2. Reisegewohnheiten
Über Einzelheiten und Begleitumstände von Freuds Reisen geben
verschiedene Quellen Auskunft. Am ausführlichsten informiert Ernest
Jones. Allerdings sind seine Angaben oft mit Vorsicht zu genießen.
So schreibt er z.B.: "Freud reiste zweifellos auf recht bescheidene Weise.
Er begnügte sich im wesentlichen mit einfachen Gasthöfen und
Postkutschen." (Jones 1984, Bd. i, S. 392). Doch viele der Hotels, in denen
Freud übernachtete waren alles andere als einfache Gasthöfe,
sondern gute bis erstklassige Häuser, z.T. sogar Grand- und Luxushotels
("Eden" in Rom, "Bristol-Britannia" in Venedig, "Continental des Etrangers"
in Genua, "Hotel des Alpes in San Martino di Castrozza u.a.).14
Und mit der Postkutsche ist Freud nur äußerst selten gefahren;
außerdem war sie nicht billiger als der Personenzug dritter Klasse.
Freud hatte es seit etwa 1897 auch gar nicht mehr nötig, auf Reisen
besonders sparsam zu sein. Ende des 19. Jahrhunderts waren auf einer Italienreise
"15-25 Lire pro Tag ausreichend, bei längerem Aufenthalt an demselben
Ort 10-12 Lire." (Baedeker 1895, S. X). Laut Jones war Freuds Praxis in
den neunziger Jahren großen Schwankungen unterworfen, doch verdiente
er Ende 1896 täglich etwa 100 Gulden (Jones 1984, Bd. 1, S. 392) und
das entsprach reichlich 200 Lira! Freud konnte also mit einem Tagesverdienst
eine fast zweiwöchige Italienrei-
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se finanzieren.15 Auch wenn man in Rechnung stellt, daß er viel rauchte (eine "Havanna" kostete zwischen 25 und 60, eine "Virginia" zwischen 8 und 18 Centesimi) und täglich 1-2 Lire für Briefe, Postkarten oder Telegramme ausgab, dürfte Freud seit Ende der neunziger Jahre kaum mehr aus finanziellen Gründen unterwegs besonders spartanisch gelebt oder gar auf eine Urlaubsreise verzichtet haben. Wie Freuds Bemerkungen in einigen Briefen an Fließ, daß er sich aus finanziellen Gründen keinen Urlaub leisten könne, zu deuten sind, ist nicht ganz klar. Am 3. April 1898 schreibt er z.B. an Fließ: "Sehr gern möchte ich heuer wieder in unser schönes Italien, aber der Erwerb war schlecht. Ich muß sparen." (Freud 1986, S. 336). Ein paar Tage später jedoch fährt er mit Alexander nach Aquileja und Grado und im Sommer unternimmt er zwei große Reisen: Eine mit Minna in die Schweiz und nach Oberitalien und eine mit Martha nach Dalmatien und Oberitalien.
Was die Reisen selbst betrifft, so ist ihr Ablauf schon angedeutet worden. Im August/September, wenn Freuds Familie in einem Standquartier Urlaub machte, trennte sich Freud für bis zu vier Wochen von ihr und fuhr mit einem Reisegefährten in den Süden. Er legte ein atemberaubendes Tempo an den Tag und seine Schwägerin Minna behauptete, es sei Freuds Ideal gewesen, auf Reisen jede Nacht an einem anderen Ort zu schlafen (,Jones 1984, Bd. 1, S. 387). Auch Hanns Sachs schreibt, daß "die Begleiter auf seinen Reisen . . klagten, daß er sie übermüde." (Sachs 1982, S. 99f.).
Über die "Reisegeschwindigkeit" Freuds schreibt Jones jedoch ergänzend:
"Es stimmt, daß er ein schnelles Tempo hatte und ungewöhnlich
ausdauernd war; aber es war keine Hast dabei, kein Hetzen von einem Eindruck
zum andern. Er konnte im Gegenteil Stunden und Stunden in ei-
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nem Museum oder an einem anderen interessanten Ort verbringen und sich mit dem, was er gerade prüfte, in allen Einzelheiten befassen." (Jones 1984, Bd. 2, S. 463). Es sei dahingestellt, ob Freuds Begleiter das von ihm angeschlagene Tempo für angemessen hielten. Tatsache jedoch ist, daß Freud außerordentlich aufnahmefähig war, ungewöhnlich viele Details von seinen Reisen in Erinnerung behielt und sie später hier und da in seinen Werken verwendete. Dabei hat ihm sicher auch das von ihm geführte, leider aber bisher nicht aufgefundene Reisetagebuch geholfen (vgl. Freud 1900, S. 181). Für Freud selbst war wohl wichtig, daß sich der äußere Ablauf der Reisen von dem Leben in Wien deutlich abhob: Schneller Ortswechsel im Gegensatz zur Unverrückbarkeit der Wiener Verhältnisse und ein Tagesablauf ohne Familie und festgelegtes Ritual. Im März 1900, nach 14-jähriger Ehe und Berufspraxis schrieb er an Fließ über die Planung eines Osterausflugs mit Alexander: "Heute in drei Wochen, wenn nichts dazwischenkommt, wollen wir abdampfen, vier Tage lang leben wie Studenten und Touristen, wie wir es immer tun." (Freud 1986, S. 446).
