3. Westeuropa und USA
Freuds erste Auslandsreise fiel ins Jahr 1875 und führte ihn nach Manchester zu seinen Halbbrüdern Philipp und Emanuel. In der "Traumdeutung erinnert sich Freud' noch an folgende Szene seines ersten Aufenthalts auf der Insel: "Ich war neunzehnjährig zum erstenmal in England und einen Tag lang am Strande der Irish Sea. Ich schwelgte natürlich im Fang der von der Flut zurückgelassenen Seetiere und beschäftigte mich gerade mit einem Seestern .., als ein reizendes kleines Mädchen zu mir trat und mich fragte: Is it a starfish? Is it alive?" (Freud 1900, S. 497), Diese Schilderung klingt fast wie der Beginn eines Märchens. Tatsächlich hatte England für Freud etwas märchenhaftes an sich. Seit diesem ersten Aufenthalt fühlte er sich von der Persönlichkeit Cromwells so stark angezogen, daß er seinem zweiten Sohn den Vornamen Oliver gab. Und als er im Sommer 1938 aus Wien emigrieren mußte und in England eintraf, fühlte er sich wie Wilhelm der Eroberer (vgl. Jones 1984, Bd. 3, S. 270).
Zwischen seinem ersten Englandbesuch im Jahre 1875 und der Emigration
lagen 63 Jahre. In dieser Zeit war Freud nur 1908 für 14 Tage im Vereinigten
Königreich gewesen.25 Jones schreibt
über diesen Besuch: "Er und Emanuel reisten zuerst nach Blackpool
and Southport und verbrachten vier Tage in St. Anne's, einem kleinen Seebad
an
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der Küste von Lancashire. Sie hatten beabsichtigt, die Isle of Man zu besuchen, aber das Wetter war zu ungünstig dazu. Am 7. September fuhren sie nach Manchester zurück, so daß Freud noch seinen Halbbruder Philipp sehen konnte, und am selben Abend fuhr er allein nach London zurück. In London stieg Freud im "Ford's Hotel", Manchester Street, ab. Er fand London einfach herrlich, und er war des Lobes voll über die Leute und über alles, was er zu sehen bekam; sogar die Architektur der Oxford Street fand seine Billigung (!). Er kaufte sich eine englische Pfeife, und die Zigarren waren wunderbar. Er gab eine lange Beschreibung des Hyde Park mit der Genauigkeit und Ausführlichkeit eines Baedeker; was ihm am meisten auffiel, war die 'märchenhafte Schönheit' der Kinder. Natürlich wurde die City besichtigt, aber was ihm am meisten bedeutete, war die Altertumssammlung des Britischen Museums. Er ging nicht ins Theater, weil er die Abende lesend zur Vorbereitung auf die Museumsbesuche des nächsten Tages benutzte." (Jones 1984, Bd. 2, S. 71f.)
Die zwei Besuche 1875 und 1908 waren für Freud nicht ausreichend,
das Land gründlich kennenzulernen. Und trotz seiner Sympathien für
England zog er es vor, im Sommer in den Süden zu fahren. Natürlich
war es auch weniger aufwendig, Italien zu besuchen, als von Wien bis an
die Kanalküste zu reisen und dann mit der Fähre überzusetzen.
Trotzdem schien Freud sich nach seiner Übersiedlung nach London unter
den Engländern wohlgefühlt zu haben. An seinen Bruder Alexander
schrieb er nämlich im Juni 1938: "Dieses England ... ist trotz allem,
was hier fremd, sonderbar und beschwerlich ist ... ein gesegnetes,
ein glückliches Land, von wohlwollenden gastfreundlichen Menschen
bewohnt, das ist wenigstens der Eindruck der ersten Wochen." (Freud 1960,
S. 440).
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Am
häufigsten war Freud jedoch in Deutschland. Allein siebenmal fuhr
er in den achtziger Jahren nach Wandsbek bei Hamburg, um seine Verlobte
Martha zu besuchen, und vierzig Jahre später mußte er mindestens
viermal nach Berlin, um seine Kieferprothese durch Professor Schroeder
korrigieren zu lassen. Seinen Urlaub hat Freud in Deutschland meistens
in Berchtesgaden verbracht; nur 1919 war er für knapp einen Monat
am Badersee bei Garmisch-Partenkirchen. Die einzige Rundreise in Deutschland
machte Freud mit dem "Komitee" (Karl Abraham, Hanns Sachs, Otto Rank, Max
Eitingon, Ernest Jones, Sándor Ferenczi) im September 1921 durch
den Harz. Zwei der Teilnehmer, Hanns Sachs und Ernest Jones berichten davon.
