinandersetzung um die Schädlichkeit und Gefährlichkeit des Eisenbahnfahrens eine sachliche Position bezog. Und da ihm Freuds Angst vor Eisenbahnfahrten unter keinen Umständen entgangen sein dürfte, wird er wohl versucht haben, zu ihrem Abbau beizutragen. Das ging jedoch offenbar recht langsam vor sich, denn noch im September 1899 schreibt Freud von "sehr mangelhaften und nicht unbedenklichem Bahnverkehr" (Freud 1986, S. 408).
 
 

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Wie dem auch sei, Freuds Reiseangst hat ihn nie wirklich an der Durchführung einer geplanten Reise gehindert. Es ist eine andere Frage, warum er bestimmte Wünsche, z.B. den Besuch Roms, so lange nicht hat realisieren können. Doch dazu später.
 

Anmerkungen

5 Nach seinen ersten Aufenthalten in Rom dachte Freud auch an die Möglichkeit, sich in der Ewigen Stadt niederzulassen (vgl. Jones 1984, Bd. 2, S. 30). Aber es blieb nur eine Überlegung. Und noch vor seiner Heirat schrieb er an Martha: "Geht es hier (in Wien, C. T.) wie wahrscheinlich nicht rasch genug - der junge Arzt bedarf ein Kapital, das mir abgeht - so will ich nach England, vielleicht nach Amerika oder Australien hinüber." (Jones 1984, Bd. l, S. 215f.)
 
 

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