3. Goethe
In der Einleitung zur Erstausgabe des Briefwechsels zwischen Freud und Fließ schreibt Ernst Kris, daß die ersten von Freud erworbenen Antiquitäten "Ersatz für die lange verschobene, in Goethescher Stimmung ersehnte Italienreise" (Kris 1950, S. 526) gewesen seien. Kris war nicht der einzige, der Goethe und Freud in Zusammenhang brachte. Besonders Sándor Ferenczi war der Meinung, " daß Freud eine starke Ähnlichkeit mit Goethe habe, und führte dafür eine Anzahl gemeinsamer Züge an, wie ihre Liebe für Italien." (vgl. Jones 1984, Bd. 2, S. 220). Freud stand diesem Vergleich äußerst zurückhaltend gegenüber, d.h. er stritt jede Ähnlichkeit mit Goethe ab.9 Daraus darf jedoch nicht abgeleitet werden, daß Goethe auch keinerlei Einfluß auf Freud gehabt hätte. Man denke nur an das Goethe zugeschriebene Fragment "Die Natur`, das für Freuds Berufswahl entscheidend war (Freud 1925a, S. 41) oder an die Schriften Freuds, die sich mit Goethe beschäftigen (Freud 1917, 1930). Und sicher gibt es keinen Autor, der von Freud so oft zitiert wird wie Goethe.10
Allerdings war es für einen deutschsprachigen Intellektuellen in
der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wohl nichts
Außergewöhnliches, Goethe zu bewundern und ihn in gewisser Hinsicht
auch nachzuahmen.11 Die Tatsache aber
daß Goethe für viele Vorbild
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oder Idol war, vermindert seinen Einfluß auf den Einzelnen nicht. Es ist auch noch kein Argument gegen die These von Goethes Einfluß auf Freud, wenn Jones Ferenczi entgegenhält, daß die Liebe zu Italien "nördlich der Alpen etwas Allgemeines ist." (Jones 1984, Bd. 2, S. 220). Doch hier soll nicht generell Goethes Einfluß auf Freud diskutiert werden, sondern lediglich die Aspekte, die Freuds Reisen betreffen.
Laut Ernest Jones war Freud "mit Goethes Werken von seiner Kindheit
her gut vertraut" (Jones 1984, Bd. 2, S. 441). Für diese Behauptung
sprechen die zahlreichen Goethe-Zitate in Freuds Schriften und Briefen
sowie die Tatsache, daß Freud sowohl die Cottasche Ausgabe von "Goethes
sämtlichen Werken" aus dem Jahre 1860, als auch die große 1887
begonnene Sophienausgabe besaß. Freud kannte also selbstverständlich
die "Italienische Reise, die venezianischen, Epigramme und auch die "Römischen
Elegien", aus denen er z.B. im Brief an Fließ vom 20. August 1893
zitiert (Freud 1986, S. 48). Es wird nun niemanden überraschen, daß
Freud auf Goethes Spuren reiste; erstens ist ja Goethes Reiseroute weitgehend
von den gleichen Sehenswürdigkeiten bestimmt gewesen, die später
Freud hat besuchen wollen, und zweitens gilt es ja bis heute als Zeichen
humanistischer Bildung, sich vor einer Italienreise mit Goethes Schilderungen
bekannt zu machen.12 Im Falle Freuds
jedoch scheint Goethes Einfluß etwas über das übliche Maß
hinausgegangen zu sein. Es war nicht nur so, daß Goethe und Freud
die Liebe zu Italien gemeinsam hatten, wie Ferenczi meinte, sondern Freuds
Italiensehnsucht ist in starkem Maße auch durch Goethe stimuliert
worden. Eine wichtige Rolle in dieser Hinsicht spielt Victor Hehn, dessen
Buch "Italien" (Hehn 1867) Freud im August/September 1896 mit Entzücken
gelesen hatte
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(Freud 1986, S. 210). Im nächsten Jahre kaufte Freud sich dann
die "Gedanken über Goethe" vom gleichen Autor (Hehn 1895). In diesem
Buch sind reichlich fünf Seiten Goethes Verhältnis zu Italien
und seiner Sehnsucht nach dem Süden gewidmet. Das war für Freud
wohl auch der Anlaß, manche von Hehn zitierte Stelle bei Goethe noch
einmal nachzulesen. Jedenfalls finden sich in Freuds Briefen aus dieser
Zeit Formulierungen, die den Goetheschen sehr ähnlich klingen. Von
der 1898er Sommerreise aus Italien zurückgekehrt schreibt Freud z.B.:
".. ich bin aber kaum drei Tage hier und schon hat mich der ganze Mißmut
des Wienertums ergriffen. Es ist ein Elend, hier zu leben, und keine Atmosphäre,
in der Hoffnung, etwas Schweres zu Ende zu bringen, sich erhalten kann."