Sachs schreibt: "Bevor wir unsere kleine Wanderung antraten, hielten wir
uns etwa zwei Tage in Hildesheim auf. Diese kleine Stadt besitzt zwei berühmte
Kirchen, eine gotische, eine romanische, und eine Anzahl reich verzierte
Wohnbauten aus der deutschen Renaissance (Abb. 30: Knochenhauer-Amtshaus
in Hildesheim). Ein kleines, aber hervorragend interessantes ägyptische;
Museum bedeutete für Freud eine Anziehung mehr. Ein Bürger von
Hildesheim namens Pelizäus hatte diese Schätze in Ägypten
gesammelt
und sie seiner Vaterstadt vermacht. Die zwei Räume des Museums
enthielten einige seltene Stücke, wie man sie anderswo kaum zu sehen
bekam.
Freuds lebhaftes Interesse war geweckt. Ich habe die einzelnen fachlichen
Fragen vergessen, über die er mit dem Kustoden sprach. Aber ich erinnere
mich, daß der junge Ägyptologe auf einige Stücke wies,
die von den ältester ägyptischen Begräbnisstätten zeigten.
Die Leichen, so er zählte er uns, wurden in hockender Stellung beigesetzt
ganz ähnlich der des Embryo im Mutterleib; doch diese Ähnlichkeit
könne nur zufällig sein, da die Ägypter in die
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ser Frühzeit kaum genug medizinische Kenntnisse besaßen, um mit der Lage des Kindes vor der Geburt bekannt zu sein. Freud erinnerte ihn daran, daß viel primitivere Stämme diese Kenntnis durch Tiere gewonnen hatten. Die Ägypter, die von Anfang an die Neigung hatten, tote Körper auszuweiden, konnten zu dieser Entdeckung nicht lange gebraucht haben. Nur im Vorübergehen berührte Freud die psychoanalytische Seite: die symbolische Gleichung von Erde und Mutter, von Tod und Wiedergeburt." (Sachs 1982, S. 147f.).
Für Ernest Jones waren offenbar andere Aspekte dieser Reise wichtig: "Zuerst waren wir in Hildesheim und dann in der reizenden alten Stadt Goslar. Von dort aus bestiegen wir den Brocken ... Dann erinnere ich mich noch, wie wir hoch auf einem Turm auf einer Plattform standen, die vor einem Eisengitter in Hüfthöhe umgeben war. Freud hieß uns, mit den Händen auf dem Rücken im richtigen Abstand vorwärts gegen das Gitter zu lehnen und uns dann plötzlich vorzustellen, daß es nicht da sei ein ganz guter Test gegen Höhenangst. Wir bestanden den Test alle ganz gut, und ich fragte Freud natürlich, ob er selbst an dieser Angst gelitten habe. Als junger Mann, erwiderte er, sei das tatsächlich der Fall gewesen, aber er habe sie durch Willenskraft überwunden. Ich bemerkte, das sei nicht eine sehr analytische Methode der Behandlung; aber dies war natürlich lange vor den Tagen der Psychoanalyse gewesen Wir unternahmen täglich Wanderungen und waren alle beeindruckt von Freuds Schnelligkeit und Unermüdlichkeit." (Jones 1984, Bd. 3, S. 103).