Auch
wenn Freuds Reisen eine Art Flucht darstellten, so doch in keinem Fall
eine Flucht vor seiner Innenwelt, im Gegenteil: Er holte sich auf Reisen
immer Anregungen für seine Theorien und einige seiner Arbeiten oder
Teile davon sind unterwegs konzipiert worden. So ist Freuds berühmt
gewordene Fehlleistung des Vergessens des Namens von Signorelli gleich
mit zwei seiner Reisen verknüpft: Die Fresken dieses großen
Malers im Dom von Orvieto (Abb. 3: Dom zu Orvieto) sah er zum ersten
Mal im September 1897 auf seiner zweiten größeren Italienreise,
und die Erinnerungsstörung ereignete sich ein Jahr später auf
einer Wagenfahrt von Ragusa (heute Dubrovnik, Abb. 4: Pier in Ragusa
um die Jahrhundertwende (S. 53) in die Herzegowina.
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Ausführlich behandelt Freud dieses Beispiel von Namensvergessen in der Abhandlung "Zum psychischen Mechanismus der Vergeßlichkeit" (Freud 1898) und in "Zur Psychopathologie des Alltagslebens" (Freud 1901). In letztgenannter Schrift findet sich ein weiteres Beispiel von Vergessen, diesmal von einem geographischen Namen. Es handelt sich um die sizilianische Stadt Castelvetrano. Freud spricht in diesem Beispiel lediglich von zwei Männern, "ein älterer und ein jüngerer, die vor sechs Monaten gemeinsam in Sizilien gereist sind." (Freud 1901, S. 35). Es ist aber unzweifelhaft, daß es sich dabei um ihn selbst und Sándor Ferenczi handelt, die im September 1910 gemeinsam in Sizilien waren.
In der "Traumdeutung teilt Freud u.a. eine Reihe von Romträumen
mit, "denen die Sehnsucht, nach Rom zu kommen, zugrunde liegt." (Freud
1900, S. 205). In diesem Zusammenhang analysiert er dann die Ursache für
diese Sehnsucht und die Gründe, wieso er bei seinen ersten Italienreisen
zwischen 1895 und 1900 nie weit über den Trasimener See hinausgekommen
ist. Freud sieht sie in seiner Identifizierung mit Hannibal, dem "Lieblingshelden
seiner Gymnasialjahre, dem es nicht beschieden war, Rom einzunehmen und
schreibt dann weiter: "Hannibal und Rom symbolisierten dem Jüngling
den Gegensatz zwischen der Zähigkeit des Judentums und der Organisation
der katholischen Kirche. Die Bedeutung, welche die antisemitische Bewegung
seither für unser Gemütsleben gewonnen hat, verhalf dann den
Gedanken und Empfindungen jener früheren Zeit zur Fixierung. So ist
der Wunsch, nach Rom zu kommen, für das Traumleben zum Deckmantel
und Symbol für mehrere andere heiß ersehnte Wünsche geworden,
an deren Verwirklichung man mit der Ausdauer und Ausschließlichkeit
des Puniers arbeiten möchte und deren
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Erfüllung zeitweilig vom Schicksal ebensowenig begünstigt
scheint wie der Lebenswunsch Hannibals, in Rom einzuziehen." (Freud 1900,
S. 207f.). Doch Freud machte bei dieser Interpretation nicht halt. Er ging
noch weiter und bezog auch das Verhältnis zu seinem Vater in den Problemkomplex
mit ein: Als Freud als etwa zehnjähriger Bube von seinem Vater erfährt,
wie dieser als junger Mann von einem Christen erniedrigt worden war und
sich nicht zur Wehr gesetzt hatte, stellte er dieser Situation "eine andere
gegenüber, die meinen Empfindungen besser entsprach, die Szene, in
welcher Hannibals Vater, Hamilkar Barkas, seinen Knaben vor dem Hausaltar
schwören läßt, an den Römern Rache zu nehmen. Seitdem
hatte Hannibal einen Platz in meinen Phantasien." (Freud 1900, S. 208).