(Freud 1986, S. 357). Bei Goethe klingt die Enttäuschung nach der
Rückkehr so: Aus Italien dem formreichen, war ich in das gestaltlose
Deutschland zurückgewiesen, heiteren Himmel mit einem düsteren
vertauscht; die Freunde, statt mich zu trösten und wieder an sich
zu ziehen, brachten mich zur Verzweiflung." (Goethe 1974, Bd. 12, S. 212f.).
Zwei Tage nach der Rückkehr von seiner ersten Romreise formuliert
Freud in einem Brief an Fließ folgende Sätze: "Nun sollte ich
Dir über Rom schreiben; es ist schwer. Es war auch für mich überwältigend
und die Erfüllung eines, wie Du weißt, lange gehegten Wunsches.
Wie solche Erwartungen sind, etwas verkümmert, wenn man zu lange auf
sie gewartet hat, aber doch: ein Höhepunkt des Lebens." (Freud 1986,
S. 493). Goethe hatte über seinen ersten Romaufenthalt in der "Italienischen
Reise" Folgendes geschrieben: "Die Begierde, nach Rom zu kommen, war so
groß, wuchs so sehr mit jedem Augenblicke, daß keines Bleibens
mehr war und ich mich nur drei Stunden
in Florenz aufhielt. Nun bin ich hier und ruhig und, wie es
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scheint, auf mein ganzes Leben beruhigt. " (Goethe 1974, Bd. 10, S. 130).
Ich werde später auf Freuds Italien- und Romsehnsucht noch näher
eingehen; hier sollte lediglich angedeutet werden, daß Goethe in
diesem Zusammenhang eine nicht ganz unwesentliche Rolle gespielt hat. Man
kann wohl auch die Hypothese wagen, daß Freud sich zumindest während
seiner Italienreisen mit Goethe identifizierte. Im dritten Teil dieses
Buches wird davon noch die Rede sein.
Anmerkungen
9 Freud schrieb an Ferenczi: "Ich glaube
wirklich, das ist zuviel Ehre, so darf ich mich kaum darüber freuen
könnte. Ich kenne an mir keine Ähnlichkeit mit dem von Ihnen
zitierten großen Herrn, und zwar nicht infolge von Bescheidenheit;
ich wäre Wahrheitsfreund oder sagen wir lieber-: Sachlichkeitstfreund
genug, um mich über diese Tugend hinwegzusetzen. Ein Stück Ihres
Eindrucks erkläre ich mir aus der notwendigen Gleichartigkeit des
Eindrucks, wenn jemand zum Beispiel zwei Malern zuschauen würde, wie
sie Pinsel und Palette handhaben. Über die Gleichwertigkeit der Bilder
wäre damit nichts ausgesagt. Ein anderes Stück ist wohl durch
Angleichung entstanden, persönlicher und aktueller Empfindung entstammt.
Lassen Sie mich gestehen, daß ich an mir nur eine Eigenschaft vom
ersten Range gefunden habe, eine Art von Courage, die von Konventionen
unbeirrt ist. Übrigens gehören Sie selbst zu den Produktiven
und müßten auch an sich den Mechanismus der Produktion beobachtet
haben. Die Aufeinanderfolge von kühnspielender Phantasie und rücksichtsloser
Realkritik." (Jones 1984, Bd. 2, S. 220).
10 Allein im Briefwechsel mit Fließ
wird Goethe von Freud über zwanzig Mal zitiert.
11 Hanns Sachs schreibt in diesem
Zusammenhang: "Für alle jene, die im neunzehnten Jahrhundert im deutschen
Kulturkreis geboren und erzogen wurden, gab es ein unerschöpfliches,
unversiegbares Gesprächsthema: Goethe. Sein Leben und seine Werke
spielten daher keine geringe Rolle in unseren Unterhaltungen." (Sachs 1982,
S. 96).
12 Der Baedeker "Italien" mit der
Laufzeit 1985-1987 druckt gleich auf den ersten Seiten eine Italienkarte
mit der Route von Goethes Reise ab.}