Von Freud selbst gibt es wenig Beschreibungen von seinen Aufenthalten
in Deutschland. Am interessantester wohl ist sein Bericht an Martha von
einem Besuch Dresdens im Dezember 1883: "In der Ruhe des heutigen Tages
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kann ich Dir endlich von Dresden weiter schreiben, gerade das Angenehmste
von den dortigen Eindrücken steht ja noch aus. Neben dem Schloß
entdeckten wir26 eine herrliche Domkirche,
dann ein Theater und endlich ein weitläufiges Gebäude, viereckig
mit großem Hof und Türmchen an den Ecken im Stil unseres Belvederes,
von dem Philipp ernsthaft behauptete, das sei das Schloß, weil es
so schön war. Es war aber der sogenannte Zwinger, der alle Museen
und Schätze Dresdens birgt. Wir fanden endlich die Bildergalerie und
brachten etwa eine Stunde darin zu, die alten Knaben mehr um auszuruhen,
ich um ein paar flüchtige Eindrücke von den berühmten Kunstwerken
nach Haus zu bringen. Ich glaube, ich habe dort einen bleibenden Gewinn
gemacht, bisher war ich immer der Meinung, es sei eine Art Übereinkunft
unter den Leuten, die nicht viel zu tun haben, für Bilder, die von
berühmten Meistern gemalt sind, zu schwärmen. Hier streifte ich
meine Barbarei ab und begann selbst zu bewundern. Es sind herrliche Dinge
zum Teil kannte ich sie aus Photographien und dort, . g Nachbildungen
und konnte zum Beispiel den beiden Engländern das Bild von van Dyck
zeigen, auf der er die Kinder des unglücklichen Karl I., die späteren
Karl II., Jakob II. und ein feistes junges Prinzeßchen reizend porträtiert
hat. Dann sah ich Veronese mit den schönsten Köpfen und Leibern,
Madonnen, Märtyrer, et cetera, konnte kaum einen Blick auf jedes werfen.
In einem kleinen Seitengemach entdeckte ich was nach der Art der Aufstellung
eine Perle sein mußte. Ich sah zu, es war die Madonna von Holbein.27
Kennst Du das Bild? Vor der Madonna knien rechts mehrere häßliche
Frauen und ein anmutloses kleines Fräulein, links ein Mann, mit einem
Mönchsgesicht, der einen Knaben hält. Die Madonna hält einen
Knaben im Arm und schaut so heilig herunter auf die Betenden. Ich
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ärgerte mich über die gewöhnlichen häßlichen
Menschengesichter, erfuhr später, daß es Porträts der Familie
des Bürgermeisters von X wären, der das Bild für sich bestellt.
Auch das kranke, mißratene Kind, das die Madonna im Arm hält,
soll gar nicht das Christuskind sein, sondern der arme Bürgermeisterssohn,
dem aus diesem Bilde Heilung erwachsen sollte. Die Madonna selbst ist nicht
gerade schön, die Augen sind vorquellend, die Nase lang und dünn,
aber die rechte Himmelskönigin, wie sie das gläubige deutsche
Gemüt geträumt hat. Ich fing an, von dieser Madonna etwas zu
verstehen. Nun wußte ich, daß auch eine Raphaelsche Madonna
da sei und fand sie endlich in einem ähnlichen kapellenartigen Raum
und viele Leute in stiller Andacht vor ihr. Du kennst sie gewiß,
die Sixtina. Mein Gedanke, als ich da saß war, oh, wenn Du mit mir
wärest. Von Gewölk umgeben, das aus lauter Engelsköpfchen
besteht, steht die Madonna da, mit einem feurig blickenden Kind auf dem
Arm sitzend, der heilige Sixtus (oder ist es der Papst Sixtus) schaut auf
einer Seite herauf die heilige Barbara auf der anderen herab zu den zwei
kleinen herrlichen Engeln, die ganz unten am Rand des Bilde stecken. Ein
Schönheitszauber geht von dem Bild aus, den man sich nicht entziehen
kann, doch hatte ich gegen die Madonna selbst einen gewichtigen Einwand
vorzubringen Die Holbeinsche ist weder Weib noch Mädchen, die Erhabenheit
und heilige Demut läßt keine Frage nach ihrer näheren Bestimmung
aufkommen. Die Raphaelsche aber ist ein Mädchen, man möchte ihr
sechzehn Jahre geben, schaut so frisch und unschuldig in die Welt hinein,
halb gegen seinen Willen drängte sich mir auf, sie sei ein reizendes,
Sympathie erweckendes Kindermädchen, nicht aus der Himmelswelt, sondern