Hannibal war es nicht gegeben, seinen Schwur zu erfüllen. Freud jedoch
kam nach seinem "breakthrough" im Jahre 1901 noch sechsmal nach Rom.
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Im Zusammenhang mit der Analyse des Traums vom Schloß am Meer erfahren wir Einzelheiten von drei Reisen Freuds: 1. einem Besuch im Schloß Miramare 1894 oder 1895; 2. dem Aufenthalt in Venedig im September 1897; 3. dem Osterausflug 1898 nach Aquileja und Grado. Obwohl dieser Traum im Kapitel über Affekte abgehandelt wird, stellt er auch ein sehr schönes Beispiel für den Mechanismus der Verdichtung dar: Schloß Miramare (Abb. 5: Schloß Miramare), die Riva degli Schiavoni in Venedig (Abb. 6: Die Riva degli Schiavoni vom Obergeschoß der Casa Kirsch) und der Kanal von Aquileja (Abb. 7: Kanal von Aquileja) verschmelzen zu einem einzigen Traumbild.
Doch in der "Traumdeutung" erfahren wir auch Einzelheiten von Freuds Reisen, die nicht unbedingt von theoretischer Bedeutung sind; so z. B. daß Freuds Frau bei einem Händler in Spalato (heute Split) "reichlich türkische Stoffe eingekauft hat" (Freud 1900, S. 217), daß er in Siena die Porta Romana (Abb. 8: Porta Romana in Siena) besucht hat und ihm das Gebäude des "Manicomio, der Irrenanstalt, aufgefallen war. Außerdem hat er den Fall "Schreber" mit Ferenczi während seiner Sizilienreise im Jahre 1910 diskutiert. Ergebnis waren dann die "Psychoanalytischen Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)" (Freud 1911).16
Die Arbeit " Der Moses des Michelangelo" (Freud 1914a) beschäftigte
ihn spätestens seit seinem Romaufenthalt im September 1912 und die
Vorarbeiten zu seiner Studie "Zur Einführung in den Narzißmus"
(Freud 1914b) schloß er im September 1913 in Rom ab.
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Freuds Reisen hatten natürlich auch eine kulinarische Seite. Besonders
durch seine Italienaufenthalte wurde Freud zu einem Weinspezialisten: Den
Südtiroler "Vino santo" nannte er "köstlich" (Freud 1986, S.
465), den Wein von Tivoli dagegen verglich er mit dem Geschmack von Kaliumpermanganat
(,Jones 1984, Bd. 2, S. 35). Er freute sich, wenn er "göttlich untergebracht
und gefüttert " wurde (Freud 1986, S. 465) und schien überhaupt
die Fähigkeit zu besitzen, den hedonistischen Aspekt seiner Reisen
durch gastronomische Freuden auszubauen.
Anmerkungen
14 Hier eine Auswahl weiterer Hotels,
in
denen Freud auf seinen Reisen übernachtete: "Stadt Freiberg" in Leipzig
1883; Casa Kirsch in Venedig 1895 und 1897; "Belle Arti" in Orvieto 1897
und 1902; "Hotel du Lac" in Riva 1900; "Milano" in Rom 1901 und 1907; "Rosetta"
in Rom 1902; "Cocumella" in Sorrent 1902; "Buon Pastore" in Triest 1904;
"Athena" in Athen 1904; "Alpino" in Stresa 1905; "Europa" in Innsbruck
1905; "Hotel du Lac" in Lavarone 1906; "Wolkenstein" in St. Christina 1907;
"Bristol" in Salzburg 1908 und 1916; "Ford's Hotel" in London 1908; "Manhattan"
in New York 1909; "Hotel du Louvre" in Paris 1910; "Grand Hotel" in Florenz
1910; "Hotel de France" in Palermo 1910; "Post" in Klobenstein 1911; "Seehof"
in San Cristoforo 1912; "Erzherzog Heinrich" in Bozen 1912; "Latemar" in
Karersee 1912; "Paulez" in den Haag 1920.
15 Im Februar 1897 schreibt Freud
an Fließ: "Ich habe z.B. eine Woche von fl 700 hinter mir, das bekommt
man nicht umsonst. Reichwerden muß sehr schwer sein." (Freud 1986,
S. 244).
16 Freud schreibt in diesem Zusammenhang
später an Ferenczi: "Denken Sie, wir seien wieder in Palermo und ich
würde Ihnen am Morgen im Hotel de France folgenden Beitrag zu den
Paranoianotizen geben: Ich habe jetzt nämlich einen Irrtum überwunden,
der mich damals aufgehalten hat..." (Jones 1984, Bd. 2, S. 525). (Es folgt
die Begründung der Idee, daß der Mechanismus des Durchbruchs
unabhängig von dem der Verdrängung ist).