aus der unsrigen. In Wien wurde diese Meinung als Ketzerei zurückgewiesen
und ein
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großer Zug um die Augen an ihr gerühmt, der sie zur Madonna mache, er ist mir bei der kurzen Betrachtung entgangen. Ganz gefesselt wurde ich erst von einem anderen Bilde, dem "Zinsgroschen" von Tizian, das ich doch schon kannte, ohne sonderlich darauf geachtet zu haben. Dieser Christuskopf, mein Liebchen, ist der einzig wahrscheinliche, unter dem auch wir uns eine solche Person vorstellen können. Ja mir schien, als müßte ich jetzt glauben, diese Person sei wirklich so bedeutend gewesen, weil ihre Darstellung so gelungen ist. Und nichts Göttliches daran, ein edles Menschenantlitz, von Schönheit weit entfernt, Ernst, Innigkeit, Gedankentiefe, überlegene Milde, tief sitzende Leidenschaftlichkeit; wenn das nicht in diesem Bilde liegt, gibt es keine Physiognomik. Ich hätte es gerne mitgenommen, aber es waren zu viele Leute da, Engländerinnen, die kopierten, die saßen und leise sprachen, Engländerinnen, die gingen und schauten. Ich ging also mit einem weiten Herzen weg." (Freud 1960, S. 79ff.).
Dieser Brief beweist, daß Freud tatsächlich eine hervorragende Beobachtungsgabe besaß und außerordentlich schnell aufnahm. In nur einer Stunde (!) durchläuft er die Dresdner Gemäldegalerie und gibt hinterher von vier Bildern eine detaillierte Beschreibung! Auf diesem Hintergrund ist es durchaus glaubhaft, daß er in zwei Wochen 20 Städte bereist, ihre Museen besucht und seine Eindrücke trotzdem nicht oberflächlich sind.
Zwei Jahre nach seinem Besuch in Dresden geht Freud zum ersten Mal für
längere Zeit ins Ausland. Für das Jahr 1885/86 genehmigte ihm
die Wiener Universität ein Reisestipendium. Freud benutzte es, um
in Paris, das auch eine zeitlang Ziel seiner Sehnsucht war (Freud 1900,
S. 206) an der Salpetriere bei Jean-Martin Charcot seine neuropathologischen
Studien fortzusetzen. Mit einer Unterbrechung
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um Weihnachten, als er Martha in Wandsbek besuchte, war Freud vom 11.
Oktober 1885 bis 28. Februar 1886 in Paris. Neben seiner Arbeit bei Charcot
nutzte Freud seine Zeit, um Paris und seine Umgebung kennenzulernen. So
fuhr er z.B. nach Versailles, lief den Quai d'Orsay, die Champs Elysées
und die Rue de Richelieu ab und bestieg die Türme von Notre-Dame,
sein "Lieblingsaufenthalt in Paris (Freud 1900, S. 452). Besonders häufig
ging er ins Theater und die Oper. Dabei sah er u.a. folgende Stücke:
"Die erzwungene Heirat", "Die lächerlichen Preziösen" und "Tartuffe"
von Moliére; "Theodora" von Victorien Sardou (mit Sarah Bernhardt);
"Figaros Hochzeit" von Beaumarchais. Er lernte viele interessante Persönlichkeiten
kennen, darunter Alphonse Daudet und Gilles de la Tourette. Über seine
Erfahrungen mit Paris schrieb Freud an Martha: "Ich habe den vollen Eindruck
von Paris und könnte sehr poetisch werden, es mit einer riesigen geputzten
Sphinx, welche alle Fremden frißt, die ihre Rätsel nicht lösen
können, vergleichen und noch anderes mehr. Aber das verspare ich mir
für mündliche Ergießungen auf. Nur soviel, die Stadt und
die Menschen sind mir unheimlich, die Leute scheinen mir von ganz anderer
Art als wir, ich glaube sie alle von tausend Dämonen besessen und
höre, wie sie anstatt 'Monsieur' und 'Voila l'Echo de Paris' schreien
'A la lanterne' und 'A bas dieser und jener'. Ich glaube, sie haben weder
Scham noch Grauen, sie drängen sich ebenso Frauen und Männer
um alle Nuditäten wie um die Leichen in der Morgue und die gräßlichen
Anschlagzettel in den Straßen, welche einen neuen Roman in dem oder
jenem Journal ankündigen und gleichzeitig eine Probe von seinem Inhalt
geben. Es ist das Volk der psychischen Epidemien, der historischen Massenkonvulsionen
und hat sich seit Victor Hugos Notre-Dame nicht verändert." (Freud
1906, S. 182).
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Freud kam nach 1886 noch dreimal nach Paris, jedesmal allerdings nur
für kurze Zeit: Im Sommer 1889 anläßlich des Internationalen
Kongresses für Hypnotismus; Anfang September 1910 auf der Fahrt von
Holland nach Sizilien und im Juni 1938 nach der Emigration aus Wien auf
der Reise ins Exil nach London. Als Freud im Oktober 1885 von Wandsbek
nach Paris fuhr, machte er in Brüssel Station. Es war dies sein einziger
Aufenthalt in Belgien. Jones zitiert einen Brief Freuds mit seinen Eindrücken
von der belgischen Hauptstadt: "Brüssel war wunderschön, riesige
Stadt, herrliche Bauten, die Straßenaufschriften franz. u. vlämisch.
Die Leute sind nach ihren Namen alle vlämisch u. meistens versteht
man ein bißchen deutsch. Ich war im Hotel für 3 frs. glänzend
versorgt, bin früh aufgestanden u. in 3 '/2 Stunden ohne Führer
die groben Sehenswürdigkeiten der Stadt entdeckt. Die überreiche
Börse u. das Stadthaus zuerst, gegen das letztere kann das Wiener
zusperren; man merkt, daß die Stadt eine Geschichte hat, die Wien
fehlt; lauter Statuen, die wirklich im Alter(?tum) gestanden haben auf
den Häusern ringsum Inschriften u. Sinnbilder. Ich durchschritt die
ganze Stadt, indem ich vom Boulevard du Nord auf den du Sud überging
u. überall abbog, wo sich etwas Schönes zeigte. Die rechten Entdeckungen
machte ich erst, als ich auf einen steilen Hügel kam, wo sich ein
Gebäude zeigte, von einer Massenentwicklung u. Säulenpracht,
wie man sich einen reconstruirten assyrischen Königspalast vorstellt
oder wie man sie in Doré's Illustrationen findet. Ich hielt es wirklich
für den königl. Palast, besonders weil es von einer kronenartigen
Kuppel überragt war, aber keine Wache, kein Leben, offenbar noch unfertig
u. über dem Portal ein Löwe, der die X Gebote hielt. Es war der
Justizpalast u. von dem Abhang des Hügels hatte man die schönste
Aussicht auf den
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tief gelegenen Stadtteil. Oben weitergehend, kam ich bald in die Rue Royale u. nun folgte ein Fund den anderen, das Denkmal von Egmont u. Horn war das schönste. Einer ganz alten Kirche gegenüber ist ein eiförmiger, gegen das breite Ende aufsteigender Platz von einem Eisengitter umgeben, das die herrlichsten Eisenblumen u. dazwischen Säulen mit Darstellungen aller Stände trägt. In der Mitte Anlagen, ein kleiner Teich u. nahe dem breiten Ende stehen die beiden Helden, der eine den Arm um den anderen geschlungen u. auf einen Fleck mit dem Finger deutend. Ich glaube, sie wurden auf diesem Platz enthauptet. Ein Stück weiter begegnete mir ein Mann in Kreuzfahrerkleidung hoch zu Roß, eine Fahne schwingend, u. als ich näher zusah, war es Gottfried von Bouillon, der erste König von Jerusalem nach dem 1. Kreuzzug. Über so gute Gesellschaft hocherfreut, war ich doch sehr hungrig geworden. Ich nahm im nächsten Café es war eines der feinsten ein Déjeuner, bekam eine Flut von Café und Milch, drei Stücke Roastbeef kalt, drei Rollen Butter u. drei Wecken, zahlte dafür 2 fr, es blieb aber meine Hauptmahlzeit bis nach Paris. Nachher entdeckte ich noch die Kongreßsäule u. eine Menge von Palästen, in denen ich in allen zuerst das königl. Schloß vermutete. Eine Ankündigung, ein Landhaus in Waterloo sei zu vermieten, berührte mich etwas eigentümlich." (Jones 1984, Bd. 1, S. 218f.).
In einem anderen Beneluxland, in Holland war Freud mehrmals. Das erste
Mal im Jahre 1908 auf dem Weg nach England. Freud schreibt über diese
Reise: "Ich hatte meinem gestrengen ältesten Bruder zugesagt, ihm
in diesem Sommer den längst fälligen Besuch in einem englischen
Seebad abzustatten, und dabei die Verpflichtung übernommen, da die
Zeit drängte, auf dem kürzesten Weg ohne Aufenthalt zu reisen.
Ich bat um einen Tag Aufschub
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für Holland, aber er meinte, das könnte ich für die Rückfahrt aufsparen. Ich fuhr also von München über Köln nach Rotterdam-Hoek van Holland, von wo das Schiff um Mitternacht nach Harwich übersetzt. In Köln hatte ich Wagenwechsel; ich verließ meinen Zug, um in den Eilzug nach Rotterdam umzusteigen, aber der war nicht zu entdecken. Ich fragte verschiedene Bahnbedienstete, wurde von einem Bahnsteig auf den anderen geschickt, geriet in eine übertriebene Verzweiflung und konnte mir bald berechnen, daß ich während dieses erfolglosen Suchens den Anschluß versäumt haben dürfte. Nachdem mir dies bestätigt worden war, überlegte ich, ob ich in Köln übernachten sollte . . Ich entschloß mich aber anders, fuhr mit einem späteren Zug nach Rotterdam, wo ich in tiefer Nachtzeit ankam, und war nun genötigt, einen Tag in Holland zuzubringen. Dieser Tag brachte mir die Erfüllung eines längst gehegten Wunsches; ich konnte die herrlichen Rembrandtbilder im Haag und im Reichsmuseum zu Amsterdam sehen." (Freud 1901, S. 192f.)
Freud erkannte dann, daß die vergebliche Suche nach dem Eilzug nach Rotterdam auf dem Kölner Bahnhof eine Fehlleistung war, die das Ziel hatte, entgegen dem Wunsch seines Bruders doch auf der Hinfahrt einen Tag in Holland zu verbringen und sich endlich die Rembrandtbilder anzusehen.
Die zweite Hollandreise fiel in das Jahr 1910. Freud verbrachte mit seiner Familie die Sommerferien in Noordwijk. Bei dieser Gelegenheit besuchte er u.a. Haarlem, Den Haag, Amsterdam, Leiden, Utrecht und Delft. Von Noordwijk aus startete er mit Ferenczi dann zur großen Sizilienreise.
Der dritte und letzte Aufenthalt Freuds in Holland war verbunden mit
der Teilnahme am 6. Internationalen Psy-
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choanalytischen Kongreß in Den Haag vom 8. bis 11. September 1920. Freud benutzte diese Gelegenheit, eine Rundreise durch Holland zu machen. Dabei begleiteten ihn van Emden und van Ophuijsen. Sie zeigten ihm per Schiff Zeeland, aber auch mit Pferdewagen, Paddelboot und zu Fuß erschlossen Freud und seine Begleiter das kleine Land.
In der Schweiz war Freud fünf Mal. Zweimal bei Jung zu Besuch (1908 und 1911), einmal bei Ludwig Binswanger (1912) und zweimal zu kurzen Urlaubsabstechern. Der erste kurze Schweizaufenthalt Freuds (gemeinsam mit Minna) fiel in den August 1898. Freud schreibt darüber: "Es war wirklich herrlich, das aus wenigen Elementen in einfachen Linien zusammengesetzte Engadin, eine Art Nachrenaissance an Landschaft, und Maloja mit Italien dahinter und einem vielleicht nur von der Erwartung eingetragenen italischen Charakter. Leprese war für uns ein Zauberidyll auch durch die Aufnahme, die wir dort fanden, und durch den Kontrast, den der Weg von Tirano hinauf mit sich brachte. Wir mußten diesen, der nicht gerade eben ist, im entsetzlichen Staubsturm machen und kamen halbtot oben an. Die Luft machte mich heiter und streitsüchtig erregt, wie ich es selten gewesen bin. An der Güte meines Schlafes haben die 1600 m mehr nichts geändert.
Bis zum letzten Tag in Maloja hat uns die Sonne nicht geniert. Dann
wurde es aber heiß, selbst für oben, und es fehlte uns der Mut,
nach Chiavenna, d.h. an die Seen herabzugehen. " (Freud 1986, S. 352).
Von Le Prese am Lago die Poschavio gingen Freud und Martha über den
Berninapaß ins Engadin. Über Pontresina wanderten sie nach Maloja,
einem Ort, dem Freud "unvergleichliche Schönheit nachsagte (Jones
1984, Bd. l, S. 390). Sieben Jahre später
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(1905), während einer Oberitalienreise mit Minna, machte Freud einen Abstecher nach Lugano. Bei seinem ersten Besuch in Küsnacht bei Jung im Jahre 1906 zeigte ihm dieser Pilatus und Rigi, und Pfingsten 1912 hatte er Gelegenheit, mit Binswanger eine lange Autofahrt am Bodensee entlang zu machen.
Zum Schluß muß noch Freuds Amerikareise erwähnt werden.
Freud war Ende 1908 von G. S. Hall an die Clark-University in Worcester
zu Vorträgen eingeladen worden. Nach einigem hin und her nahm Freud
schließlich die Einladung an und fuhr mit dem Dampfer "George Washington"
des Norddeutschen Lloyd in der zweiten Augusthälfte von Bremen über
Southampton nach New York. Mit ihm reisten C. G. Jung und Sándor
Ferenczi. Freud schien sich auf die Reise in die. Neue Welt gefreut zu
haben, jedenfalls auf die Dinge, die er dort sehen wollte. Besonders die
Niagarafälle wollte er unbedingt besuchen. Ich glaube nicht, daß
Freuds "anti-American sentiments" (Gay 1988, S. 562) schon vor seiner Reise
bestanden. Peter Gay versucht diese These u.a. mit einer Briefstelle Freuds
aus dem Jahre 1902 zu belegen, in der Freud aus Anlaß seiner Ernennung
zum außerordentlichen Professor schreibt: "Ich habe gelernt, daß
die alte Welt von der Autorität regiert wird wie die neue vom Dollar.
Ich habe meine erste Verbeugung vor der Autorität gemacht, darf also
hoffen, belohnt zu werden." (Freud 1986, S. 503). Das mag zynisch sein,
wie Gay schreibt, doch Anti-Amerikanismus daraus abzuleiten, scheint mir
etwas überinterpretiert. Alle anderen, nicht gerade amerikafreundlichen
Äußerungen Freuds, die Gay zitiert, stammen aus der Zeit nach
der Reise in die USA. Gay schreibt, daß Freuds Anti-Amerikanismus
durch die Vortragsreisen seiner Schüler (speziell Rank und Ferenczi)
verstärkt wurde. Er fürchtete,
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daß Amerika seine Schüler zu gewaltigen Fehlern verleiten würde. Sicher hat sich bei Freud eine solche Einstellung während seiner USA-Reise und dank seiner Eindrücke von amerikanischen Kollegen herausgebildet. Doch ich denke, daß es neben dieser Furcht vor Verwässerung der Psychoanalyse noch einen anderen Grund gab, der Freud gegen Amerika eingenommen hat: Freuds Reisen bis zum Sommer 1909 waren alles Reisen in die Vergangenheit, nicht nur die nach Griechenland und Italien. Auch Deutschland, Frankreich, Holland, Belgien, die Schweiz und besonders England sind Länder, die in einer Tradition leben und auf ihre Geschichte stolz sind.
Doch in New York angekommen, begegnete Freud einer neuen Welt, die nur in die Zukunft und nach oben (Abb. 31: Flatiron Building, einer der ersten Wolkenkratzer New Yorks, errichtet 1901/02) orientiert ist. Die Geschichte, der er begegnet ist nicht die Geschichte Amerikas, sondern die Europas. Folglich ist der Ort, der Freud in New York am meisten interessierte das Metropolitan-Museum mit seinen griechischen Antiquitäten! (Jones 1984, Bd. 2, S. 76). Freud hat wohl befürchtet, daß ein Land, das noch kaum ein Verhältnis zur eigenen Geschichte hat, zur Psychoanalyse mit ihrer historischen Methode auch nur schwer einen richtigen Zugang findet. Zu dieser Einstellung mag auch Jacob Burckhardt mit beigetragen haben, der geschrieben hatte: "Wir werden das Altertum nie los, solange wir nicht wieder Barbaren werden. Der Barbar und der neuamerikanische Bildungsmensch leben geschichtslos." (Burckhardt 1985, S. 255). Tatsache ist, daß von allen Reisen, die Freud je unternahm, die nach Amerika mit den meisten negativen Erlebnissen und Erinnerungen besetzt war.28 Trotzdem sei ihr Ablauf hier kurz nachgezeichnet.
Freud traf am 27. August 1909 in New York ein. Ex übernachtete
im Hotel "Manhattan" und wurde von Ab-
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raham Brill bei seiner New York-Besichtigung begleitet. Brill wohnte
damals in Central Park West und Freud hielt diese Gegend für die schönste
in New York. Zuerst gingen Brill und Freud durch den Central Park; später
fuhren sie nach China Town und Coney Island. Am nächsten Tag besuchte
Freud das Metropolitan Museum und die Columbia-University. Am 4. September
ging es über New Haven und Boston nach Worcester, wo Freud fünf
Vorlesungen über Psychoanalyse hielt (Freud 1910). Am 13. September
fuhr Freud zu den Niagarafällen, machte eine Fahrt mit der "Maids
of the Mist" und betrat auch für einige Minuten kanadischen Boden.
Anschließend ging es für vier Tage nach Lake Placid zu James
Putnams29 Campingplatz. Am 19. September
war Freud wieder in New York und am 21. verließ er auf dem "Kaiser
Wilhelm der Große" den Hafen von Manhattan. Am 29. August betrat
Freud in Bremen wieder europäischen Boden.
Anmerkung
25 Wenn man von dem kurzen Aufenthalt
in Southampton 1909 auf der Überfahrt nach Amerika absieht.
26 D.h. Freud und seine Halbbrüder
Philipp und Emanuel, mit denen er sich in Dresden getroffen hatte.
27 Es handelt sich um das gleiche
Bild, das G. Th. Fechner 12 Jahre zuvor zur Erprobung seiner "Experimentellen
Ästhetik" verwendet hatte (Fechner 1872). Freud hat das sicher damals
nicht gewußt, doch später hat er sich "in wichtigen Punkten
an diesen Denker angelehnt." (Freud 1925a, S. 87).
28 So führte Freud eine Darmstörung
auf die amerikanische Küche zurück und behauptete sogar, seit
seinem Besuch in Amerika, sei seine Handschrift verdorben (Jones 1984,
Bd. 2, S. 80).
29 Putnam war Professor für Neurologie
in Harvard und Freud lud ihn später zum Eröffnungsvortrag des
III. Internationalen Psychoanalytischen Kongresses in Weimar ein.